{G-352.} Die Unterkleidung

Die Unterkleidung wurde in erster Linie aus Leinwand gefertigt. Später wählte man für die Unterwäsche zu festlichen Gelegenheiten anstelle von Leinwand ein feineres, weißeres Linnen (ungarisch gyolcs genannt). Überhaupt waren die meisten Kleidungsstücke aus Leinwand, zumal vor nicht allzu langer Zeit auch noch ein großer Teil der Überkleider der Frauen aus Leinwand genäht wurde. Deshalb nennt man die Frauen noch heute im ganzen Land fehércseléd, vászoncseléd oder fehérnép (wörtlich: weiße Magd, Leinendirn, Weißvolk), was den deutschen Ausdrücken Frauenzimmer, Weibsbild oder Weibervolk gleichkommt. In der Vergangenheit dienten die aus Hanf- oder Flachsleinen gefertigten Kleidungsstücke im Sommer als Oberkleidung und im Winter, wenn man sich noch etwas darüber zog, als Unterkleid.

Abb. 162. Hemd der Palotzenfrauen mit angesetztem Achselärmel und Schnittmuster.

Abb. 162. Hemd der Palotzenfrauen mit angesetztem Achselärmel und Schnittmuster.
Lóc, Kom. Nógrád, Anfang 20. Jahrhundert

Das wichtigste Stück der Unterwäsche ist das Hemd (ing), von dem es zwei Arten, ein langes und ein kurzes Hemd, gibt. Bei beiden kommen die Formen mit gerade angesetztem Achselärmel und mit rundgeschnittenem, eingesetztem Ärmel vor. Das kurze Hemd der Frau, das auf Renaissancetraditionen zurückgeht, reicht gerade so weit über die Taille, daß es vom Rockbund um den Körper zusammengehalten wird. Das lange Hemd bedeckt den Körper bis zur Hälfte des Unterschenkels. Bei den Hemden mit angesetztem Achselärmel reichen die Ärmel bis zum Hals, so daß sie vorne an der Achsel gerafft werden konnten. Diese Form war im vorigen Jahrhundert noch am meisten verbreitet, doch allmählich wurde sie vom Hemd mit eingesetzten Ärmeln verdrängt, die einfach eingenäht wurden. Die Hemden waren gleichzeitig Unter- und Oberkleidung. In einzelnen Gegenden wie Kalotaszeg, Torockó und Sárköz trugen besonders die Jugendlichen Hemden, die vorn, an den Manschetten und an den Schultern reich bestickt waren.

Abb. 163. Frauenhemd mit eingesetztem Ärmel, der eine ist offen, der andere gezogen.

Abb. 163. Frauenhemd mit eingesetztem Ärmel, der eine ist offen, der andere gezogen.
Palotzengebiet, Anfang 20. Jahrhundert

Zu den kurzen Hemden trugen die Frauen einen Wickel (pendely), der den Unterkörper wie ein Rock umschloß; oft war er an das Hemd angenäht, so daß daraus das verlängerte Hemd entstand. Wenn dieser Ansatz als Unterkleid angesehen wurde, dann war es unschicklich, wenn er unter dem Rock hervorguckte; wenn er aber als Oberkleid fungierte, dann übernahm er die Rolle des Rockes und wurde sorgfältig in Falten gelegt, eventuell sogar durch eingesetzte Stoffstücke in verschiedener Weise verziert.

Abb. 164. „Kälbermaul“-Hemd.

Abb. 164. „Kälbermaul“-Hemd.
Martos, Kom. Komárom, um 1930

Die Männer trugen ebenfalls lange und kurze Hemden. In der Großen Ungarischen Tiefebene reichten die kurzen Hemden der Männer oftmals nicht einmal bis zur Taille. Bei der Hochzeit spielte das Hemd des Bräutigams eine besondere Rolle: Es wurde im Hause der Braut gefertigt und in einem Aufzug zum Bräutigam gebracht, der es am Tage der Hochzeit anzog. Später trug er es nur zu besonderen Anlässen und war bemüht, es möglichst zu schonen, damit man es ihm noch als Totenhemd anziehen konnte. Die ältesten Formen der Hemden waren kragenlos, sie wurden am Hals höchstens mit einer Blende oder einem Bündchen eingefaßt. Das Hemd mit umlegbarem Kragen erschien erst Ende des vorigen Jahrhunderts und wurde vielerorts als Soldatenhemd (katonás ing) bezeichnet, was auf seinen Ursprung hinweist. Als sich das breiter gewebte Feinleinen (gyolcs) {G-353.} durchsetzte, wurde das Hemd in vielen Gegenden außerordentlich weit. Bei diesen Bauernhemden mit den weiten flatternden Ärmeln (borjúszájú = Kälbermaulhemden) wurde der Stoff an den Schultern gerafft. Seit man in neuerer Zeit an den Hemdsärmeln Manschetten bevorzugte, wurde der Stoff an der Manschette zusammengerafft. Manchmal wurde das Männerhemd auf der Brust und an den Manschetten entweder weiß (in Somogy, Nógrád und Tolna) oder farbig (zum Beispiel bei den Matyó oder im Kalotaszeg) bestickt. Der Stoff war immer weiß, nur die Pferdehirten in der Hortobágy trugen dunkelblaue Hemden. Das Männerhemd ist eigentlich ein Unterkleid, das in vielen Fällen aber auch als Oberkleidung diente, vor allem in den Gebieten, wo es bestickt wurde und sich so als schmucke Oberkleidung präsentierte.

Zur Unterbekleidung des Mannes gehörte weiterhin die Gatyahose aus weißer Leinwand, die an den Beinen manchmal ausgefranst, mitunter (in Westungarn) auch bestickt war. So konnte sie ebenso wie der Unterrock der Frau gleichzeitig als Unter- und als Oberkleidung getragen werden. Im vorigen Jahrhundert haben die Männer im Winter vielerorts noch zwei Gatyahosen übereinander getragen. Die eine, die Unterhose, wurde ständig gewechselt, die andere aber tauchten die Bauern in Flugaschenlauge, rieben sie mit Fett oder Speckschwarten ein und trugen sie so lange, bis sie zerschlissen war. Mit der Verbreitung des Feinleinens (gyolcs) kam die weite Gatyahose auf, die die Bauern um so schöner fanden, aus je mehr Bahnen sie zugeschnitten worden war. Sie gehörte zur Festtracht und wurde zum weitärmligen Hemd getragen.