Die ungarischen Dialekte


Inhaltsverzeichnis

Um für den deutschen Leser einige charakteristische Eigenheiten der ungarischen Sprache zusammenzufassen, ist es am günstigsten, dem ausgezeichneten Werk Géza Bárczis A magyar nyelv életrajza (Biographie der ungarischen Sprache) zu folgen. Die ungarische Umgangs- und Literatursprache hat sich aus dem gesprochenen Wort, den Mundarten, also als „Volkssprache“, als Medium der Folklore entwickelt. Die morphologischen und syntaktischen Hauptzüge des finnisch-ugrischen Ursprungs wurden auch in den Jahrtausenden nach dem Ausscheiden aus der ugrischen Gemeinschaft beibehalten. Der überwiegende Teil des Grundwortschatzes hat sich aus dem Wortschatz der ugrischen Sprachgemeinschaft entwickelt und vermehrt. Das Vokalsystem ist farbenreich, was durch die Mannigfaltigkeit der Vokale – den scharfen Unterschied zwischen ihrer langen und kurzen Form sowie die Doppellaute – begünstigt wird. Bemerkenswert ist auch der Reichtum des Konsonantensystems. Die ungarische Sprache vermeidet die Häufung von Konsonanten, und auch die Monotonie der Vokalangleichung hält sich in Grenzen. Die Betonung der ersten Silbe verhindert ein langes Ausschwingen des Tones, doch gehört die ungarische Sprache infolge ihrer Geschmeidigkeit zu den nicht allzu zahlreichen lebenden Sprachen, die quantitierende Verse mit fast ebenso vollkommenem Ton ermöglichen wie das Lateinische oder Griechische. Die ungarische Sprache hat den Wortschatz der finnisch-ugrischen Grundsprache im Laufe der Jahrtausende immer weiter vermehrt und bereichert, ohne ihren morphologischen und syntaktischen Charakter zu verändern. Der fremde Wortschatz fügte sich – wie auch in der Geschichte anderer Sprachen – der ungarischen Wortssprache ein, ohne die Einheit der sich im 16. Jahrhundert herausbildenden Literatur- und Umgangssprache zu beeinträchtigen.

Die Wortbildungsfähigkeit der ungarischen Sprache beruht auch auf einem sehr reichen System von Suffixen und kühnen Wortzusammensetzungen. Den ganzen Charakter der Sprache (ihre Konjugationssysteme, {G-462.} ihre Possessivsuffixe, das System der Verbalvorsilben usw.) läuft auf das Streben nach hochgradiger Gedrungenheit und damit auf synthetische Sprachbildung hinaus. So kann zum Beispiel eine abgewandelte Verbalform Zeit, Aussagsweise und Aktionsart ausdrücken und alternativ auf das Subjekt oder Objekt bezogen sein. Trotz Kürze und Gedrungenheit bleibt die Sprache immer klar und eindeutig. Neuerdings verstärkt sich in der heutigen ungarischen Sprache die Neigung zu einer Nebensätze bevorzugenden, analytischen Ausdrucksweise. Soviel zur ungarischen Sprache ganz allgemein.

Die sprachlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Gegenden, größeren oder kleineren Gebieten, die Mundarten, ergeben sich nicht nur aus Eigenheiten der Phonetik, Morphologie und Syntax, sondern auch aus charakteristischen Wörtern beziehungsweise deren gewandelter Bedeutung. Die Mundarten sind zwar meist durch eine scharfe Linie voneinander getrennt, doch bestehen zwischen ihnen oft genug „Übergangszonen“, in denen sich einzelne Elemente von zwei benachbarten Mundarten vermengen.

Die Mundarten der ungarischen Sprache unterscheiden sich bei weitem nicht so stark voneinander wie etwa die der deutschen, so daß es unmöglich ist, daß zwei ungarische Menschen einander nicht verstehen.

Die ungarische Sprache gehört zur finnisch-ugrischen Sprachgruppe, dürfte aber schon zur Zeit ihres Ausscheidens aus dieser nicht mehr einheitlich gewesen sein. Durch die Ausbreitung über weite Gebiete bedingt, entwickelten sich bei den ungarischen Vorfahren starke Sprachunterschiede. Diese nach Ablauf von Jahrtausenden zurückzuverfolgen, ist natürlich außerordentlich schwierig, doch unterstützen zahlreiche Daten eine solche Annahme.

Obwohl die Sprachwissenschaft auf diesem Gebiet erst ihre Anfangsschritte getan hat, kann man sich bereits auf einige grundlegende Feststellungen berufen. Es ist bekannt, daß sich der finnisch-ugrische Konsonant k, wenn ihm ein dunkler Vokal folgt, im Ungarischen im allgemeinen in h verwandelt. So sagen zum Beispiel die Ostjaken kul, die Tscheremissen kol, die Finnen kala, die Ungarn hal (Fisch). Dieses auf breiter Grundlage nachgewiesene Lautgesetz kommt aber nicht in allen Fällen zur Geltung. Das ungarische Verbum huny (schließt die Augen) hat zum Beispiel eine mundartliche Variante kum, die dasselbe bedeutet. Dem entspricht im Wogulischen kon-, im Syrjänischen kunni, im Wotjakischen kin- und im Finnischen kyny. In einigen ungarischen Mundarten hat sich wenigstens bei einem Teil der Wörter der frühere Laut erhalten, sicher weil es bereits damals in der altungarischen Sprache gewisse mundartliche Unterschiede gegeben haben dürfte.

Eine andere Erscheinung der Lautlehre läßt erkennen, mit welchen finnisch-ugrischen Völkern ein Teil der Ungarn noch nach ihrem Ausscheiden aus der Sprachfamilie Umgang hatte. Im Ungarischen verschwindet nämlich ebenso wie in den permischen Sprachen in den meisten Fällen der finnisch-ugrische nasale Konsonant m, n, nj (ungarisch ny, n), wenn ein weiterer Konsonant hinzukommt. So heißt Zweig auf ungarisch ág, auf Wotjakisch vug und auf Finnisch onke. {G-463.} Das bezeugt, daß die damaligen Ungarn bei ihrem Ausscheiden aus der finnisch-ugrischen Sprachfamilie mit gewissen permischen Völkern in einer lockeren Berührung gestanden haben dürften.

Die Doppelformen einzelner Wörter erwecken den Eindruck, daß es im Altungarischen außer der das stimmlose s (in ungarisch sz geschrieben) gebrauchenden Mundart auch eine gab, die sich des Zischlautes s (sch) bediente. Im Kampf der beiden ist letztere unterlegen. Als Beispiele mögen einige sinnverwandte, voneinander abgeleitete Wörter dienen: szõni: sövény, szem: sömör, szenved: senyved, szõr: sörény, ország: uraság usw.

Aus der Zeit nach der Landnahme, besonders vom 11. Jahrhundert an, weiß man schon wesentlich mehr über die ungarischen Mundarten, da man die Entstehung der Siedlungen immer besser lokalisieren kann. So ist der Gebrauch des langen í eine charakteristische Eigenheit eines Teiles der ungarischen Mundarten. In gewissen Wörtern und Suffixen kann neben dem langen é das Erscheinen des langen í schon sehr früh nachgewiesen werden: néz, természet – níz, termíszet. Die erste gedruckte ungarische Bibelübersetzung des János Sylvester: Ujtestamentom magyar nyelven (Das neue Testament in ungarischer Sprache), Ujsziget 1541, spiegelt diese mundartliche Eigenart bereits in entwickelter Form wider.

Gegen das Ende des Mittelalters beginnt sich der Gebrauch des ö, eine für die südlichen Mundarten kennzeichnende phonetische Erscheinung, zu festigen. In einzelnen Gegenden hat sich bei einem sehr großen Teil der Wörter mit ö ein e in ein ö verwandelt. Zum Beispiel kereszt (Kreuz), szeder (Brombeere), gerenda (Balken) wurden zu köröszt, szödör und göröndõ. Dies kann in erster Linie im Süden der Mundartlandschaft nachgewiesen werden, dürfte aber früher weiter nach Norden verbreitet gewesen und nur durch den Bevölkerungsschwund (16.–17. Jahrhundert) und die spätere Besiedlung eingeschränkt worden sein. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß einige Sprachinseln, in denen das ö gesprochen wird, auch weit entfernt von den größeren Sprachgebieten des ö zu finden sind.

Einige mundartliche Erscheinungen können schon im Mittelalter als zu einer bestimmten Gegend gehörig festgestellt werden. Dazu gehören unter anderen die drei Suffixe -nott, -nól und -ni. Sie können an Eigennamen und Berufsbezeichnungen angehängt werden. Ihre Spuren lassen sich bis zur ugrischen Periode zurückverfolgen. Ihre Bedeutung ist: birónott „bírónál“, „bíróéknál“ (beim Richter, bei Richters), birónól „bírótól“ „bíróéktól“ (vom Richter, von Richters), biróni „bíróhoz“, „bíróékhoz“ (zum Richter, zu Richters). Diese Eigenheit fand und findet sich noch heute in erster Linie im nördlichen und südöstlichen Sprachgebiet.

Die historische Mundartforschung in Ungarn läßt die Vorgänger der heutigen Mundarten immer deutlicher hervortreten. Dabei stellte man auch fest, daß es ebenso wie heute auch in der mehr oder weniger entfernten Vergangenheit keine derart gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen ungarischen Mundarten gegeben hat, die das gegenseitige Verstehen behindert hätten. Dies gilt zum Beispiel in der Lautlehre für den Gebrauch des i, des ö und des geschlossenen {G-464.} a und e, und selbst gewisse lokale Abweichungen im Wortschatz bedeuteten kein Hindernis auf dem Wege zur einheitlichen ungarischen Sprachentwicklung, sondern können eher als lokale Bereicherungen eingeschätzt werden. Die Gesetze der Form- und Satzlehre sind sogar im heutigen Sprachgebrauch der Tschango (Csángó) der Moldau noch lebendig, die seit Jahrhunderten getrennt vom Mutterland leben und deren Sprache sonst die größten historisch-phonetischen Abweichungen aufweist. Diese Mundart unterscheidet sich von den übrigen durch den Reichtum an rumänischen Lehnwörtern. Doch die Bewohner der zwei am weitesten voneinander entfernten ungarischen Sprachgebiete – um bei unserem Beispiel zu bleiben –, die Tschangos der Moldau und die Ungarn von Felsõõr (Oberwart, Burgenland), verstehen sich im wesentlichen und können – abgesehen vom Gebrauch einiger ungewohnter Wörter – ohne besondere Schwierigkeit miteinander reden. Diese Einheitlichkeit der ungarischen Sprache, der Umstand, daß sie innerhalb des gesamten Sprachgebiets verstanden wird, ist schon italienischen Reisenden im 16. Jahrhundert aufgefallen. Es ist dies ein Kennzeichen der ungarischen Mundarten, im Gegensatz zu den deutschen, französischen, spanischen oder italienischen, die aufgrund der Unterschiedlichkeit fast eigene Sprachen geworden sind und in vielen Fällen eine Verständigung geradezu ausschließen.

Diese Eigenschaft der ungarischen Mundarten hat auch bei der Entwicklung der Schriftsprache eine bedeutende Rolle gespielt. In Ungarn war es nämlich nicht eine Mundart, die sich zur Schriftsprache entwickelte, wie zum Beispiel in Spanien die kastilische, in Italien die toskanische und in Frankreich die der Île-de-France. Es kann höchstens davon gesprochen werden, daß die eine oder andere ungarische Mundart der Schriftsprache näher oder weniger nahesteht. Tatsache ist, daß sich die Mundart der Abaúj-Zempléner Gegend am ehesten mit der Schriftsprache deckt, aber dies kann auch darauf zurückzuführen sein, daß sie gewissermaßen eine zentrale Lage unter den Mundarten einnimmt. Ihre Verbreitung wurde auch dadurch gefördert, daß die erste vollständige protestantische Bibelübersetzung (Gáspár Károlyi, 1590), dann das Werk Ferenc Kazinczys (1759–1831), dieser großen literarischen Persönlichkeit des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, diese Mundart widerspiegelten.

Der Beginn der Entwicklung der ungarischen Schriftsprache kann bis zum 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Seit damals bedienten sich Schriftsteller und Dichter, aber auch Verfasser von amtlichen Urkunden und Privatbriefen immer häufiger der ungarischen anstelle der lateinischen Sprache. Natürlich folgte anfangs die Sprachnorm in Rechtschreibung und Stil dem gewohnheitsmäßigen Gebrauch, doch besonders seit dem 17. Jahrhundert nahm sie immer bestimmtere Formen an, um sich schließlich immer mehr von den Mundarten abzusondern. Es zeigten sich Bemühungen, gewisse mundartliche Eigenheiten zu vermeiden (den Gebrauch des langen í, des õ usw.). Einen außerordentlichen Beitrag zur Entwicklung der Schriftsprache lieferte die Verbreitung des Buchdrucks, was – in erster Linie über die religiöse Literatur – auch die Mundarten beeinflußte.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm im Anschluß an {G-465.} die europäische Aufklärung die Literatur einen neuen Aufschwung. In jener Zeit wurde auch deutlich, daß es der ungarischen Sprache trotz ihrer Melodiösität und Wendigkeit an zahlreichen entsprechenden Wörtern mangelte, besonders um neue Begriffe, Gegenstände oder Tätigkeiten zu bezeichnen. Diese mußten aus der Fremde ausgeliehen werden. Damals nahm – in erster Linie dank den Schriftstellern und Dichtern – die Bewegung der Spracherneuerung ihren Anfang, der die ungarische Sprache eine ungemein hohe Zahl neuer Wörter verdankt. Natürlich befanden sich unter diesen auch solche, die vom Sprachgebrauch abgelehnt wurden, während andere, unter anderen fehlerhaft gebildete, sich einbürgerten. Von diesen letzteren pflegt man zu sagen, es sei schade, daß sie entstanden, daß man sich aber freuen müsse, sie zu haben. Mit dem Abschluß der Spracherneuerung in der ersten Hälfte des i9. Jahrhunderts hat sich die Schriftsprache herausgebildet, die heute unter ständiger Weiterentwicklung und Wandlungen – was Wortschatz und grammatikalischen Aufbau betrifft – im ganzen ungarischen Sprachraum allgemein gebraucht wird.

Alles dies bedeutet aber nicht, daß sich die Schriftsprache zu ihrer heutigen Gestalt unabhängig von den Mundarten entwickelt hätte. Die größten ungarischen Dichter, so Ferenc Kazinczy, Mihály Csokonai Vitéz, Mihály Vörösmarty, János Arany, Sándor Petõfi, Mór Jókai, Kálmán Mikszáth und viele andere, haben sich in ihren Werken ihrer mundartlichen Eigenheiten bedient, und sehr viele dieser Eigenheiten haben dann den Weg in die Schriftsprache gefunden. Ja, man kann sogar sagen, daß eine der Quellen der Erneuerung der Schriftsprache auch heute die Sprache des Volkes ist. So waren es seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts die sogenannten Volkstümlerschriftsteller, die der Schriftsprache viele mundartliche Elemente zugetragen haben.

Heute ist die in Wörterbüchern und Sprachlehren niedergelegte Schriftsprache der Maßstab, an dem man die mundartlichen Abweichungen messen kann, und dementsprechend soll nun versucht werden, die für einige Großräume kennzeichnenden sprachlichen Eigenschaften festzustellen.

In den westungarischen Mundarten kann der ziemlich allgemeine Gebrauch des kurzen u, ü und i anstelle des als Norm geltenden langen ú, û und í festgestellt werden. Weitgehend üblich ist der Gebrauch des l anstelle des ly (Aussprache: lj). Das l am Ende einer Silbe fällt oft weg. Was den Wortschatz anbelangt, haben wir es hier mit einem der farbenreichsten mundartlichen Großräume zu tun, dessen Wortschatz nicht nur durch die innere Entwicklung, sondern auch durch Wörter südslawischen und deutschen Ursprungs bereichert wurde.

Die Ausbreitung der Palotzen-Mundart erstreckt sich über einen bedeutenden Teil des nördlichen ungarischen Sprachraumes. Die hervorstechendste phonetische Eigenart dieser Mundart ist das ohne Lippenrundung ausgesprochene å und das damit eng zusammenhängende labiale ã. Diese Erscheinung ist ausschließlich auf diesen Raum beschränkt, herrscht hier aber allgemein. Der Gebrauch des l ist hier dagegen schon sehr selten. Wortschatzmäßig besteht in der Regel ein Zusammenhang mit dem nördlichen Teil der Großen Tiefebene, was geschichtliche Gründe hat. Im regionalen Wortschatz findet man {G-466.} hier in erster Linie – besonders neuerdings – Wörter slowakischen Ursprungs.

Die auffallendste Eigenart des mittleren Teiles der östlichen Mundarten ist der Gebrauch des langen í. Auf weitaus größerem Raum kommt die dehnende Wirkung des l, r und j im Auslaut vor. Das ly wird ziemlich allgemein wie j ausgesprochen, ein Unterschied zwischen geschlossenem und offenem e wird nicht gemacht. Dieser mundartliche Raum schließt sich besonders mit seinen nordöstlichen Teilen eng an die ungarischen Mundarten Siebenbürgens an, was auch am Wortschatz gut abgelesen werden kann.

Die wichtigste phonetische Eigenart der südlichen Mundart ist der starke Gebrauch des ö (statt ë), der sich den größten Teil des südlichen Sprachraumes entlangzieht. Das l anstelle von ly wird selten gebraucht. In seinem Wortschatz weist dieser Sprachraum geringere Selbständigkeit auf. Man findet hier zahlreiche bald zum südwestungarischen, bald zum nördlichen oder auch zum östlichen Sprachraum gehörige Mundartwörter. Die Gründe dafür liegen in der Siedlungsgeschichte. Dieser Teil des Landes war am schwersten von der türkischen Besetzung betroffen und wurde in der Folgezeit zu einem bedeutenden Teil aus verschiedenen Teilen des ungarischen Sprachraumes neu besiedelt.

Die ungarischen Mundarten Siebenbürgens können in zwei große Gruppen geteilt werden. Die eine ist die Mundart der Landschaft Mezõség, das Flachland im mittleren Teil des Landes, zu der man auch die Mundart von Kalotaszeg rechnet. Die Szekler Mundarten dagegen bilden einen einheitlichen Block am westlichen Fuß und in den Becken der Ostkarpaten. Die außerordentlich komplizierten und verschieden gearteten Mundarten Siebenbürgens kann man nur sehr schwer unter einem einheitlichen phonetischen Merkmal zusammenfassen, da die Ungarn dort in zahllosen, zwar über einen großen Raum verteilten, aber kleinen Sprachinseln leben. Ebendeswegen haben sich viele archaische Züge erhalten, während neuerdings der rumänische Einfluß besonders in den Wörtern, die mit der modernen Bildung zusammenhängen, zur Geltung kommt.

Abb. 195. Karte der ungarischen Dialekte.

Abb. 195. Karte der ungarischen Dialekte.
20. Jahrhundert

{G-467.} Zwischen den erwähnten großen, übergreifenden Mundartgruppen gibt es Übergangstypen, die viele Züge von den benachbarten Mundarten übernommen haben. Solche Gruppen finden wir in der südlichen Landschaft Somogy, in der Gegend von Eger (Erlau), den Fluß Hernád entlang, an der nördlichen Donau usw.

Kleinere Volksgruppen, die vom Kerngebiet ihrer Muttersprache abgeschieden in fremder Umgebung leben, bilden Sprachinseln. Solche sind zum Beispiel die von Felsõõr (Oberwart), die von Österreichern umgeben ist, oder die der csángó (Tschango) an der Moldau, die unter Rumänen wohnen. Viele solche von anderen Völkern umringte Sprachinseln gibt es in Siebenbürgen, andere in Slowenien und im slowakischen Raum.

Die Mundartinseln sind infolge innerer Migration, hauptsächlich nach den Türkenkriegen entstanden, wenn umgesiedelte ungarische Gruppen in eine Umgebung mit anderer Mundart gerieten. So die Palotzen, ferner die Jazyger, die sich im Donau-Theiß-Zwischenstromland ansiedelten, wohin auch viele Siedler aus dem südlichen Teil Westungarns kamen. Diese bewahrten auch in der fremden Umgebung einen Teil ihrer sprachlichen Eigenheiten, entliehen aber gleichzeitig viele sprachliche Züge ihrer neuen Umgebung. Auch zur Zeit des Zweiten Weltkrieges konnte man Zeuge einer solchen Migration sein, als sich größere und kleinere Gruppen aus der südlichen Slowakei, weitere aus der rumänischen Bukowina im südöstlichen Teil Westungarns ansiedelten.

Es stellt sich die Frage, inwieweit die ethnographischen Grenzen mit den mundartlichen Grenzen zusammenfallen. Darauf gibt es keine sichere Antwort, da die in erster Linie aufgrund der Phonetik unterschiedenen Mundarten nicht unbedingt an die ethnischen Grenzen gebunden sind. Trotzdem finden sich in beträchtlicher Zahl kleinere ethnische Gruppen, die einen eigenen Mundarttyp sprechen. Solche ethnisch-mundartlichen Gruppen sind die von Hetés, der Õrség, der Kiskunság (Kleinkumanien), des Csallóköz (Große Schüttinsel) und des Szigetköz (Kleine Schüttinsel). Als solche können bis zu einem gewissen Grad sogar die Palotzen betrachtet werden, zumal auch die Volkskunde die Grenzen dieser Gruppe in vielen Fällen aufgrund von mundartlich-phonetischen Angaben bestimmt. Obwohl die Forschung in dieser Beziehung noch vor bedeutenden Aufgaben steht, kann doch daran festgehalten werden, daß unter den Charakteristika der ethnischen Gruppen auch die Mundarten beachtet werden müssen.

Da die ungarischen Mundarten nicht schriftlich, sondern mündlich weiterleben, haben sie mehr Altertümliches bewahrt als die Umgangssprache. Besonders gilt diese Feststellung für die Volksdichtung, die infolge ihrer mehr oder weniger gebundenen Form Sprachaltertümer, gewisse Wendungen, unbekannte oder nur vom Hörensagen bekannte Dialektwörter erhalten hat. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Sprache der Volksdichtung stets archaischer als die gesprochene Mundart ist. Besonders groß ist die Zahl der Archaismen, die sich in den im Zusammenhang mit Volksbräuchen gesprochenen oder gesungenen Versen, in den Redensarten, Sprichwörtern, Kinderversen und -sprüchlein erhalten haben.

Die ungarischen Mundarten leben mehr oder weniger intensiv auch {G-468.} heute noch. Wenn man zum Beispiel durch die Straßen des im Süden Ungarns liegenden Szeged geht, fällt einem sofort die kennzeichnendste Erscheinung der Mundart, der Gebrauch des ö (statt ë) auf, an dem selbst die Intelligenz dieser Gegend festhält. Anders verhält es sich in Debrecen, wo man auf Schritt und Tritt die langen í und die Diphthonge hören kann die Intelligenz sich aber bemüht, diese zu vermeiden. Unter den Palotzen gebraucht auch die städtische Bevölkerung in ihrer Sprache den Laut å, von dem oben die Rede war. Im Radio und Fernsehen kann man es der Sprache mancher Interviewpartner anhören, aus welcher Gegend sie stammen. Bei alldem muß jedoch gesagt werden, daß die Eigenheiten der Mundarten im Verblassen sind. Einer der Hauptgründe ist die immer mehr wachsende Verbreitung der geschriebenen (gedruckten) Texte, die natürlich der Schriftsprache. Vorschub leisten. Auch Schule, Film und Theater wirken in dieser Richtung, am stärksten aber Radio und Fernsehen. Auf alle Fälle jedoch, selbst wenn man die ausgleichende Wirkung der letzten Jahrzehnte in Betracht zieht, kann mit Sicherheit angenommen werden, daß die Mundarten noch auf lange Zeit hinaus zu den Charakteristika einzelner Gegenden gehören werden.

Die Volkssprache ermöglicht es der ungarischen Volksdichtung, ihren ganzen Reichtum, ihre Schönheit und Kraft zu entfalten. Die Erforscher der ungarischen Volksdichtung haben immer – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – die Kraft und die Geschmeidigkeit der ungarischen Volkssprache zu schätzen gewußt. Die Volksdichtung hat sich in der mündlichen Überlieferung durch die Jahrhunderte erhalten: Die Kraft des geflügelten Wortes ist untrennbar von der Dichtkunst des Volkes. Die Volksdichtung verdankt der Sprache nicht nur die in immer neuen Nuancen erscheinenden Wörter, einen unerschöpflichen Wortschatz, auch nicht nur die kaum zu analysierenden feinen Modulationen der Laute, sondern auch die Wendigkeit, die darstellende und belebende Kraft, die fähig ist, jede Gattung zu tragen und jedes Thema auszudrücken, den Jammer der eingemauerten Frau in der Ballade: das Weib des Maurers Kelemen ebenso wie zartesten Töne der Liebe, die Klage des Soldaten, den trotzigen Gesang des Betyaren und das wilde Temperament des Tanzlieds. Aber in gleicher Weise hört man den bedächtig-ruhigen Scherz, die heitere, abgeklärte Überlegenheit des Volkes aus diesen Sätzen hervorklingen, und die Wunder der Zaubermärchen werden zu häuslicher, annehmbarer Wirklichkeit. Die Sprache des Volkes ist die Grundlage der nationalen Schriftsprache, eine sichere und unerschöpfliche Schatzkammer sowohl der Kunst- als auch der Volksdichtung.