Die Volksballade


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Eines der anziehendsten Gebiete der Folkloreforschung und der Literaturgeschichte stellen die Volksballaden dar. Vom ersten Augenblick ihrer Entdeckung an – sie wurden tatsächlich mit der einer Entdeckung gebührenden Begeisterung aufgenommen – galten sie im allgemeinen literarischen Bewußtsein mit als die schönsten „Blüten" der ungarischen Dichtung. Diese Anerkennung fußte ohne Zweifel auf der Erwartung, durch die Volksballaden könne die verlorengegangene uralte ungarische Epik wiedergefunden werden. Die Enttäuschung über diese unerfüllte Erwartung erklärt, daß János Arany, ein Dichter des 19. Jahrhunderts, der reichlich aus der volkstümlichen Tradition schöpfte, in seiner uns fragmentarisch überlieferten großen Studie über das ungarische Volkslied zunächst bitter bemerkt, das ungarische Volk habe außer „einigen Räuberabenteuern" nichts hervorgebracht, um die Geschichte unserer Nation in seinen Liedern zu bewahren. Bald darauf aber schreibt er: „Das altdeutsche Epos, die tschechische Königinhofer Handschrift, die kleineren serbischen Historien, die nordische Ballade und die spanische Romanze, bei uns das Abenteuer von ,Szilágyi und Hajmási‘ und die wenigen anderen oft erwähnten balladenartigen Gedichte weisen innerhalb der betreffenden Gattungen der epischen Dichtung eine solche Vollkommenheit auf, mit der die Kunstdichtung höchstens in Wettbewerb treten kann, sie aber noch nirgends übertroffen hat."

Die ungarische Volksballade hat sich nicht gesondert von der europäischen, besonders von der osteuropäischen Balladendichtung entwickelt. Vielmehr hängen ihre geschichtliche und gattungsmäßige Entwicklung und die auf sie einwirkenden Faktoren sämtlich mit der osteuropäischen und gesamteuropäischen Ballade zusammen. Man kann deshalb auch nicht im allgemeinen die Probleme der ungarischen Volksballade angehen, ohne wenigstens kurz die Geschichte der europäischen Volksballadendichtung zu überblicken. Es lohnt sich daher, einesteils zu versuchen, den Begriff der Volksballade zu bestimmen, anderenteils aber die Theorien durchzugehen, die sich mit der Geschichte ihrer Entstehung und gattungsmäßigen Entwicklung sowie ihren Themen und Formen beschäftigen.

{G-555.} Die Bestimmung des Begriffs Ballade stößt auf große Schwierigkeiten; nicht zuletzt darum, weil in dieser Kunstgattung sich betätigende, also bewußt schaffende Dichter zunächst unbekannt sind. Deswegen sieht Goethe in der Ballade die ursprüngliche Form der Dichtung, in der wie in einem Brei sämtliche Gattungen in komprimierter Einheit enthalten seien. In seinem Bestreben, die Ballade von der Romanze zu unterscheiden, hat Herder keine bessere Methode gefunden als die geographische. Er spricht von den rauhen, strengen nordischen Balladen und den milderen südlichen Romanzen und hat dadurch die spätere Literaturtheorie stark beeinflußt.