Die historischen Schichten der dekorativen Volkskunst

Obwohl uns die ungarische dekorative Volkskunst eigentlich nur aus den letzten zwei Jahrhunderten genauer bekannt ist, können wir doch den Versuch wagen, auf ihre historischen Wurzeln hinzuweisen. Dabei kann von der Voraussetzung ausgegangen werden, daß die dekorative Volkskunst äußerst konservativ ist und einzelne Elemente und Formen viele Jahrhunderte hindurch bewahrt geblieben sind. Andererseits wird eine derartige Untersuchung auch dadurch begünstigt, daß einzelne große historische und künstlerische Perioden vielfach in übertragener Form und mit jahrhundertelanger Verspätung zur Bauernschaft kamen. Die Verspätung und der Konservatismus sind für die historische Untersuchung eine zwar begrenzte Ausgangsbasis, bieten aber zumindest gewisse Möglichkeiten.

Aus der Zeit vor der ungarischen Landnahme lassen sich die verschiedenen, hauptsächlich aus Birkenrinde gefertigten Gefäße und Kästchen anführen. Nicht so sehr ihre Verzierung als vielmehr ihre Form und die Art ihrer Zusammenfügung weisen auf ihr Alter hin. In die gleiche Gruppe ist auch eine Form der Schießpulverfäßchen aus Hirschgeweih einzuordnen, deren genaue Gegenstücke früher als Salzfaß dienten. Dasselbe gilt für die Salz- und Salbenfettbehälter, deren eingeritzte Darstellungen an Zeremonien beziehungsweise an das eine oder andere Element aus dem Schamanismus erinnern, auch dann, wenn sie von irgendeinem Hirten der Ungarischen Tiefebene Ende des vorigen oder Anfang dieses Jahrhunderts angefertigt wurden. Funde von archäologischen Ausgrabungen beweisen, daß die ungarischen Vorfahren die Fertigkeit besaßen, aus Leder und Metall Behälter herzustellen, in denen sie die Utensilien zum Feueranzünden und andere kleine Handwerkszeuge aufbewahrten, daß sie Trinkgefäße ähnlich den heutigen Trinkkellen schnitzen konnten und ihre Sättel mit verzierten Knochenplatten verkleideten. Die gefundenen Gegenstände gleichen sowohl in der Form wie in der Verzierung ausgesprochen ihren Gegenstücken in der Volkskunst aus dem vorigen Jahrhundert.

Nach der ungarischen Landnahme wurde die außergewöhnlich entwickelte ungarische Metall- und Schmiedekunst immer mehr in den Hintergrund gedrängt, doch ein Teil ihres Motivgutes kehrte häufig in den Steinmetzarbeiten der romanischen Kirchen wieder. Das Volk hatte die Motive vor Augen, und sie wirkten höchstwahrscheinlich {G-402.} besonders auf die Schnitzkunst. Einzelne Motive können wir fast bis in die heutige Zeit verfolgen. Die Geschichte der Spundtruhe (auch szökröny = Schrank genannt) führt bis hin ins Altertum zurück, doch in Ungarn hat sie sich vermutlich mit der Gotik verbreitet. Auch die typischen Elemente der Kerbverzierung können aus dieser Zeit nachgewiesen werden. Verzierte Gewebe sind bereits auf den Darstellungen der Fresken und Flügelaltäre aus dem 13. Jahrhundert zu finden. Aus dieser Zeit sind uns auch die noch heute oft vorkommenden sternförmigen und verzahnten Gewebemuster bekannt. Die reichen Ornamente der mittelalterlichen Ofenkacheln haben sich oftmals bis ins vorige Jahrhundert lebendig erhalten.

Die dekorative Volkskunst hat viele Renaissance-Motive und-Elemente bewahrt. Hier handelt es sich nicht in erster Linie um eine Auswirkung der Frührenaissance aus dem 15. Jahrhundert, sondern vielmehr um den sogenannten Blumenstil der Hochrenaissance, dessen Blüte über das 16. und 17. Jahrhundert stellenweise bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts reichte. Der Einfluß ist auf ungarischem Sprachgebiet sehr gut nachweisbar, vor allem aber wurde er in Siebenbürgen in verschiedenen Zweigen der dekorativen Volkskunst fast bis in die heutige Zeit bewahrt. Die reichen Rankenornamente und die vielfältigen Varianten der verschiedenen Blumen und Früchte spielten in der Malerei und Stickerei eine besondere Rolle. Die Renaissance kam vor allem über Italien nach Ungarn und brachte die Nelken-, Granatapfel-, Blumenstock- und „große Schlangen“-Muster, die auf der hausgewebten Leinwand und den volkstümlichen Stickereien ebenso zu finden sind wie auf den Gefäßen der Töpfer, den Ofenkacheln und den Hirtenschnitzereien. Merkwürdigerweise haben sie sich vor allem in einer Zeit verbreitet und eingebürgert, als Ungarn in drei Teile gespalten, das heißt, teils türkisch, teils habsburgisch beherrscht war und nur das Fürstentum Siebenbürgen die Selbständigkeit bewahrt hatte. Das zeigt deutlich, wie relativ einheitlich sich die bäuerliche Kultur auch in einer so schweren Zeit der Zerstückelung im ganzen ungarischen Sprachraum geformt und entwickelt hat.

Einige Renaissance-Motive, die fast bis in die heutige Zeit in der dekorativen Volkskunst harmonisch bewahrt blieben, verdienen besondere Erwähnung. So vermag zum Beispiel die Schaffensfreude des ungarischen Volkes die Starre des italienischen Rankenmotivs mit leichter Anmut aufzulösen, ja bei einzelnen Holzschnitzereien und Stühlen aus der Tiefebene die Motive zu verdichten. Das Blumenstockmotiv erscheint auf dem verschiedensten Material, am besten aber fügt es sich in die Ornamente der Stickereien aus der Gegend Kalotaszeg in Siebenbürgen, wobei es allerdings so umgestaltet wird, daß sein Ursprung kaum noch zu erkennen ist. Muster mit auf den Ecken stehenden Quadraten sind besonders in Siebenbürgen beliebt; doch man bemüht sich, ihre Starre in verschiedener Weise aufzulösen. Die Sterne, ein Renaissance-Element, sind ein häufiges Motiv auf Stickereien und Geweben, wo man sie so miteinander verbindet, daß sie wie ein wahrhafter Sternenmantel erscheinen. Die Szekler Stickereien und Webereien folgen der Kompositionsweise der Renaissance, gestalten aber auch die Rahmen aus Pflanzenelementen und Blättern. Wir {G-403.} könnten noch viele Elemente, Formen und Kompositionsbegriffe der Renaissance aufzählen, die ohne Zweifel in den einzelnen Volkskunstarbeiten zu erkennen sind, und doch wirken sie hier ganz anders. Das Volk hat sie sich nach seinem eigenen Geschmack und seinem Verständnis geformt, umgestaltet und angeeignet.

Ungefähr gleichzeitig mit der Renaissance wirkte auch eine andere starke Ausstrahlung auf die ungarische dekorative Volkskunst, die von den Türken ausging. Oftmals können die beiden Wirkungen nicht einmal voneinander getrennt werden, denn die italienische Renaissance hat gern auf byzantinische Quellen zurückgegriffen, aus denen auch die Türken gewollt oder ungewollt schöpften, ganz abgesehen davon, daß auch zwischen Italien und der Türkei eine gewisse Beziehung bestand, die den Austausch kultureller Güter ermöglichte. So gibt es unter den Ornamenten der Türken ebenfalls Ranken, Nelken und Granatäpfel. Die türkischen Händler zogen mit ihren Waren nicht nur durch die besetzten Gebiete, sie kamen auch nach Siebenbürgen und in das von Habsburg gehaltene Oberland. Ihre prächtigen bunten Waren wurden immer gern gekauft, im 16. und 17. Jahrhundert waren türkische Sachen geradezu Mode. In den türkisch besetzten Gebieten arbeiteten türkische Töpfer, Gerber und Kürschner, und mit ihren Waren verbreiteten sie auch ihre Ornamentik. An den Höfen des Adels waren zahlreiche türkische Stickerinnen beschäftigt, die auf besonders feines Material reiche Pflanzenmuster stickten. Die ungarischen leibeigenen Mägde, die mit den Türkinnen in Berührung kamen, konnten sich die türkischen Motive leicht aneignen.

Aus Mähren kamen die Habaner nach Ungarn, eine Wiedertäufersekte, die ursprünglich aus Italien stammte. Sie ließen sich von der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an in solchen Gegenden Ungarns nieder, in denen sie eine relative Religionsfreiheit genossen oder zumindest erhoffen konnten. Die Habaner betätigten sich als Handwerker auf verschiedenen Gebieten; sie werden vor allem als hervorragende Töpfer und Metallbearbeiter genannt. Obwohl ihre Siedlungen im 18. Jahrhundert verschwanden, ist ihr künstlerischer Einfluß auf einige Töpferzentren noch heute nachweisbar.

Die folgenden großen Stilepochen, Barock, Rokoko und Klassizismus, hinterließen in der ungarischen dekorativen Volkskunst bei weitem nicht so tiefe und unverkennbare Spuren wie die Renaissance. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es zwar schon hier und da in der Tiefebene Bauernstühle mit barock geschnitzter Rückenlehne, und auch an den bemalten Bauernmöbeln ist ein barocker Einfluß erkennbar, doch in der Stickerei, der Weberei oder der Hirtenschnitzerei sind derartige Spuren seltener, obwohl die barocke Architektur in den ungarischen Städten und Dörfern im 18. Jahrhundert stark verbreitet war. Kirchen, Schlösser und Herrenhäuser wurden in diesem Stil erbaut. Die Inneneinrichtungen der Kirchen und die aus jener Zeit erhalten gebliebenen Heiligenstatuen auf den Straßen und Brücken, vor allem Wendelin, Florian und Johannes von Nepomuk, tragen zweifelsohne barocke Merkmale. Verstreute barocke Spuren findet man eher in der dekorativen Volkskunst von Westungarn. Elemente des Rokoko und des Klassizismus sind geradezu ungewöhnlich {G-404.} selten, während sich Spuren des Klassizismus in der Volksarchitektur der Ungarischen Tiefebene finden.

Die ungarische dekorative Volkskunst zeigt aber auch Einflüsse, die vornehmlich auf das eine oder andere Nachbarvolk hindeuten. Von Süden her setzte sich im 18. und 19. Jahrhundert vor allem entlang der Donau ein starker südslawischer Einfluß durch. Das zeigt sich in der Keramik, in der Stickerei, in verschiedenartigen Materialien und besonders im volkstümlichen Schmuck. Die Slowaken und die Deutschen im Oberland waren stets große Meister im Spitzenklöppeln und im Weben; sie brachten ihre Waren weithin in die Tiefebene und nach Siebenbürgen, wo diese nicht nur gekauft, sondern auch nachgeahmt wurden. Im 18. und 19. Jahrhundert siedelten sich mährische Hirten mit ihren Merinoschafen in der Tiefebene an; sie brachten die Technik der Siegellackverzierung mit, die sich auch die ungarischen Hirten schnell aneigneten und mit ungarischen Motiven und Kompositionstendenzen ausführten. Einzelne Töpferwaren zeugen davon, daß über die Zünfte auch Beziehungen zu Österreich bestanden haben dürften. In Siebenbürgen waren die dort unter den Ungarn lebenden Rumänen große Schnitzkünstler, weshalb ungarische und rumänische Schnitzereien oft einander gleichen. Die einzelnen Töpferzentren haben in Siebenbürgen ihr Tongeschirr für die Ungarn, die Rumänen und die Sachsen jeweils in anderen Farben und mit anderen Blumenmustern hergestellt. So ist es kein Wunder, daß sie einander sehr nahekamen, so daß man oftmals nicht ohne weiteres sagen kann, von welchem Volk das eine oder andere Stück hergestellt beziehungsweise benutzt wurde.

Trotz all dieser Einflüsse und aller landschaftlichen Varianten besteht jedoch eine gewisse Einheit der ungarischen dekorativen Volkskunst, die nicht nur vom Forscher, sondern auch vom Hersteller und vom Verbraucher erkannt und beachtet wird. Dazu gehört die Verwendung einfacher und klarer Farben: Blau, Rot und Schwarz. In den meisten Fällen werden diese nicht gemischt, sondern jede für sich verwandt. Der große Farbenreichtum begann erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und auch dann nur in einzelnen Gebieten. Zuvor waren die Kompositionen nie mit Ornamenten überladen, man hatte sich im Gegenteil bemüht, durch frei bleibende Flächen die Schönheit der Verzierung zur Geltung zu bringen. Die dicht gedrängte Anordnung der Ornamente begann (in der Stickerei, der Schnitzerei, der Malerei usw.) etwa vor einem Jahrhundert, und heute ist man schon so weit, daß man möglichst die ganze Fläche lückenlos mit Ornamenten und Blumen bedeckt. All das und noch viele andere Merkmale sind charakteristische Züge, die die ungarische dekorative Volkskunst von ähnlichen Erzeugnissen benachbarter oder entfernterer Völker unterscheiden.

Es ist sehr schwer, einen Überblick über das gesamte Gebiet der ungarischen dekorativen Volkskunst zu geben. Wir wollen versuchen, so vorzugehen, daß wir die einzelnen Zweige in erster Linie aufgrund von Material und Technik unterscheiden. Die Gefahr, daß wir uns dabei wiederholen, ist unabwendbar, da zu den einzelnen Arbeiten verschiedenartiges Material und mehrere Techniken verwendet wurden. {G-405.} Das eine oder andere weniger bekannte Gebiet wird unerwähnt oder nur flüchtig behandelt werden. Als wichtigste Zweige der dekorativen Volkskunst sollen Schnitzerei, Möbeltischlerei, Weberei, Stickerei, Töpferei und einige seltene und weniger bekannte Zweige der Volkskunst wie Metallbearbeitung und -verzierung behandelt werden.