Liebeslieder

In der volkstümlichen Lyrik nehmen die Liebeslieder in jeder Hinsicht eine zentrale Stelle ein. An Zahl übertreffen sie alle anderen Liedgruppen; sie vereinigen die altertümlichsten und gleichzeitig neuartigsten Schöpfungen zur vielschichtigsten lyrischen Liedgruppe. Über verschiedene Abstufungen von bei besonderen Gelegenheiten gesungenen Liedern erreicht hier die lyrische Entwicklung die höchste Stufe. Die Wirkung der Liebeslieder strahlt auf alle benachbarten und verwandten Liedgruppen aus, und ebendarum ist es auch sehr schwer, gerade hier gattungsmäßige Schranken zu ziehen und die Liebeslieder nach einheitlichen Gesichtspunkten zu gruppieren.

Vorgänger der volkstümlichen Liebeslieder sind die sogenannten Blumenlieder des Mittelalters, deren Wirkung und deren Weiterleben in Wortwendungen, Vergleichen und sogar im Aufbau verfolgt werden kann. In den Anmerkungen zur ersten vollständigen Übersetzung des Neuen Testaments ins Ungarische, die im Jahre 1541 in Sárvár erschien, schreibt János Sylvester, daß man sich an die Gleichnisse Jesu gewöhnen müsse, daß „es aber unserem Volk leichtfällt, sich daran zu gewöhnen, da ihm diese Art der Rede nicht fremd ist. Es gebraucht sie alltäglich in den Blumenliedern, in denen alle Völker die scharfe geistige Erfindungsgabe des ungarischen Volkes bewundern können, die nichts anderes als ungarische Poesie ist“. Dieses von János Sylvester von Erdõs ausgesprochene Lob bildet die erste kurze Zusammenfassung der Poetik des ungarischen Volkslieds. Der Vergleich mit den neutestamentlichen {G-525.} Gleichnissen, der Hinweis auf die bildliche Sprache, der sich vielleicht auf das Anfangsbild des Volkslieds bezieht, und das Lob der großen Vielfältigkeit und Erfindungsgabe bezeugen, daß der namhafte Übersetzer im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung seiner Zeit für die Schönheit und den Reichtum der damaligen Volksdichtung aufgeschlossen war. Natürlich gab es zu jener Zeit noch überhaupt keinen scharfen Unterschied zwischen Volksdichtung und Kunstdichtung – so mag die Anerkennung beiden zugedacht gewesen sein.

Der Klang der Blumenlieder wiederholt sich oft in den Liebesliedern des Volkes, so auch in den unzähligen Varianten des Motivs vom Vogel, der sein Nest baut.

Kam in meinen Garten
Einst ein Vögelein,
Richtete im Busche
Sich ein Nestchen ein.
 
Aber meine Neider,
Als sie davon hörten,
Kamen, und die Bösen
Vögleins Nest zerstörten.
 
Flog davon das Vöglein,
Singt mir keine Lieder,
Vielleicht kommt es doch noch
Mit dem Frühling wieder.
 
Vöglein ist nicht kommen,
Es vergehn die Stunden,
Hat vielleicht sein Pärchen
Anderswo gefunden.
 
Kehrt es nicht mehr wieder,
Hab ich es verloren,
Sicher hat es eine
Andere erkoren.
 
Kommst du, Vöglein, nicht bis
Sich der Weizen rötet,
Hast du mich vergessen,
Hast mein Herz getötet.

                           Kászonimpér (ehem. Komitat Csík)

Von den lyrischen Liedern sind die Liebeslieder am wenigsten an Gelegenheiten gebunden. Die meisten von ihnen können ohne Rücksicht auf Beschäftigung oder andere Unterschiede von jedermann gesungen werden. Sie sind typisch und allgemein, jedermann kann sie nachfühlen. Das Individuum offenbart sich hier nicht durch die Gemeinschaft, sondern unmittelbar, wenn auch als ein Typ seiner Gesellschaft und nicht als eine von den anderen verschiedene Persönlichkeit. In den Liedern des alten Typs wird weniger von den Gefühlen, sondern eher von deren Wirkung gesprochen, auch wird der oder die Geliebte nicht genannt, sondern nur als Blume oder Vogel erwähnt.

Neuerdings kann man verschiedene lyrische Ausgangssituationen, feiner abgestufte Gefühle, vielfältigere Charaktertypen usw. beobachten. Aber jede Ausgangssituation, jeder Charaktertyp, jeder Gefühlszustand wird fast sofort typisiert; anstelle von Nuancierung wird in wirkungsvollen Bildern gelobt oder verurteilt. Und es scheint, als ob Inspiration eher vom Schmerz als von der glücklichen Liebe käme.

Als eine Folge der erwähnten Verallgemeinerungen und Typisierungen kommen ständige Beiwörter, Personifizierungen usw. vor, die manchmal ein richtiges System bilden und so eine stilisierte Atmosphäre schaffen können. Es könnte leicht der Eindruck entstehen, als ob in den Liebesliedern alles nur symbolisch sei, wo es sich doch um häufig {G-526.} wiederholte dichterische Kunstgriffe, um Reste alter und auch primitiver lyrischer Ausdrucksweisen handelt, deren Bedeutung im Laufe der Zeit auch an Klarheit verloren haben dürfte.

Je nach der lyrischen Ausgangssituation und dem Ausdruck der Gefühle läßt sich die ungemein große Zahl der Liebeslieder in viele Gruppen einteilen, von denen die eine oder andere auch historisch ausgesondert werden kann. So ist eines der ältesten beliebtesten Elemente das Vöglein, das eine Nachricht bringt:

Vögelein, Vögelein,
Zwitscherndes Vögelein,
Trage du mein Briefchen,
Trage du mein Briefchen
Nach dem Ungarlande heim.
 
Fragt sie, wer wohl schickt es?
Sag ihr, jener schickt es,
Dem in seinem Schmerze
Bricht sein fühlend Herze,
Ja, ganz sicher bricht es.

                           Szuka (Komitat Heves)

Historisch können die Volkslieder, in denen vom Garten der Liebe, von blühenden, wohlriechenden Blumen die Rede ist, weit zurückverfolgt werden. Diese zaubern uns geradezu die Burggärten des Mittelalters und die Gärten vor den Bauernhäusern vor die Augen, deren Betreuung den heiratsfähigen Mädchen oblag:

Maiglöckchen und Thymian,
Rittersporn und Majoran,
Narzisse und Akelei.
Könnt ich in deinen Garten gehn
Und deine roten Rosen sehn,
Mein Herz wär jung und frei.
 
Maiglöckchen und Thymian,
Rittersporn und Majoran,
Narzisse und Männertreu,
Ließt du mich in den Garten ein
Und dürfte ich dort Gärtner sein,
Ich wär gesund und neu.

                           (Deutsch von Heinz Kahlau)

Die meisten Lieder preisen aber doch die Schönheit der Liebsten mit ungewöhnlichem Reichtum an Vergleichen oder mit Klagen um die untreue Geliebte:

Wunderschöner Engel,
Für die Welt geboren.
Tratst zur Morgenröte
Aus den Himmelstoren.
 
Dein Gesicht ist weißer,
Als die Leinwand weiß ist,
Und dein Aug’ brennt heißer,
Als das Feuer heiß ist.
 
Habe Dank, mein Engel,
Für die schöne Liebe.
Noch mehr würd’ ich danken,
Wenn sie ewig bliebe.
 
Seit du mich verlassen,
Leuchtet keine Sonne,
Mit dir hingegangen
Ist des Lebens Wonne.
 
Wirr in meinem Kopfe
Ist es deinethalben,
Die Gedanken kreisen
Wie erschreckte Schwalben.

                           Szaján (ehem. Komitat Torontál)

Andere Lieder klagen, weil die Liebe schmerzlich und vergänglich ist; besser, man gebe sich ihr nicht erst hin; es lohne sich nicht, sie sei geradezu schädlich wegen der bösen Zungen in der Welt, ja selbst die eigene Mutter verbiete den Umgang mit der Liebsten.

262. Pfau mit Blütenzweig.

262. Pfau mit Blütenzweig.
Darstellung auf einem Spiegelbehälter (tükrös)
Kom. Somogy

{G-527.} Viele sind’s, die dich mir neiden,
Mehr als Gras wächst auf der Heiden,
Muß im Busch Quartier mir suchen,
Weil im Dorf mir alle fluchen.
 
Hab geliebt dich heiß und lange,
Um die Zeit ist mir jetzt bange,
Weil die Liebe aus ist, leider,
Mögen freuen sich unsere Neider.
 
Hab ich dich nur angeschaut,
Keiften schon die Weiber laut,
Seid froh, es ist euch gelungen,
Habt entzweit uns mit den Zungen.
 
Sag der Mutter, sie sei stille,
Daß es so kam, war ihr Wille.
Vom Geschimpfe, kannst ihr sagen,
Bricht ihr einmal noch der Kragen.

Abb. 208. Zierschnitzerei auf Grabhölzern.

Abb. 208. Zierschnitzerei auf Grabhölzern.
Nagyszalonta, ehem. Kom. Bihar, Anfang 20. Jahrhundert

{G-528.} In den meisten Fällen war es nicht allein der Neid und das mütterliche Verbot, die die Liebenden trennten, sondern die ungleiche gesellschaftliche Stellung, der Vermögensunterschied, der früher im ungarischen Dorf so sehr beachtet wurde, daß er häufig eine unüberwindliche Schranke zwischen die Liebenden schob.

Arm geboren, arm bin ich geblieben,
Meine Rose durfte ich nicht lieben,
Mir genommen haben sie die Neider,
Jetzt erst bin ich wirklich Hungerleider.
 
Weite Ferne mög uns fortan trennen,
Ich zieh hin, wo mich die Leut nicht kennen.
Bis ans End der Welt auch ohne Rast,
Keinem Menschen will ich falln zur Last.

                           Zsigárd (ehem. Komitat Pozsony)
Nicht erlaubt ist der Besuch in unsrem Haus,
Dem, der nicht sechs ochsen treibt zum Tor hinaus.
Burschen mit sechs Ochsen steht frei hier die Kür,
Armen Burschen aber weist man hier die Tür.

                           Déva (ehem. Komitat Hunyad)

Klagen über abgekühlte Liebe, Treulosigkeit, Bruch und Abschied finden sich in diesen Liedern ebenso wie Zurückweisung, erhaltener und gegebener Korb, ja Fluch auch wegen der Schmach.

O, wie krank ich bin!
Bald bin ich ganz hin.
Hat vielleicht die Mutter meines Heißgeliebten
Bösen Fluch im Sinn?
 
O, verfluch mich nicht
Wegen deinem Sohn,
Hab ja deinem schmucken Bürschlein nie versprochen
Wahren Liebeslohn!
 
Wenn ich ihn geliebt hätt’,
Ich ihm ja gesagt hätt’!
In der Kirch von Öcsény, unterm hohen Turme
Man uns längst getraut hätt’!

                           Öcsény (Komitat Tolna)

Die Gruppe der Liebeslieder ist viel besser proportioniert als die Gruppe anderer Liedtypen. Allerdings kommen bei den Grundtexten oft Kontaminationen vor, und es sind gerade die Liebeslieder, die am häufigsten in Lieder anderer Gattungen, wie Soldaten-, Ernte- und Gedingearbeiterlieder verwandelt werden. So ist es auch nicht überraschend, wenn man der einen oder anderen Wanderstrophe in vier oder fünf Gruppen von Liebes- oder anderen Liedern begegnet. Die Liebeslieder stehen natürlich mit den lyrischsten der Liedtypen in engster gegenseitiger Verbindung, so – wie es unsere Beispiele bezeugen – in erster Linie mit den Flüchtlings- und Soldatenliedern, aber auch mit den Liebesbriefen, den Fluchliedern, Gefangenenliedern, einzelnen {G-529.} Balladentypen, ferner den Spottliedern und den neueren Liedern der Amerikafahrer und der Gedingearbeiter.

Auch territorial sind die Liebeslieder am gleichmäßigsten verteilt, wenngleich in der Großen Ungarischen Tiefebene die Quelle des Liebesliedes etwas reicher fließt als die anderer Gruppen. Die ältesten Liebeslieder allerdings kommen in größter Zahl am östlichen Rande des ungarischen Sprachraumes (bei den Szeklern und den Tschangos der Moldau) vor.