Historien- und Heldenlieder

In dieser Gruppe finden sich zahlreiche halb-volkhafte, folklorisierte und an andersgeartete Ereignisse anknüpfende Lieder. Gleichzeitig sind sie gute Beispiele für das historische Bewußtsein und die historischen Kenntnisse des Volkes, die allerdings kaum weiter als drei bis vier Generationen zurückreichen. So wäre es müßig, von den Liedern die Namen der Personen oder eine genaue Zeitfolge zu erwarten. Die Volksdichtung berichtet nicht über Ereignisse, sondern vermag nur auf gewisse Situationen gefühlsmäßig zu reagieren oder Ereignisse in verschiedenen Perioden gleichartig oder eben nur ähnlich zu reflektieren. Immerhin hat die ungarische Volksdichtung mit richtigem Gefühl diejenigen Wendepunkte der Geschichte sich zur Vorlage genommen, bei denen es um die Sache des Volkes und der Freiheit ging. In großer Zahl finden sich Volkslieder, die die Verheerungen durch Türken und Tataren beklagen, die die Freiheits- (sog. Kurutzen-) kriege des 17. und 18. Jahrhunderts und den Revolutionskampf des Jahres 1848 besingen und diese Ereignisse im Bewußtsein wachhalten. Aus diesen geschichtlichen Perioden stammen auch die Helden, die für die Rechte des Volkes gekämpft haben: König Matthias, Rákóczi, Kossuth und andere.

König Matthias Corvinus, der Renaissanceherrscher des 15. Jahrhunderts, kommt häufig in der Volksdichtung, ganz besonders aber in Sagen vor. Das folgende Lied wurde angeblich bei seiner Wahl zum König gesungen, fand seinen Weg aber auch in die Volksliedsammlungen:

Sei Matthias Herr im Lande.
Auf ihn ist die Wahl gefallen,
Weil der Himmel ihn uns sandte
Zum Beschützer von uns allen.
 
Haben ihn für uns erbeten,
Ihn gekürt in Gottes Namen,
Gott der Herr, hat ihn gegeben,
Sprechen wir darauf das Amen!

Die von den Türken und Tataren erlittenen Plagen haben sich allerdings eher in den Sagen erhalten oder bildeten ein ständiges Thema der ausgedienten Soldaten und Stammtischpolitiker. Dies ist der Grund, weshalb die Sammler verhältnismäßig wenige Lieder dieses Themenkreises gefunden haben, und diese wenigen in einer späteren Zeit entstandenen Lieder nahmen wiederum nur indirekt Bezug auf längst Vergangenes.

{G-530.} Siehst du, meine Rose, dort
Diesen Baum mit dürren Zweigen?
Wenn der grüne Blätter treibt,
Hol ich dich, wirst du mein eigen,
 
0, mein Gott, ich glaub daran,
Blühen wird mein Garten,
Wenn der Mai ins Land einzieht,
Darf ich dich erwarten.
 
Meine Rose, lassen wir
Diese Espe fällen.
Einen Galgen wollen wir
Aus dem Holze stellen.
 
Auf den Galgen laß ich den
Türkenkaiser hangen.
Seinetwegen soll nie mehr
Eine Mutter bangen.

                           Hódmezõvásárhely (Komitat Csongrád)

Hier und da findet sich ein verblaßtes Andenken an die Türkenzeit, oft gerade in den Räuber- (Betyáren-)liedern.

Hab dem Pascha von Gyula einen Brief geschrieben!
Die Betyáren von Szalonta lasse er in Frieden,
Will er uns nicht, heiaho, unbehelligt lassen,
Kommen wir und werden ihn rauh am Barte fassen.

                           Nagyszalonta (ehem. Komitat Bihar)

Zur Zeit des von Franz Rákóczi II. angeführten Freiheitskrieges (1703–1711) flammte die Hoffnung auf, das ungarische und mit ihm das karpatoukrainische (russinische) und slowakische Volk könnten von der Habsburger- und Gutsherrenherrschaft befreit werden. Daher strömten die Fronbauern dieser drei Nationen unter die Fahnen des Fürsten, und die Erinnerung daran findet sich in den Liedern der drei Völker. Hier eine gut gelungene folklorisierte Variante eines Kunstliedes:

Eilig fließt die Garam,
Fließt zur Donau hin,
Viele tapfre Helden
Zieht es jetzt dahin.
 
Viele tapfre Reiter
Sprengen hoch zu Roß,
Eilen voll des Mutes
Zu des Fürsten Troß.
 
Gern folg ich ihnen
In die blutige Schlacht,
Koste es mein Leben,
Ungarn sei bewacht!

                           Koroncó (Komitat Cyõr)

Als weitverbreitetstes und im ganzen Lande gesungenes Kurutzen-lied gilt:

Du, Kamerad Tyukodi, schreitest stramm einher!
Nicht wie der Balázs Kucuk oder andre mehr.
Laß uns fröhlich feiern,
Reich den Becher her!
Nicht zwei Heller, sondern Taler
Brauchen wir und mehr.

                           Tyukod (Komitat Szatmár)

Nach dem Zusammenbruch des Freiheitskrieges ist der emigrierte Rákóczi in der Türkei gestorben, aber lange noch klingt die Erwartung auf seine Rückkehr in den Volksliedern nach:

Rákóczi, hei, Bercsényi, hei:
Ungarische Helden ihr zwei!
Unsre Wunden sich nicht schließen,
Unsre Tränen weiter fließen,
 
Rákóczi, hei, Bercsényi, hei!
Ungarische Helden, ihr zwei!
Wärt ihr beide noch am Leben,
Könntet Schutz der Heimat geben.

                           Mezõberény (Komitat Békés)

{G-531.} Die nach der Kurutzenzeit entstandenen und ebenso die späteren Soldatenlieder ergehen sich in Klagen über den Militärdienst für fremde Interessen:

Unter einem Apfelbaum
Zwei Husaren stehen,
Weit weg von dem Heimatland
Sie zum Himmel flehen.
 
Immer ist’s dasselbe Lied:
Bitter ist ihr Los,
Bitter ist ihr schweres Los:
Mühsal, Kummer bloß.
 
Arme Burschen, höret zu,
Seht euch immer vor.
Hütet euch, solang es geht,
Vorm Kasernentor.
 
Der Soldat ein Sklave ist,
Tränenfeucht sein Brot,
Der Soldat ein Sklave bleibt
Bis zu seinem Tod.

                           Hadikfalva (Bukowina)

Die jüngste und bis in unsere Tage andauernde Blüte der historischen und Soldatenlieder knüpft sich an den ungarischen Freiheitskampf der Jahre 1848/49. Damals wurde die Befreiung der Fronbauern von der Gewalt der Gutsherren ausgesprochen, und die Erinnerung daran lebt in den Volksliedern fort:

Achtzehnhundertachtundvierzig
Tor der Freiheit öffnete sich,
Abgeschafft die Sklaverei,
Land und Volk sind endlich frei!
 
Gehe hinterm Pfluge her,
Warte auf mein Essen sehr,
Bringen wird’s mir meine Rose,
Die von Herzen ich liebkose.

                           Kalotaszentkirály (ehem. Komitat Kolozs)

Im Mittelpunkt dieser Lieder steht die Gestalt Lajos Kossuths als Symbol der für die Freiheit kämpfenden Nation. Allein von ihm handeln mehr als fünfhundert der gesammelten Lieder. Besonders das sogenannte Kossuthlied galt im ganzen Land als Bekenntnis zum Freiheitskampf. Unzählig sind die längeren oder kürzeren Varianten; hier eine von vielen:

Lajos Kossuth hat geschrieben,
Regiment ist keins geblieben.
Fehlen ihm zwei oder drei,
Stellen wir ihm dreizehn bei.
Ungarn lebe hoch!
 
Lajos Kossuth hat geschrieben:
Kein Soldat ist ihm geblieben.
Kommt die nächste Botschaft, dann.
Gehn wir bis zum letzten Mann.
Ungarn lebe hoch!

                           Große Ungarische Tiefebene

Die Worte „nächste Botschaft” erinnern an eine alte ungarische Tradition. Wenn im Mittelalter der König den Adel unter die Waffen rief, versammelte dieser sich erst auf die zweite Botschaft hin. Das Kossuthlied findet sich auch bei den Nachbarvölkern, den Karpatoukrainern (Russinen) und Slowaken. Die Meldung zum Militärdienst unter den Fahnen Kossuths war freiwillig. Die Hoffnung auf Freiheit sicherte einen ausreichenden Zulauf.

{G-532.} Rosenknospe sich im Garten spaltet,
Lajos Kossuths Fahne ist entfaltet.
Burschen, schwört ihr Treue bis zum Tod,
Unsere Heimat ist in großer Not.
 
Auch ich melde mich zur Fahne heute,
Mädchen, gebt mir Blumen zum Geleite.
Werd Gemeiner bei dem Regiment,
Bis man mich bald Herr Rittmeister nennt.
 
Harter Stahl mein Säbel, den ich tapfer schwinge,
Laß das Landeswappen stanzen in die Klinge,
Hartes Nußholz soll der Knauf des Säbels sein,
Lajos Kossuths Namen schneid ich selbst hinein.

                           Borsodszentgyörgy (Komitat Borsod)

Dieses gelungene Lied – halb Volks-, halb Kunstlied – erschien noch während des Freiheitskrieges in den Zeitungen und verbreitete sich weithin im Volke. Als es dann schließlich angesichts der Übermacht bei Világos zur Waffenstreckung kam, entstanden Lieder wie etwa das folgende:

Seidenfahnen wehn im Wind der Schlachten,
Ringsherum die Ungarn-Burschen schmachten.
Schmachtet nicht, es ist nunmal beschlossen,
Euer Blut ist für das Land geflossen.
 
In Arad hat noch Musik geklungen,
Bei Világos ist die Schlacht mißlungen.
Gott im Himmel mußte selbst erbleichen,
Als er sah die vielen Ungarn-Leichen.
 
Als zum Grenzfluß sie gekommen waren,
Weinten bittre Tränen die Husaren,
Wateten durch viele blutige Pfützen,
Konnten ihrem Lande doch nicht nützen.

                           Galgahévíz (Komitat Pest)

Auch später noch wartete man in Ungarn auf die Rückkehr Kossuths und seiner Generäle, ja sogar in den Führer des italienischen Freiheitskampfes, Garibaldi, setzten viele ihre Hoffnung. So sangen die ungarischen Garibaldisten:

Hemd und Hose sind zerrissen,
Saubre Wäsche muß ich nutzen.
Kossuth wird uns reine schaffen,
Stefan Türr bringt uns die Waffen.
Ruft: Hoch Garibaldi!
 
Kossuth, Klapka, Türr
Offen steht die Tür,
Paar Tausend Soldaten
Könnten auch nicht schaden!
Ruft: Hoch Garibaldi!
 
Raben gibt es viel auf der Erde,
Besser wären gute Pferde,
Laßt uns nicht verderben,
Lieber mutig sterben!
Ruft: Hoch Garibaldi!

{G-533.} Die Lieder des Freiheitskampfes wurden überwiegend im mittleren Teil des Landes, in der Großen Tiefebene, gesammelt; in den Randgebieten fand sich nur hier und da eine Variante.