Neck-, Spott- und Scherzlieder

Diese vielschichtige Liedgruppe ist eine der reichsten im ungarischen Sprachraum. Zahlenmäßig betrachtet, liegt sie zwischen den Liebesliedern und den Soldatenliedern. Die Überlieferung der Spottlieder läßt sich viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Sie sind von der Offenheit und dem wilden Übermut der Vagantendichtung und dem latinisierenden Humor der Scholaren im 16. bis 18. Jahrhundert durchdrungen; in vielen Fällen kann ein Zusammenhang mit diesen festgestellt werden.

Die dreifache Überschrift erfaßt einander nahestehende, aber doch verschiedene Gruppen. Deswegen ist es sehr schwer, sie einheitlich zu charakterisieren. Der Begriff erstreckt sich auf eine ganze Reihe von Liebesliedern, auch auf die verschiedensten Gelegenheitslieder und ist allen anderen Volksliedtypen gegenüber ziemlich aufgeschlossen.

Diese Lieder wurden bei launigen, geselligen Zusammenkünften gesungen, wobei ein Lied dem anderen folgte. Mit treffendem und scharfem Humor wurden Mädchen, Frauen, Burschen, Männer, Geistliche und Handwerker geneckt. Diese gesungene Kritik traf wunde Punkte und war manchmal sehr schonungslos, besonders wenn Ort und Name entsprechend eingefügt waren, und die Lieder dadurch persönlich wurden. Dies erklärt auch, daß zahlreiche Lieder dieser Gruppe ganz oder teilweise Improvisationen waren.

Es ist fast unmöglich, diese Lieder ihrem Inhalt nach zu gruppieren, besonders, wenn wir auch die Parodien hinzuzählen. Am häufigsten neckten die Mädchen die Burschen oder umgekehrt und machten ihre angeblichen oder tatsächlichen Eigenschaften lächerlich.

Ach, die Burschen von der Pußta sind die ärmsten von der Welt,
Ach, die Burschen von der Pußta haben nie ein bißchen Geld.
Finden, wenn sie nach Banknoten haschen,
Höchstens Kürbiskerne in den Taschen.

                           Hódmezõvásárhely (Komitat Csongrád)

Die Dorfbewohner hänselten das meist ärmere Pußtavolk nicht nur wegen seiner materiellen Lage, sondern auch wegen anderer Eigenschaften:

{G-552.} Keine einzige Zwiebel wert ist so ein Mann,
Der vor einem Mädchen nicht bestehen kann.
Sperrt sein Maul auf, zieht ein seinen Kopf,
Strafe Gott den unbeholfnen Tropf.

                           Allgemein bekannt

Natürlich bleiben die Burschen den Mädchen nichts schuldig und verspotten sie ausgiebig, besonders diejenigen, die den Burschen nachstellen:

Henne bei den Szentgyörgy-Mädchen sitzt im Korbe munter,
Sechsunddreißig frische Eier legten sie ihr unter.
Von den sechsunddreißig Eiern wurde nur ein Hahn.
Schöne Mädchen von Szentgyörgy, oh, ihr seid schlimm daran.

                           Sepsiszentgyörgy (ehem. Komitat Háromszék)

Oft enthielten diese auf Männer und Frauen gemünzten Neckereien auch erotische Anspielungen, was zu ihrer Beliebtheit nur beitrug:

Süßen Fladen gibt der Mais,
Wartet, bald schon Braut ich heiß.
Heute Braut, bald getraut,
Dann als Bäurin ihr mich schaut!
Süßen Fladen gibt der Mais.
Alter Bursche, so ich heiß,
Eine Hoffnung habe ich:
Meine Frau ist jüngferlich.

                           Allgemein bekannt
Mári fleißig Linsen pflückt,
Wartet, wenn’s ihr einmal glückt.
Legt man sie dann endlich lang,
Wackelt unter ihr die Bank.

                           Pusztafalu (Komitat Abaúj)

Die alten Jungfern und die alten Frauen waren zu jeder Zeit und in ganz Europa Zielscheiben des Spottes. Es ist also nur natürlich, daß sie auch in den Spottliedern des Volkes nicht verschont wurden, ja, daß sogar die meisten von ihnen handeln:

Du verfluchter, du verfluchter Jungfernkranz,
Hätt’ der Teufel dich gefressen längst und ganz.
Dreizehn Jungfernkränze hab ich schon zerschlissen,
Ohne, was in einer Hose steckt, zu wissen.

                           Nagymegver (Komitat Komárom)
Durch das Fenster ist das Haus hinausgeflitzt,
Doch das alte Weib noch immer drinnen sitzt.
Alle zweiunddreißig Zähne sind schon weg,
Doch noch immer ruft sie ihren Liebsten keck.

                           Nagyszalonta (ehem. Komitat Bihar)
{G-553.} Petersilie, Möhre, Zwiebel,
Alte Weiber sind von Übel,
Teufel, komm, ich ruf dich laut,
Hol sie dir, die alte Haut.
 
Hölle ist die richtige Bleibe
Jedem bösen, alten Weibe.
Faltig, rauh ist ihre Haut,
Bis aufs Blut mir davor graut.

                           Nemespátró (Komitat Somogy)

Natürlich entgingen auch die geistlichen und weltlichen Vorsteher des Dorfes nicht dem Spott, besonders der Geistliche und der Kantor sind immer wiederkehrende Figuren der Lieder:

Immer zornig es mich macht,
Wenn man übern Pfarrer lacht,
Weil ihn kein Pelzmantel ziert,
Er in der Soutane friert.
Heje-huja, hopp!
 
Immer zornig es mich macht,
Wenn man übern Kantor lacht,
Weil er keinen Hut besitzt,
Nur die Mütze ihn beschützt.
Heje-huja, hopp!

Auch der Dorfschulze wurde verspottet, wobei der soziale Inhalt des Spottliedes klar ist, denn zum Schulzen wurde immer ein Wohlhabender gewählt, der es mit den Bemittelten hielt:

Ist ein Schimmel in die Saat gegangen,
Hat der Schulze ihn gleich eingefangen.
Doch der Schimmel trat so heftig ihn,
Drei Tag später war der Schulze hin.
 
Um den guten Schulzen tut’s uns leid.
Nehmen-Geben war er stets bereit,
Hat’s dem Armen weggenommen,
Und der Reiche hat’s bekommen.
 
Freut euch, Bauern, freut euch groß,
Euren Schulzen seid ihr los!
Woran ihr nicht mal gedacht,
Schimmel hat’s für euch vollbracht.

                           Szenti (Komitat Szabolcs)

Dieses Genre ist Allgemeingut. Die meisten Stücke wurden in Siebenbürgen und in der Großen Tiefebene gesammelt, was jedoch nicht besagt, daß in diesen Gegenden der Sinn für Humor stärker entwickelt gewesen wäre; wahrscheinlich liegt es daran, daß hier besonders intensiv gesammelt wird.

In diesem Abschnitt wurden natürlich nur einige Gruppen des ungarischen Volksliedes beschrieben; auf die meisten konnte nur hingewiesen werden. So wurden die Wiegenlieder, die Kinder- und Spiellieder, die gereimten Sprüche, die Rätsellieder, die gereimten Liebesbriefe, die Hochzeitsbitterlieder, die Hochzeitslieder, die Tanzlieder-und -Sprüche, die Grußadressen und Festtagslieder, die Wächterlieder, die Bettlerlieder, die Marktschreier- und Markthändlerlieder, die Klagelieder und die Wanderlieder weggelassen. Ein Teil derselben wird bei den Volksbräuchen behandelt. Die oben abgehandelten Liedgruppen zu belegen, erschien uns wichtig, um so die Vielfältigkeit des ungarischen Volksliedes anzudeuten, soweit sie eben durch Übersetzungen erlebbar gemacht werden kann.

{G-554.} Wenn wir zum Schluß die ungarischen Volkslieder gleichsam zusammenfassend, ganz allgemein charakterisieren wollen, müssen wir ihre Großzügigkeit, ihre Reinheit, die gekonnte Einfachheit in der Aussage, die vielseitige und komplizierte künstlerische Ausdruckskraft in der Schilderung von Leben und Gesellschaft als Charakteristikum hervorheben. So manches ungarische Volkslied gibt uns in einem einzigen Vierzeiler ein Bild der ganzen einstigen ungarischen Gesellschaft. Scheinbar ist es immer nur ein Einzelner, der von seinen persönlichen Problemen singt, und doch kommen in den Liedern die Gefühle, die Haltungen, die Leidenschaften, Gedanken und Werturteile einer ganzen Gemeinschaft zum Ausdruck. Im Volkslied singt mit der Stimme des Individuums die ganze Gemeinschaft, und deshalb können „Individuum" und „Gemeinschaft" in der ungarischen Volksdichtung letztlich nicht auseinandergehalten werden.