{G-459.} III. Die geistige Kultur


Inhaltsverzeichnis

In den vorangehenden Kapiteln waren wir bemüht, die wichtigsten Eigenheiten, die Entwicklungstendenzen und die bestimmenden Faktoren der sozialen und der materiellen Kultur des ungarischen Volkes in großen Zügen zu schildern. In diesem Kapitel sollen nun einige wichtige Teilgebiete der geistigen Kultur behandelt werden, die auf der Grundlage der materiellen und sozialen Kultur aufbauen. Es sind dies: die Volksdichtung, die Glaubenswelt und das Brauchtum. Zu diesen Gruppen könnte man auch das bildnerische Volksschaffen zählen, doch ist es wohl richtiger, dieses mehr im Umkreis des mit ihm engverbundenen Haus- und Kleingewerbes zu sehen.

Die geistige Kultur ist der Überbau, deren Basis die materielle Kultur des Volkes bildet, und wenn die Zusammenhänge manchmal auch schwer zu erkennen sind, so ist der Überbau von der Basis doch nicht zu trennen. Wenn letztere sich ändert, macht auch der Überbau eine Veränderung durch, obwohl dessen Anpassung in der Regel viel langsamer vor sich geht. Es genügt, in diesem Zusammenhang an das Anfangsstadium des ungarischen Kapitalismus, die Abschaffung der Leibeigenschaft und an die volle Entfaltung des Kapitalismus zu denken. Infolge der veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umstände kann von der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in der geistigen Kultur eine grundlegende Veränderung wahrgenommen werden: Die bildnerische Volkskunst blüht auf, ihre Farbenskala erweitert sich; das neue ungarische Volkslied findet immer weitere Verbreitung, dazu kommt die allgemeine Verbreitung des Csárdás (Tschardasch) und seiner Varianten, um nur einige von vielen Beispielen zu erwähnen.

Die Wandlung der Basis zieht, wie gesagt, nicht sofort eine Anpassung des Überbaus nach sich, da dieser Prozeß einem anderen Rhythmus gehorcht. Einzelne Elemente, die auf einer jahrhunderte-, ja jahrtausendelangen Tradition beruhen, fügen sich reibungslos in die neue Kultur ein, andere wiederum – Erscheinungsformen des Volksglaubens – können sogar die Produktion materieller Güter beeinträchtigen, während wieder andere sie geradezu fördern. Das eine oder andere charakteristische Moment, diese oder jene bezeichnende Eigenschaft soll in der Folge hervorgehoben werden.

Im Frühmittelalter war der Bildungsunterschied zwischen Herren und Fronbauern gering. Der italienische Humanist Marzio Galeotto schreibt vom Hofe des Königs Matthias noch folgendes: „Die Ungarn – Adelige und Bauern – bedienen sich derselben Ausdrücke und sprechen die gleiche Sprache…; ein in ungarischer Sprache verfaßtes Gedicht wird von Bauern und Bürgern, von Adeligen und Magnaten gleicherweise verstanden“. Später, als die Renaissancekultur eindrang und sich ausbreitete, erfolgte eine gewisse Differenzierung, die sich mit der Verbreitung der Buchdruckerei und der Entwicklung des Schulwesens immer mehr vertiefte. Vom 18. Jahrhundert an wurde es immer deutlicher, daß sich zwischen den Schichten der Bauernschaft nicht nur in der materiellen, sondern auch in der geistigen Kultur Unterschiede herausbildeten. Der Grund dafür lag darin, daß die oberen Schichten der Bauernschaft bemüht waren, sich nach oben anzugleichen, was die Möglichkeiten der ärmeren überstieg. Die ärmeren Bauern und die Besitzlosen waren {G-460.} bis in unser Jahrhundert zum großen Teil des Lesens und Schreibens unkundig und schon aus diesem Grunde fast ausschließlich auf die überlieferte Kultur angewiesen. Dies erklärt auch, warum gerade die ärmsten Tagelöhner, Knechte oder Kleinhandwerker die Volksdichtung bewahrten, sie weiterentwickelten und dabei Neues schufen.

Die Kultur der Bauernschaft – sowohl die materielle wie die geistige – erfuhr wesentliche Nuancierungen durch den Einfluß verschiedener Berufsgruppen. So unterschieden sich die Kleinhandwerker der Marktflecken auch in ihrem Brauchtum von den verschiedenen Gruppen der Ackerbauern, diese wiederum von den Hirten, den Fischern, den Erdarbeitern und Gedingarbeitern. Auf diese Unterschiede soll gegebenenorts hingewiesen werden, wenngleich der beschränkte Raum und darüber hinaus der unterschiedliche Stand der Forschung es nicht gestatten, auf alle Einzelheiten ausführlich einzugehen.