Hirten- und Räuber-(Betyáren-) Lieder

Die Hirten haben eine nicht allzu umfängliche, aber gut unterscheidbare Volkslieddichtung, die am ehesten mit den Räuberliedern verwandt ist. Die Hirten genossen im vergangenen Jahrhundert etwas günstigere Lebensbedingungen, ja scheinbar auch größere Freiheit als die Bauern oder besonders die Gutsknechte. Deshalb erschienen sie den Bewohnern der Dörfer und Meierhöfe vielfach wie Helden, und die Hirtenlieder wurden gerne übernommen und gesungen. Umgekehrt kann dies weniger behauptet werden, da die neuen Lieder, besonders die Kunstlieder, die Hirten wegen ihrer Abgeschlossenheit überhaupt nicht oder nur selten erreichten. Deswegen ist das Liedgut der Hirten sowohl dem Inhalt als der Melodie nach viel altertümlicher als das der meisten Dörfer. Ihr Erlebnisinhalt ist verhältnismäßig bescheiden, verrät aber auch so vielerlei über das Leben, die Beschäftigung und die Gefühle der Hirten.

Es ist natürlich, daß viele Lieder die den Hirten anvertrauten Tiere zum Thema haben und sich mit den Sorgen der Hirten um die Weide, die Tränke, die Aufsicht und mit all dem beschäftigen, was den größten Teil ihrer Zeit ausfüllte.

{G-537.} Wo dort die drei Hügel sind,
Weidet ringsherum das Rind.
Weidet nur, es ist ja Platz,
Wer euch hütet, ist mein Schatz.
 
Voriger Sommer trocken war,
Dürr die Weide ganz und gar.
Sorge hat’s dem Hirt gemacht,
Wachen mußt er manche Nacht.
 
Ist der nächste Sommer naß,
Findt das Vieh zu fressen was,
Muß nicht wandern nachts der Hirt,
Kann eins heben bei dem Wirt.
 
Ist der Brunnenschwengel hin,
Kann der Hirt kein Wasser ziehn.
Bind mir einen Strick daran,
Daß ich mittags tränken kann.

                           Ormánság (Komitat Baranya)

In der Ungarischen Tiefebene und ebenso auf der Pußta Hortobágy ist die größte Sorge des Hirten das Wasser, das Tränken. Deshalb wird in vielen Liedern das Lob des Wassers gesungen:

Debrecen ein Bach umfließt,
Hortobágy sein Name ist.
Drüber steht die Brück aus Stein,
Ist gebaut auf Bögen neun.
 
Debrecen ein Bach umfließt,
Hortobágy sein Name ist.
Treibt das Mühlrad an geschwind,
Ringsum weidet brav das Rind.

                           Hortobágy (Komitat Hajdú)

Die Liebeslieder der Hirten beginnen meist mit einem ihrer unmittelbaren Umgebung entnommenen Naturbild, sind aber in ihrer Mehrheit weniger fein abgestuft als die Bauernlieder:

Abends hüllt die Flur sich in das Dunkel ein.
Liebst du mich noch wirklich, schönes Röselein?
Diese Rose hab’ ich nur für dich gepflückt,
Möchte, daß sie dich zum nächsten Fasching schmückt.

                           Kiskunhalas (Komitat Pest)

Im ganzen ungarischen Sprachraum hat sich eine gewisse Rangordnung unter den Hirten herausgebildet. Am besten gestellt waren die Schafhirten, am ärmsten die Schweinehirten, die man sogar in den Liedern geringschätzig behandelte und verspottete:

Wenn es gibt ein lustig Leben,
Schäferburschen ist’s gegeben.
Auf dem Feld, im grünen Wald
Schlendert er, kennt keine Nöte,
Raucht die Pfeife, bläst die Flöte.
 
Wenn es gibt ein schlechtes Leben,
Schweinehirten ist’s gegeben.
Winters, sommers plagt er sich,
Treibt die vielen Schweine raus,
Schäferbursche lacht ihn aus.

                           Balatonboglár (Komitat Somogy)

Den ersten Rang unter den Hirten beanspruchten stets die Pferdehirten:

Roßhirt bin ich, Roßhirt,
Auf der Heid’ der höchste.
Rinderhirt mag schmuck sein,
Ist doch nur der nächste.
 
Schäfern mit dem Krummstab
Geb die Hand ich dann und wann.
Schmutzigen Schweinehirten
Red ich lieber gar nicht an.

                           Hortobágy (Komitat Hajdú)

{G-538.} Im großen und ganzen waren die Hirten aber doch auf die Gunst ihrer Herren angewiesen, von denen es abhing, ob sie aufgenommen oder entlassen wurden, und die den Hirten auch den Lohn oft kürzten. Kein Wunder, wenn sich in den Liedern darüber häufig Klagen erheben:

So ein Hirtenbursche,
Der kommt nie zu Ehren,
Gegen Herrenlaune
Kann er sich nicht wehren.
Hat er was, dann heißt es,
Schuft, er hat’s entwendet.
Hat er aber gar nichts,
Hat er seins verschwendet.
Holt er sich sein Brot ab,
 
Gibt man ihm ein kleines,
Holt er sich den Speck ab,
Schlechtestes Stück ist seines.
Mißt man ihm sein Korn,
Kriegt er nie ein reines.
Hirtenschicksal wird sich
Nie zum Beßren wenden,
Was er immer anstellt,
Gut wird’s nimmer enden.

                           Békés (Komitat Békés)

Die Hirtenlieder sind regional anders verteilt als die übrigen Lieder. Die meisten kennt man aus Gegenden, in denen früher auf ausgedehnten Flächen extensive Landwirtschaft betrieben wurde, so vor allem in der Großen Tiefebene. Innerhalb dieses Raumes ist es besonders die Gegend östlich der Theiß, in der die meisten dieser Lieder entstanden, während man im noch weiter östlich liegenden Sprachraum nur hier und da auf solche stieß.

Die wichtigste Gattung der Betyárendichtung ist zwar die Ballade, doch fällt es schwer, zwischen Lied und Ballade einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen, da ja letztere auch viele lyrische, ersteres dagegen auch epische Züge aufweisen kann. In Form und Inhalt stehen sich Betyáren- und Hirtenlieder recht nahe; häufig wird der Hirte mit dem Betyár, dem Räuber, zusammen besungen, wie sie ja auch im Leben sich nahe waren.

Das Wort betyár bedeutete während eines großen Teils des 18. Jahrhunderts einen Wanderarbeiter, der von der Arbeit seiner Hände lebte und bald hier, bald dort, länger oder meist kürzer angestellt wurde. Unter diese Wanderarbeiter mischten sich in immer größerer Anzahl Burschen, die gutsherrliche Willkür, steigende Abgaben und Arbeitsverpflichtungen aus ihrer Heimat vertrieben hatten oder die vor dem Militärdienst geflohen waren. Sie wurden bereits von den Behörden verfolgt und kamen so gezwungenermaßen mit der Staatsgewalt in Konflikt. Sie verschafften sich also die Mittel zum Lebensunterhalt meist mit Gewalt.

263. Betyáren.

263. Betyáren.
Darstellung auf einem Salzfäßchen
Westungarn

Zwischen den Betyáren einerseits und den Räubern oder Strauchdieben andererseits gab es aber nicht nur in der Benennung, sondern auch in der Beurteilung durch das Volk einen Unterschied. Die letzteren waren gewöhnliche Räuber und Mörder, während jene nur soviel wegnahmen, wie sie unbedingt zum Lebensunterhalt brauchten, und auch dies nur von den Herren, den Wohlhabenden, in erster Linie von denen, die das arme Volk aussaugten. Kein Wunder also, daß sie von den Volksschichten, denen sie entstammten, vielfach unterstützt wurden. Ganz besonders die Hirten, die Gutsknechte und die armen Bauern boten ihnen Zufluchtsstätten. Geschichten über ihre Taten, ihr Leben {G-539.} und ihren Tod wurden mündlich verbreitet, und es fand sich bald jemand, der sie in Vers und Lied faßte, was ihrer Verbreitung weiteren Vorschub leistete.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestaltete sich für die Betyáren die kraftvolle Entwicklung des Einödhofsystems in der Großen Tiefebene günstig, während in West- und Nordungarn der Wald ihnen Zuflucht bot. Die Betyáren lebten in größeren oder kleineren Gruppen, oft hielten sie militärische Disziplin. In den meisten Hirtenhütten und Wirtshäusern wurden sie aufgenommen. Es gab Betyáren, die zu zweit oder zu dritt umzogen, meistens fanden sich jedoch zehn bis fünfzehn Burschen zusammen. Es gibt aber auch Aufzeichnungen aus jener Zeit, die von fünfzig bis sechzig Mann starken oder noch größeren Banden berichten. Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts belebte sich ihre Tätigkeit nochmals und war entschieden obrigkeits-, also habsburgfeindlich, was die Sympathien für sie erhöhte und sie mit einem heldisch-romantischen Nimbus umgab.

Die armen Bauern sahen in den Betyáren schon immer Idealgestalten, aus dem Gefühl heraus, daß diese den Reichen, den Gutsherren gegenüber das vollbrachten, was sie selber zu vollbringen nicht den Mut und die Macht hatten. Oft wurden freilich auch solche als Helden verherrlicht, die nichts als richtige Räuber waren. Im Revolutionsjahr 1848 schlug sich der berühmteste ungarische Betyár, Sándor Rózsa, mit seiner Bande auf die Seite der Freiheitskämpfer und verursachte den kaiserlichen Truppen bedeutende Verluste. So zogen denn die {G-540.} Betyáren in die Lieder und Balladen als Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit und der Freiheit ein:

Als der Herrgott einst erschuf die Welt,
Hat er den Betyáren auch bestellt.
Gäb es nicht Betyáren auf der Welt,
Wären auch die Bauern schlecht gestellt.

                           Nagysárrét (ehem. Komitat Bihar)

Auch daran erinnert man sich gerne, daß der Betyár sich ohne weiteres in einen Soldaten für den Kampf um die Freiheit verwandelte:

Betyár bin ich, und ich schäm mich dessen nicht,
Betyár bin ich, sagt es mir nur ins Gesicht,
Wartet, denn vielleicht ist nahe schon die Frist,
Tret ich als Husar an oder Infanterist.

                           Kiskunhalas (Komitat Pest)

264. Verzierung auf der Rückseite eines Spiegelbehälters

264. Verzierung auf der Rückseite eines Spiegelbehälters (tükrös) mit Siegellackeinlage, 1885
Nagydobsza-Istvánmajor, Kom. Somogy

Rosig war das Leben des Betyáren sicherlich nicht, und viele bereuten es sogar, daß sie sich diesem Leben verschrieben hatten, manche machten sogar ihren Eltern Vorwürfe, sie nicht streng genug erzogen zu haben:

{G-541.} Meine Mutter warst du wohl,
Hast mich nicht erzogen,
Mich als zarten Zweig am Baum
Nicht zurechtgebogen.
 
Hab zu beugen dich versucht,
Doch dir wars nicht recht,
Hast viel lieber mit Betyáren
Bei dem Wirt gezecht.

                           Kiskunhalas (Komitat Pest)

Am selben Ort ist das folgende Lied aufgezeichnet worden:

Hab mein Roß verloren
In dem Zedernwald.
Von dem vielen Suchen rissen
Mir die Stiefel bald.
 
Laß das Suchen, Bursche,
Ist ja eingefangen,
Steht im feinen Stall mit Bohlen,
Horch, die Glöcklein klangen.
 
Ja, mein Roß erkenn ich
An dem Klang der Glocken,
Meinen Schatz erkenn ich aber
An den blonden Locken.

265. Schafhirt.

265. Schafhirt.
Gravierung mit Siegellackeinlage auf einem Rasierkästchen, 1842
Bakonybél, Kom. Veszprém

Nicht nur Panduren und Gendarmen jagten die Betyáren, auch die Unbilden des Wetters, Regen, Schnee und Sturm setzten ihnen zu:

Trink, Betyár, die Zeit vergeht,
Kalter Wind vom Berge weht.
Ist einmal das Laubwerk weg,
Findt im Wald er kein Versteck.
Nimmt ein großes Lattichblatt,
Daß er eine Zudeck hat.

                           Tiszaladány (ehem. Komitat Zemplén)

Im Winter war es am leichtesten, die Betyáren zu umstellen und einzufangen, und da gab es oft weder Richter noch Verhandlung; sie wurden einfach am nächsten Baum aufgehängt:

Pappel an des Dorfes Rand,
Den Betyár man darauf band,
Unten schon die Wölfe lauern,
Um ihn nur die Krähen trauern.
 
O, mein Gott, wenn ich bedenk,
War das Leben kein Geschenk,
Hier am Galgen hänge ich
Und verdorre jämmerlich.

                           Nagyszalonta (ehem. Komitat Bihar)