{G-396.} Die dekorative Volkskunst


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Die ungarische Volkskunst umfaßt einerseits die verschiedensten traditionell verzierten Gegenstände und Geräte, andererseits die Volksdichtung, die Volksmusik und den Volkstanz. Diese zusammenfassende Bezeichnung hat sich aber nur in der Ethnographie und auch dort erst in jüngster Zeit durchgesetzt, während man im allgemeinen Sprachgebrauch auch heute noch unter Volkskunst vor allem und hauptsächlich die dekorative Volkskunst (Schnitzerei, Weberei, Stickerei, Keramik usw.) versteht. Wir wollen jedoch hier und in den nachfolgenden Ausführungen den Begriff Volkskunst in seinem weiteren Sinne verwenden und benutzen daher zur Bezeichnung eines seiner wesentlichen und allgemein bekannten Bereiche den Terminus dekorative Volkskunst.

Die traditionelle dekorative Volkskunst schafft meistens keine selbständigen Werke, sondern verziert in verschiedenster Weise irgendwelche allgemeinen Gebrauchsgegenstände. So kann aus dem in reichem Muster gewebten Stoff eine Schürze werden, die Stickerei irgendein Kleidungsstück verschönen; aber der Peitschengriff mit farbiger Einlegearbeit hört nicht auf, ein ständiger Gebrauchsgegenstand des Hirten zu bleiben, und das mehr oder weniger gemusterte Steingutgeschirr dient als Trinkgefäß, als Milchkrug oder als Kochtopf. Ihrem Charakter nach steht die dekorative Volkskunst dem Kunstgewerbe am nächsten, und in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat sie sich ihm immer mehr angenähert, so daß wir die dekorative Volkskunst der neuesten Periode als Volkskunstgewerbe bezeichnen wollen.

Die dekorative Volkskunst ist ein historisches Gebilde, das stets die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umstände widerspiegelt. Ihre Entwicklung ist uns nur aus den letzten zwei Jahrhunderten genauer bekannt, während aus den vorangegangenen Epochen nur einzelne Gegenstände erhalten beziehungsweise in Aufzeichnungen beschrieben sind. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bemühte sich die Bauernschaft, ihre Umgebung durch immer reicher verzierte und farbige Gegenstände zu verschönern. Nach 1848 ermöglichte die Befreiung von der Leibeigenschaft wenigstens einem Teil der Bauern, teurere Materialien zu verwenden und die dekorative Volkskunst dadurch zu einer Blüte zu bringen, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Aus dieser Epoche der Entfaltung und Vervollkommnung stammen die in den Museen aufbewahrten schönsten Werke der dekorativen Volkskunst. In dem Zeitabschnitt zwischen den beiden Weltkriegen wurde die dekorative Volkskunst stark vernachlässigt, in einzelnen Landesteilen hörte sie ganz auf.

Die Untersuchung der dekorativen Volkskunst ist eine außerordentlich vielschichtige und komplizierte Aufgabe. Zunächst müssen die einzelnen Werke oder Werkgruppen unter ästhetischem Gesichtspunkt bewertet werden. Das ist aber keinesfalls ausreichend, denn wir müssen auch den typischen Geschmack und das Schönheitsempfinden {G-397.} der Volkskünstler und ihres Publikums berücksichtigen, die in vielen Fällen von den allgemeinen Normen abweichen. Diese Dinge haben sich in den einzelnen Epochen verändert und verändern sich auch heute, weshalb eine historische Untersuchung erforderlich ist, das heißt, daß jedes Werk auch mit den Augen seiner Zeit gesehen werden muß, und zwar immer auf eine größere gesellschaftliche, geographische und ethnische Einheit bezogen. Die innere Entwicklung und die historischen Einwirkungen müssen gleicherweise in ihrer Vielfalt betrachtet werden, denn nur so können wir den ganzen Verlauf der Entwicklung überblicken. Ebensowenig darf man die gesellschaftlichen Aspekte vernachlässigen, denn die einzelnen Zweige der Volkskunst sind mit Klassen und Schichten verbunden, was natürlich auch in der Art der Darstellung zum Ausdruck kommt. Entscheidend aber ist, was die Ethnographie zu sagen hat, die diese Forschungsaspekte zusammenfaßt und neben der Art und Weise der Herstellung und des Gebrauchs auch das Symbolsystem der Ornamente beleuchtet.

Die dekorative Volkskunst ist eine kollektive Kunst. Ihre Werke werden von einer kleineren oder größeren Gemeinschaft erzeugt, in Gebrauch genommen und bewertet, gleichzeitig jedoch auch durch herausragende Persönlichkeiten ständig weiterentwickelt und gestaltet. Bestimmte dekorative Arbeiten können – sich an Muster und Überlieferung haltend – viele im Dorf ausführen. In einzelnen Gegenden verstand zum Beispiel fast jede Frau etwas vom Weben schöner Leinwand, an anderen Orten waren die Männer durchweg tüchtige Schnitzkünstler. Doch auch bei allgemeinster Praktizierung dekorativer Kunst haben sich stets manche hervorgetan. So sind zum Beispiel in Mezõkövesd einige Frauen als Vorzeichnerinnen berühmt geworden und haben eine richtige Schule um sich geschaffen. In jedem Dorf gab es nur ein bis zwei wirklich gute Schnitzer, unter deren Hand die schönsten Grabhölzer und die prächtigsten monumentalen Tore entstanden. Sonst lebten und arbeiteten sie wie die anderen Bauern, nur stellten sie eben ihre besonderen künstlerischen Fähigkeiten der Gemeinschaft aus Gefälligkeit oder gegen Naturalien zur Verfügung.

In anderen Fällen zeigt sich ein Zweig der Volkskunst mit einer ganzen Bevölkerungsgruppe verbunden. So gingen die besten Schnitzer aus den Reihen der Hirten hervor, die sich in den verschiedenen Gegenden vor allem durch die Verzierung kleinerer Gegenstände auszeichneten. Anderswo wurden ganze Dörfer als Spezialisten eines Zweiges der Volkskunst weithin bekannt. Es gab sogar einen Spruch über Csíkmadaras im Szeklerland:

Töpfer ist hier jedermann,
und der Pfarrer geht voran.

Nicht zu trennen von den dekorativen Volkskünstlern sind die Handwerker, die in erster Linie für die Bauern arbeiteten. Ein Teil von ihnen stellte nur das Material für die verschiedenen Kleidungsstücke her (Leineweber, Gerber usw.), andere wie die Kürschner und die Szûrschneider nähten nicht nur, sondern bestickten und verzierten auch die Pelzmäntel, Pelzjacken (ködmön) und die Szûrmäntel. Einzelne Handwerkerzentren hatten Einfluß auf die Geschmacksbildung ausgedehnter {G-398.} Gebiete. Als ein solches ist Jászberény zu nennen, wo zeitweilig mehr als 300 Kürschner arbeiteten. Die Zentren des Töpferhandwerks waren weithin bekannt; so hat man die Erzeugnisse der gut 400 Töpfer von Hódmezõvásárhely im ganzen Süden der Ungarischen Tiefebene gekauft. Die Müller galten als Meister im Zimmern, die sich ihre Mühlen auch selbst bauten und reparierten. Und so gab es in den ungarischen Dörfern und Marktflecken noch eine ganze Reihe von Handwerkern (Szûrschneider, Kammacher, Stiefelmacher usw.), die ihre verzierten Gebrauchsgegenstände ausschließlich oder zum größten Teil an die Bauern verkauften.

Die Hersteller arbeiteten in vielen Fällen für sich selbst, und wenn nicht, dann standen sie in unmittelbarer Beziehung zum Käufer oder Auftraggeber. Dieser konnte seine Wünsche angeben und die auf dem Markt ausgelegten Gegenstände, die der Hersteller in den meisten Fällen selbst verkaufte, beurteilen. Dadurch lernten Hersteller und Käufer gegenseitig ihre Ansprüche, Wünsche und Möglichkeiten sowie etwaige Neuerungen kennen.

Die Meister der dekorativen Kunst arbeiteten vielfach anonym, und für die Nachwelt blieben sie zumindest so gut wie unbekannt. Einzelne hervorragende Weberinnen oder Stickerinnen behielt man nicht nur in der Familie, sondern im ganzen Dorf in Erinnerung. Andere Werke, die sich weit vom Herstellungsort verbreiteten, tragen den Namen des Ortes ihrer Herkunft weiter: Turer Milchtopf, Berényer Suba, Debrecener Szûr und Csáter Miska-Krug usw. Dahinter steht aber immer der Schöpfer, ein bestimmter Meister, der in seiner unmittelbaren und ferneren Umgebung namentlich bekannt ist, und der Name der Besten lebt in ihren Nachfolgern fort, die sich als ihre Schüler bezeichnen.

Bisher haben wir nur über die verzierten Gegenstände gesprochen, neben denen es aber auch zahlreiche unverzierte gibt, deren Form an sich schön ist, ohne daß irgendein Ornament sie schmückt. Dazu zählen die verschiedenen Teller, die Holzmörser, geflochtene Bastkörbe für Getreide, Brotkörbe, Bienenkörbe sowie aus Weidenruten geflochtene Wagen- und andere Körbe, deren Formen an sich ein ästhetisches Wohlgefühl erwecken ; meistens halten sie sich an alte traditionelle Vorbilder. Die meisten Gebrauchsgegenstände der dekorativen Volkskunst sind aber verziert mit Motiven, die in der Regel irgend etwas darstellen, etwas ausdrücken.

Deshalb sind die spezifischen Schöpfungen der dekorativen Volkskunst mit den großen Wendepunkten und Ereignissen des Lebens verbunden. So bringen zum Beispiel bei der Geburt eines Kindes die Pateneltern für die Mutter ein besonders wohlschmeckendes Mittagessen, das sie in ein eigens zu diesem Zweck gewebtes Tuch einbinden. Auch das Brauttuch ist an bestimmte Formen oder auch an bestimmte Verzierungen gebunden. Die Tücher, die bei der Hochzeitsfeier getragen werden, sind anders verziert als die Tücher für den Kutscher oder für den Priester. Bei den Zusammenkünften der Zünfte trinkt man aus besonderen Weinbechern, die mit Symbolen des Handwerks verziert sind; und auch zur Beerdigung gehören symbolisch verzierte Gegenstände, so das Leichentuch oder die Grabhölzer, aus deren Schnitzereien und Gravierungen zu entnehmen ist, ob in dem Grab ein Mann oder eine Frau {G-399.} ruht; manchmal wird sogar der Beruf des Toten durch ein Symbol angegeben. Diese Symbole werden von einer mehr oder weniger großen Gemeinschaft verstanden und gewürdigt.

Das ganze bäuerliche Leben ist von derartigen Symbolen umgeben. Ihre ausführliche Darlegung und Beschreibung würde ein ganzes Buch füllen. Deshalb wollen wir uns nur auf die Gebiete beschränken, die von der bisherigen Forschung ausreichend geklärt worden sind.

Einzelne Gegenstände haben in ihrer Gesamtheit eine von ihrer festgelegten Funktion scheinbar weit entfernte Bedeutung. So ist zum Beispiel der Pflug nicht nur das wichtigste Ackergerät, sondern seit Jahrhunderten auch das Symbol für den Ackerbauern. Deshalb hatten zahlreiche ungarische Dörfer vom 16. Jahrhundert an Pflugschar und Pflugmesser im Wappen. Wo dagegen mehr der Weinanbau den Lebensunterhalt bot, dort ist das Rebmesser im Wappen zu sehen. Das Bett und die Truhe mit der Brautaussteuer waren Symbole der Ehe, die im Dorf herumgetragen wurden, damit jeder ihre Schönheit und ihren Reichtum sehen konnte; später erhielten sie in der guten Stube einen Ehrenplatz.

Bei den ungarischen Bauern hat sich auch ein ganzes Symbolsystem der verschiedenen Farben herausgebildet Im allgemeinen bezeichnen die helleren, lebhafteren Farben die jüngeren und die dunkleren Farben die älteren Menschen. Das ist besonders in der Volkstracht zu beobachten, wo die Kleider der jungen Mädchen in lebhaften Farben gehalten sind, während die jungen Frauen ein wenig gedämpftere Farben wählen, um dann mit zunehmendem Alter zu braunen und schwarzen Farben überzugehen. Die Bedeutung der Farben ist aber dennoch nicht allgemeingültig. Die rote Farbe gehört normalerweise zu den Jugendlichen, doch oftmals zeigt sie auch den Tod Jugendlicher an, und in vielen Gegenden wird damit sogar das Grab derjenigen gekennzeichnet, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Die Farbe der Trauer ist zumeist schwarz, aber in einzelnen Gebieten trauern ältere Frauen auch noch in weißen Kleidern. Die historischen Wurzeln solcher Sondererscheinungen müssen von Fall zu Fall geklärt werden.

Einzelne Motive der Volkskunst haben in der dekorativen Kunst und in der Volksdichtung oftmals die gleiche Bedeutung. Denken wir an das Vogelmotiv, das in beiden Bereichen der Volkskunst häufig vorkommt. Der einzelne Vogel, der „Täuberich, der seine Taube verloren hat“ ist das Symbol für den unglücklich Verliebten; hält der Vogel einen Brief im Schnabel, so ist er ein guter Freund, der eine Botschaft bringt. Die hausgewebte Leinwand und die Stickereien zur Hochzeit zeigen ein Vogelpaar, denn so wie dieses haben die beiden jungen Leute zueinander gefunden.

Die Symbole sind wichtige Elemente der Volkskultur, sie verändern und entwickeln sich mit ihr. Gerade deshalb sind sie für einzelne Epochen, für eine bestimmte Gegend, eine bestimmte Gesellschaftsschicht oder -gruppe charakteristisch und müssen dementsprechend bewertet werden.

Die Art und Weise der schöpferischen Tätigkeit des dekorativen Volkskünstlers wird in erster Linie vom Instinkt bestimmt, der in den Traditionen wurzelt. Die Frauen zum Beispiel, die eine Hauswand {G-400.} bemalten, teilen die zu bemalende Fläche vor Beginn der Arbeit nicht ein, sondern gestalten die sich aneinander fügenden Elemente beim Malen so, daß schließlich die ganze Fläche ausgefüllt ist. Dabei befolgen sie ganz instinktiv gewisse ästhetische Regeln. Unter anderem bemühen sie sich um Symmetrie und weichen nur in ganz seltenen Fällen von ihr ab. Kennzeichnend für die ungarische dekorative Volkskunst ist die Vorliebe für lebhafte, klare Farben und starke Gegensätze. Rot in allen Schattierungen, Schwarz und Blau werden bevorzugt, seltener beziehungsweise erst in neuerer Zeit kommen Gelb, Grün und Lila vor. Die Farbgebung unterstreicht die Gliederung der Komposition. Kraftfülle, Entschlossenheit, lebhafte Phantasie und eine gewisse Monumentalität auch auf noch so winzigen Gegenständen sind für die ungarische Ornamentik typisch.

In den letzten Jahrzehnten hat eine neue Blütezeit der ungarischen dekorativen Volkskunst begonnen, und oft ist es gelungen, auch Zweige der Volkskunst wieder zu beleben, die schon lange verschwunden waren. Diese dekorative Kunst unterscheidet sich aber in vieler Hinsicht von ihren Vorläufern. Das zeigt sich nicht so sehr im Formengut als vielmehr im Inhalt. Der Volkskünstler von heute arbeitet bewußter. Das äußerte sich anfangs in der Nachahmung älterer Ornamente, geht heute aber bereits weiter, denn die meisten haben das gesammelte und bekannte Formengut weiterentwickelt und mit Symbolen aus dem heutigen Leben ergänzt. Außerdem haben sich die Technik und das Grundmaterial bedeutend verändert, wozu noch die Routine kommt, die bei der Anfertigung größerer Stückzahlen erworben wird. Kontrolle oder Wunschvorstellungen des aufnehmenden Publikums setzen sich heute nicht oder nur stark transformiert durch. Zwischen den Verbraucher (Käufer) und den Künstler treten verschiedene Handelsorgane, und so nimmt der Künstler ein Mißfallen des Publikums nur dann wahr, wenn seine Werke nicht mehr gekauft werden. Die Kontrolle übernehmen die Ethnographen und die Kunstexperten, doch das ersetzt nicht in jedem Fall die unmittelbare Beeinflussung durch die Massen. Auch die Funktion hat sich grundlegend verändert. Bisher wurden zumeist verzierte Gebrauchsgegenstände geschaffen, die zur Verrichtung irgendeiner Arbeit oder zur Aufbewahrung des Arbeitsergebnisses verwendet werden konnten. Heute sieht man darin einen Ziergegenstand, der meist ohne Gebrauchswert städtische Wohnungen verschönt.

Es werden auch Versuche unternommen, verschiedene moderne Gebrauchsgegenstände mit traditionellen oder neuen Motiven der dekorativen Volkskunst zu verzieren. Unter Berücksichtigung all dieser Fakten kann zu Recht festgestellt werden, daß die Bezeichnung Volkskunstgewerbe, die sich gegenwärtig herausgebildet hat, nicht unbegründet ist.

An der Grenze zur dekorativen Volkskunst stehen die Werke, die Elemente der bildenden Kunst und der dekorativen Kunst in sich vereinen. Dazu gehört zum Beispiel die Glasmalerei von Volkskünstlern, die kirchliche Fresken und Tafelbilder von hervorragendem künstlerischem Wert rustikal nachahmen beziehungsweise mit bäuerlichem Inhalt füllen, manchmal sogar in profane Darstellungen umwandeln. {G-401.} Einzelne hervorragende Bauerntalente versuchen, die sie umgebende Welt zu malen oder zu zeichnen. Das gehört bereits in den Bereich der naiven Kunst, auch dann, wenn sich in ihr Spuren einer herkömmlichen Betrachtungsweise der dekorativen Volkskunst zeigen. Der naive Maler skizziert nicht, er teilt das Papier oder die Leinwand nicht ein, sondern beginnt sein Werk in der einen Ecke und vollendet es in der gegenüberliegenden. Was er schaffen will, das sieht er vor sich, und deshalb braucht er kein Modell und keine Landschaft; er malt, zeichnet oder schnitzt aus dem Gedächtnis. Zweifellos sind das Züge, die der Art und Weise des Schaffens der Volkskünstler gleichen, doch sind die Abweichungen bereits so groß, daß die Arbeiten der naiven Künstler aus dem engeren Rahmen ethnographischer Untersuchungen fallen.