Die Geschichte der Ballade

Es ist einleuchtend, daß theoretische Bestrebungen, die von keiner historisch-gesellschaftlichen Betrachtungsweise ausgingen, bei der Begriffsbestimmung vor fast unlösbaren Schwierigkeiten stehen mußten. Mythisierende Ansätze, ästhetische Formeln, geographische und nationalistische Theorien waren nicht geeignet, zahlreichen mit einem Sammelnamen bezeichneten Schöpfungen so vieler geschichtlicher Perioden, gesellschaftlicher Formationen und unterschiedlicher Kunstgattungen in eine einzige Formel zu zwängen. Aber trotz der zahlreichen Unterschiede zwischen diesen Schöpfungen, trotz der nationalen, geschichtlichen und gattungsmäßigen Verschiedenheit wiesen sie doch alle etwas Gemeinsames auf, nur war die Wurzel dieses „Gemeinsamen" recht schwer zu finden: Wo war das Thema, dem die Variationen entsprossen? War es eine uralte Vortragsweise, eine mit Tanz verbundene Epik, das christliche Mittelalter oder der Einfluß einer geographischen Gegend? -Was von all dem kann als Ausgangspunkt angesehen werden? Die italienische ballata (Tanzlied), der keltische gwaelawd (epischer Gesang), die russische bylina, die ukrainische dumi, die südslawischen narodne pesme, junačke pesme, der spanische romanzero, die dänisch-norwegischen folkeviser, die ungarische ballada (Ballade) – sie alle stellen ein und dieselbe Kunstgattung dar, sie alle haben die Funktion eines kurzen, manchmal dramatisch bewegten epischen Gesanges, und doch bestehen unter ihnen so viele Unterschiede, besser gesagt, sie haben sich immer wieder mit anderen, verschiedenen Gattungen derart vermischt, daß in dieser Mischung die national geprägte Ballade überall in anderen Formen erscheint. All dies erklärt, wie unsicher sämtliche theoretischen Bestimmungen und verallgemeinernden Formeln sind.

Die sowjetischen Forscher ziehen zwar eine genaue Grenze zwischen literarischen und volkstümlichen Balladen und weisen auf die Zusammenhänge zwischen diesen beiden hin, versuchen aber weder die Ballade noch die Bylinen eindeutig zu definieren. Sie betrachten es als ihre Hauptaufgabe, den konkreten sozialen und geschichtlichen Hintergrund der volkstümlichen epischen Dichtung aufzuzeigen und die einander überlagernden Schichten der Gattung des epischen Gesanges zu analysieren.

Bei der Wesensbestimmung der Ballade gibt es ein Moment, das bereits nahe an das Problem des Ursprungs der Ballade heranführt und gleichzeitig geeignet ist, zwei entgegengesetzte, aber entscheidende {G-556.} Elemente der Ballade zu erfassen. Eines dieser Elemente ist das Tanzlied, das andere das epische Lied, und beide stehen im Einklang mit dem Wort Ballade selbst. Das Tanzelement geht auf das italienische Verb ballare (tanzen) zurück; es bezeichnet hauptsächlich eine Eigenart der Tanzlieder, nämlich die Strophe mit Kehrreim. Das andere Element stammt aus dem keltischen Wort gwaelawd, Heldenlied. Einzelne Autoren sind der Ansicht, daß sich im Laufe der Entwicklung das gesungene epische Lied und der Tanz voneinander getrennt hätten und ihre Entwicklung verschiedene Wege gegangen sei. Soviel ist aber sicher, daß an der Wiege der europäischen Volksballade Tanzlied und epischer Gesang gleicherweise Pate standen, und es kann sogar als symbolisch betrachtet werden, daß bei den Versuchen, den Ursprung des Wortes zu ergründen, sich beide Gattungen getroffen haben.

Die Forscher sind sich darüber im klaren, daß trotz mannigfacher Nuancierungen und Abweichungen die Ballade eine spezifisch europäische Gattung ist. Wenn es in ihrer Entwicklung auch genug Widersprüchliches gibt, so kann doch kaum bezweifelt werden, daß diese Entwicklung in Europa selbst vor sich gegangen ist. Wo immer sich außerhalb Europas eine balladenartige Lieddichtung findet, handelt es sich ausschließlich um das Fortleben von mitgebrachten Traditionen europäischer Siedler. So verbreitete sich in Sibirien die russische epische Lieddichtung, so brachten die französischen und englischen Siedler ihre Lieder nach Kanada und Nordamerika, und so wurde aus dem spanischen Romanzero in Mexiko der dort entstandene neue Balladentyp, der Corrido. Wenn Jorge Amado von den blinden Sängern spricht, die die Kämpfe der ausgebeuteten Arbeiter der Kakaoplantagen besangen, so berichtet er uns von einer Weiterentwicklung der portugiesischen Balladendichtung, die aber auch Neues auszudrücken weiß. So bereicherte sich die in Europa entstandene Ballade um neue Elemente und dehnte ihre geographischen Grenzen aus.

Bedeutend weniger Übereinstimmung herrscht in der Frage, wie die Ballade entstanden ist. Die frühesten Angaben über die Ballade können seit der Entdeckung der byzantinischen Akritischen Lieder in das 9. bis 10. Jahrhundert n. Chr. verlegt werden. Bisher betrachtete man als Ausgangspunkt bald das Frankreich des 12. Jahrhunderts, bald das Skandinavien des frühen 12. Jahrhunderts, von wo das episch-dramatische Tanzlied mit den normannischen Eroberern nach England gekommen sei. Im deutschen Sprachraum hat sich die Ballade im 13. Jahrhundert verbreitet.

Die Balladendichtung der slawischen Völker beziehungsweise die Entwicklung ihrer balladenartigen epischen Gesänge verlegte man ebenfalls in die Zeit des 11./12. Jahrhunderts. Ihre Blüte erreichte die Balladendichtung demnach in der Zeit vom 11. bis 16. Jahrhundert. Damals entfaltete sie sich in ihrem vollen Variantenreichtum, damals entwickelte sich ihre gedrungene, dramatische Form, die der Ballade in der epischen Lieddichtung ihren eigenen Platz sichert.

Es wäre also offenbar unrichtig zu fragen, ob sich aus der Ballade ein Epos entwickeln kann oder ob jedes Epos aus einem Balladenlied hervorgegangen ist. Aus den Tatsachen kann vielmehr gefolgert werden, daß die Ballade in der Dichtung der europäischen Völker nicht {G-557.} vor dem Beginn der vollentfalteten Feudalgesellschaft erscheint. Nun wäre zu fragen, ob den epischen Werken, die die feudale Gesellschaft oder einzelne Epochen des Feudalismus beschreiben, von Fall zu Fall kleinere epische Dichtungen vorangingen oder nicht (in gewissen Fällen kann dies nachgewiesen werden), doch darf man diese zur Geschichte der Gattung gehörige Frage nicht mit der Frage nach der Entwicklung der Ballade verwechseln. Die Volksballade – und dies gilt auch für die Kunstballade – ist geographisch in Europa entstanden, und zeitlich begann sie ihre Formen in der Anfangsperiode des sich voll entfaltenden Feudalismus auszubilden, um ihre größte Blütezeit dann auf dem Höhepunkt des Feudalismus zu erreichen.

Eigenartig ist es, daß die Ballade gerade dann entdeckt wurde, als sie im Niedergang begriffen, in den Hintergrund gedrängt und auf abgeschlossenere geographische Gegenden beschränkt worden war; einer neuen Blütezeit ging sie erst zur Zeit der Romantik in der Kunstdichtung entgegen.

Die europäische Balladendichtung kann natürlich kaum zusammengefaßt charakterisiert werden. Der Ursprung, die gattungsmäßigen und dichterischen Voraussetzungen und die spezifische geschichtliche Entwicklung des jeweiligen Volkes geben dem episch-dramatischen Tanzlied ein stark unterschiedliches Gepräge. Trotzdem können hinsichtlich des Themenkreises der europäischen Ballade drei Hauptschichten unterschieden werden. Diese drei sind der Balladendichtung ganz Europas eigen, gleichviel, ob es sich um die Balladen der slawischen Völker, um die nordischen, englisch-schottischen oder romanischen (französischen, wallonischen, spanischen, portugiesischen, rumänischen und italienischen) Balladen oder um die deutschen und ungarischen Balladen handelt. Die erste Schicht bilden die „mythischen" (märchenhaften) Themen, und tatsächlich kommen solche in den Bylinen ebenso vor wie in den norwegischen und schottischen Balladen. Die zweite Schicht besteht aus den der Geschichte entnommenen epischen Themen, und innerhalb dieses Themenkreises können die von den Kämpfen mit den Türken handelnden Balladen und epischen Gesänge der osteuropäischen Völker als zusammenhängende Gruppe betrachtet werden. Diese Gruppe findet sich unter den bulgarischen, rumänischen, südslawischen und ungarischen Balladen gleicherweise, kommt aber auch im ukrainischen und russischen Balladengut vor. Die dritte Schicht ist die verschiedenartigste; sie besteht aus epischen Gesängen, die von individuellen und familiären tragischen oder komischen Begebenheiten handeln, die vorgesungen und vorgetanzt werden. Hierbei finden im Rahmen der Gattungen der Volksdichtung soziale Konflikte ihre wirksamste episch-dramatische Darstellung.

Die Entwicklung der ungarischen Volksballade ist mit der allgemeinen europäischen Entwicklung des Genres vielfältig verbunden, doch zeigt sie in vieler Hinsicht eigenständige und individuelle Züge. Ebendiese sind es, die ihren Charakter ausmachen.

Der Komplex der ungarischen Volksballaden gibt natürlich keine Antwort auf die Frage nach der entschwundenen ungarischen epischen Dichtung und Heldendichtung der Frühzeit, ebensowenig wie etwa das wogulische Heldenlied oder die finnische Kalewala Aufschluß über {G-558.} Probleme der ungarischen Volksballade gewähren, zumal die Balladen oder vergleichbare Dichtungen der mit den Ungarn verwandten finnisch-ugrischen Völker mehr verwandtschaftliche Züge mit der nordslawischen und germanischen Volksdichtung als mit der ungarischen aufweisen. Was die Frage der altungarischen epischen Dichtung anbelangt, so sind – ganz abgesehen von den unausfüllbaren, einschneidenden Lücken, die durch die Vernichtung der epischen Gesänge entstanden sind – selbst Untersuchungen einzelner Motivfragmente und Einschätzungen der historischen Angaben über den alten epischen Gesang eine sehr schwere Aufgabe. Trotz vieler kritischer wissenschaftlicher Untersuchungen steht man erst am Beginn der Erforschung dieser Frage.

Dies bedeutet nicht, daß man in der Volksballade nicht eine ganze Menge wertvoller Hinweise auf das epische schöpferische Talent des ungarischen Volkes, seine Fähigkeit, Epik zu bewahren und vorzutragen, findet. Schon allein die Existenz der Volksballaden, ihre Schönheit und ihre weite Verbreitung in einem großen Teil des ungarischen Sprachraums sind eklatante Beweise dafür. Dieses Talent wird nämlich von einigen Volkskundlern bezweifelt. Gestützt auf versteckte oder offene Rassenvorurteile, wurden unwissenschaftliche Theorien aufgestellt, das ungarische Volk besitze nur für lyrische Lieder Talent, und das Epische (Themen, Vortragsweise) habe es ausschließlich von den deutschen Lautenschlägern und den slawischen Igritzen übernommen, weil es – wie ein Volkskundler ausführte – dem ungarischen Volk sein Stolz nicht erlaubt habe, sich zum bloßen Unterhalter zu „erniedrigen“. Andere wieder verkündeten, daß nur eine hochgebildete Aristokratie fähig sei, hohe Epik zu schaffen und zu bewahren. Daß das ungarische Volk solches vollbracht haben könnte, sei nur folkloristische Phantasmagorie.

Es ist kaum der Mühe wert, sich mit der Widerlegung solcher und ähnlicher Theorien zu beschäftigen, zeigen doch selbst die negativen Argumente, daß die Praxis des epischen Gesanges im ungarischen Volk eine beständige und lebende Kraft war. Man braucht sich nur an die Chronik des Anonymus (12. Jahrhundert) zu erinnern, der zur Rechtfertigung seiner Arbeit ausführt, wie unpassend es sei, die Abstammung und die heldenhafte Geschichte des ungarischen Volkes nur aus den falschen Märchen der Bauern und den geschwätzigen Gesängen der Spielleute zu erfahren. In Wirklichkeit verrät dieser geringschätzige Satz des gelehrten Magisters, daß dreihundert Jahre hindurch mündliche Tradition und Volksdichtung die geschichtliche Tradition am Leben erhalten hatten, besser und echter, als die Gesta es taten, die nur Fragmente zu bewahren vermochten. Wie diese Art des Heldenliedvortrags sich gewandelt hat und zum Vorsprechen und Vorsingen andersgearteter epischer Stoffe umfunktioniert worden sein mag, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, daß die Volksdichtung auch in dieser Wandlung zäh an ihren älteren Helden gehangen und sich neue geschaffen hat.

267. Ungarische Balladensängerin Moldau, Rumänien

267. Ungarische Balladensängerin Moldau, Rumänien

Ein Gelehrter des 18. Jahrhunderts, Mátyás Bél, der sich auch für Literatur und Folklore interessierte, erwähnt, daß die Sagen von Toldi im Munde des ungarischen Volkes fortlebten – ebenfalls seit mehreren {G-559.} Jahrhunderten. Wir wissen aus den musikgeschichtlichen Forschungen Zoltán Kodálys und Bence Szabolcsis, daß im Pentatonsystem der ungarischen Volksmusik ein uraltes Erbe erhalten ist, daß in den älteren Gruppen der Balladen uralte Formen der Melodienbildung, der Versstruktur und Rhythmik weiterleben und daß es auch Themen gibt, die, jahrhundertealt, im Vortrag heutiger bäuerlicher Sänger fortleben. Es kann also mit Recht vorausgesetzt werden, daß die Volksballaden, wenn sie auch keinen Anhaltspunkt zur Rekonstruktion der alten ungarischen Heldenepik bieten, doch die Prinzipien der uralten epischen Vortragsweise, des Gesanges, der Heldenverehrung, der epischen und dramatischen Struktur bewahrt haben. Deswegen kann man in den älteren Schichten der ungarischen Volksballaden – und die Eigenheiten dieser älteren Schichten verwandeln sich sozusagen vor unseren Augen, wobei auch alte Züge beibehalten werden – die Fortsetzung der ursprünglichen epischen Gesänge erblicken, deren Rolle sie übernommen haben.

{G-560.} Soviel ist sicher, daß dem Prozeß unbewußten Vergessens und der bewußten Zerstörung eine lebendige und lebhafte Praxis gegenüberstand: Wir besitzen zusammenhängende Berichte über Jokulatoren, Lautenschläger und Spielleute, die am königlichen Hofe und an den Höfen der Magnaten Heldenlieder und lustige Scherzlieder vortrugen. Dies dauerte bis ins 16. Jahrhundert. Wir wissen außerdem, daß Spielleute, Sänger und Lautenschläger auch im Kreise des Volkes lebten. Es ist durchaus keine willkürliche Annahme, daß diese Liedsänger in ihren Liedern entsprechende, mit den in den höheren Kreisen vorgetragenen verwandte Themen besangen. Die Verwandtschaft der Melodik erscheint gleichfalls sicher, ebenso das Vorhandensein der an die Hörer gerichteten Invokation, einer dichterischen Einleitung, wie sie aus den Gesängen des namhaftesten singenden Chronisten des 16. Jahrhunderts, Sebestyén Tinódi Lantos (Lautenspieler), bekannt ist, was nicht nur auf Verwandtschaft mit den älteren Volksballaden und den neueren Jahrmarktsballaden des 19. Jahrhunderts hindeutet, sondern auch in die Vergangenheit zurückverweist, und zwar weiter, als es die Melodie und der Rhythmus oft tun. Wie man im lateinischen Text der Chroniken auf die archaischen Spuren eines frühen, in der Ichform gehaltenen Heldenliedes aus der Zeit vor der Landnahme stieß, so spricht in den Balladen der Gefangene der Türken oder der Herren sowie der Held der Betyárenballaden des 19. Jahrhunderts in der ersten Person. Nach manchen Theorien sind die Klagegesänge mit den epischen Gesängen zugleich entstanden; sie betrauerten den Helden und besangen seine Taten. Ebenso findet man aber auch im Kreise der Balladen Klagelieder, die die künstlerische Form kleiner neuzeitlicher epischer Gesänge annehmen, deren Intonation sich zweifellos mit der der Balladen als verwandt erweist. Wenn Tinódi seine Zuhörer fragt, ob sie schon von der Belagerung der berühmten Feste Lippa gehört hätten, oder wenn er mit derselben Formel die Geschichte Ali Paschas von Buda beginnt, so gebraucht er eine schon seit Jahrhunderten gebräuchliche Formel; ebenso beginnt im 18. Jahrhundert mit einer solchen Frage die Ballade von Izsák Kerekes, und entsprechend beginnen die im 19. und 20. Jahrhundert gedruckten Texte von Moritaten. Diese Beispiele könnte man noch fortsetzen; beispielsweise wäre von der langen Geschichte eines Teils der Melodien der historischen Lieder zu sprechen, ganz abgesehen von der uralten Art der Versbildung.

268. Ungarische Balladensängerin Moldau, Rumänien

268. Ungarische Balladensängerin Moldau, Rumänien

Hinsichtlich der Bewahrung der epischen Tradition und der Entwicklung ihrer Formen muß unbedingt der Rolle der Historiensänger die größte Bedeutung beigemessen werden, wobei sicherlich das Beste an individueller Schöpferkraft jahrhundertelang in der Namenlosigkeit des Volkes verborgen geblieben ist. Dies bedeutet aber bei weitem nicht, daß nur die Werke der Hofsänger zum Volk gelangt wären und dort ihre verdorbene oder verbesserte Form angenommen hätten. Unser Wissen von den höfischen und volkstümlichen Liedsängern beweist nämlich, daß die Kunst der Liedsänger untrennbar mit den Traditionen des ungarischen Volkes verbunden war, von diesen inspiriert wurde, sich ihrer Melodik und Sprache, ihrer traditionellen poetischen Bilder bediente und die eigenen Zugaben, den neuen Ton, das erworbene {G-562.} Bildungsgut diesen anpaßte. Im Zuge dieser Entwicklung formte und feilte die namenlose mündliche Tradition in jahrhundertelanger Praxis immer wieder das ihr begegnende Alte und Neue. Die Sänger sangen ebenso vor den Bewohnern der Burgen wie vor denen der Dörfer und an den Tischen der Herren. Gianmichele Bruto, der Historiker des aus Ungarn stammenden polnischen Königs István Báthori (1533–1586), schreibt über die Bedeutung der Sänger:

„In ihren Gedichten mit Geigenbegleitung besingen sie den Ruhm der Vorfahren, um die Jugend anzufeuern, damit sie in Tapferkeit miteinander wetteifernd Kriegsruhm erringe. In diesen Gesängen sind ihre Ruhmestaten chronologisch wie in Jahrbüchern gesammelt. Dem Gedächtnis von Kindheit an eingeschärft, erhält sich die Erinnerung an die Vergangenheit jetzt, wo der größte Teil des Landes zusammen mit der königlichen Residenz zerstört ist, am sichersten in diesen Gesängen.“

Diese schöne Beobachtung beweist, wie groß die Bedeutung des epischen Gesanges für die ganze Nation und wie umfassend die Rolle dieser Liedsänger war. Eine Analyse der Historienlieder und der Versnovellen beweist ebenfalls, daß die vom Volk in mündlicher Tradition überlieferte Form unbedingt der schriftlichen Form vorausgegangen ist und bis in unsere Tage die ursprünglichere Form bewahrt hat, wie man ja auch weiß, in welchem Maße die von namentlich bekannten Autoren verfaßten jüngeren Flüchtlingslieder sich der namenlosen mündlichen Tradition dieser Gattung angepaßt haben. Auch ungarische Autoren haben auf die wechselseitige Rolle von Volksdichtung und Kunstdichtung hingewiesen, wobei der mündlichen Tradition des Volkes sowohl in der Neuschöpfung als auch in der Bewahrung die größere und wichtigere Rolle zukommt. Bedeutend als Vermittler war die lange Reihe der Lautenspieler, unter denen sich nicht nur höfische Sänger, sondern auch Sänger, die von einer Grenzfestung zur anderen wanderten, ferner Marktsänger, Kriegsmänner der Grenzburgen, später auch flüchtende Kurutzen sowie dem Volk entstammende und zu diesem zurückkehrende Studenten und Lehrer befanden. Sie alle besangen das Los des Volkes, seine Schmerzen und seine Erinnerungen an die Kämpfe im Ton des Volkes, wie ja auch die Jahrmarktsliteraten des 19. Jahrhunderts bemüht waren, die auf dem Lande gängigen oder Interesse erregenden Themen in volkstümlicher Formulierung auf den Markt zu bringen. So wurden die Kämpfe mit den Türken und den Serben, die Leiden und Abenteuer der Gefangenen in der Türkei, Liebes- und Familientragödien, Greueltaten aus Leidenschaft, Haß und Liebe zum Gegenstand solcher Gesänge.

Das Talent für epischen Gesang war bei den Ungarn immer als besondere, individuelle Begabung anerkannt. Daß talentierte Historiensänger geschätzt wurden, beweisen auch die neuesten Sammlungen. Der mit dem Volk verwachsene und im Ton des Volkes erzählende Sänger hat so bei allen inhaltlichen und formalen Wandlungen im Laufe der Zeiten seine Jahrhunderte überbrückende Bedeutung beibehalten. Es sind also nicht die Themen und einzelnen Motive, sondern die auf mündlicher Überlieferung und Vorsingen beruhende Tradition, die uns, wenn man so will, bis in die Zeit vor der Landnahme zurückblicken läßt. In diesem Sinne kann man – mit János Arany – nach einem {G-563.} Zusammenhang zwischen der ungarischen Volksballade und den angenommenen Heldenliedern der Vorzeit suchen.

Außer dem epischen Spielmannslied war auch das Tanzlied, das gelegentlich epische Stoffe enthält, von Bedeutung für die europäische Entwicklung der Volksballade. Seine Bedeutung wechselte, war zeitweise größer, dann wieder merklich geringer, aber doch immer und überall vorhanden. Sowohl Texte wie Melodien der ungarischen Volksballade beweisen bei genauer Untersuchung, daß ein Teil der lustigen und tragischen Balladen Tanzballaden sind. Die Sammler begnügten sich früher mit der bloßen Aufzeichnung des Textes, doch auch so findet man Tanzlieder mit Kehrreimen und auf Wiederholungen aufgebaute, Tanzspiele anzeigende Balladen heraus. Das beweist die Aufzeichnung von Kodály aus dem Jahre 1922, die eine tragische Ballade von den drei Waisen wiedergibt, die auf eine kindliche Rundtanzmelodie gesungen wurde.

Somit haben zwei gattungsmäßige Faktoren, Historiengesang und episches Tanzlied, die ungarische Volksballade hervorgebracht, so wie ihnen auch die europäische Volksballade ihre Entstehung verdankt. Dies bedeutet keineswegs, daß der nationale Charakter und die individuelle Entwicklung der ungarischen Volksballade in Zweifel gezogen werden müßte, sondern nur, daß die großen geschichtlichen, gesellschaftlichen und literarischen Faktoren ihren gesetzmäßigen Einfluß auch auf die Entwicklung der ungarischen Volksdichtung ausgeübt haben. Dem Forscher obliegt es, außer der gemeinsamen Entwicklung und den allgemeinen Kennzeichen eben auch die charakteristischen Eigenheiten der einzelnen Nationen – großer und kleiner – hervorzuheben und ihren Beitrag zum gemeinsamen Kulturgut der Völker, der Nationen und der ganzen Menschheit nachzuweisen.

Aus welchen Schichten setzt sich nun die ungarische Volksballade zusammen, und wie hat sie sich geschichtlich entwickelt? Es ist überflüssig zu betonen, daß das Alter der einen oder anderen Ballade oder einer Balladengruppe nicht durch den Zeitpunkt ihrer frühesten Aufzeichnung bestimmt werden kann. Obwohl man die Volksballaden im 19. Jahrhundert aufzuzeichnen begonnen hat, bedeutet es keinen unhistorischen Ansatzpunkt, die Entwicklung der ungarischen Volksballade weiter zurückzuverfolgen. Im Vorhergehenden wurde ja gerade zu beweisen versucht, daß die ungarische Volksballade Teil einer lebendigen Entwicklung ist, deren frühere Kettenglieder nur erschlossen werden können, deren Existenz aber eben durch die Volksballade selbst mit Sicherheit bewiesen erscheint.

Die älteste historisch fixierbare Schicht der ungarischen Volksballade kann aufgrund ihrer Themen, ihrer geschichtlichen Atmosphäre in die Zeit vom 15. bis zum 17. Jahrhundert verlegt werden. Daneben gibt es Balladen, deren Alter auf diese Weise kaum bestimmt werden kann, wo vielmehr ihre Märchenstruktur, ihr Zusammenhang mit älterem Volksglauben (zum Beispiel: Bauopfer, verhängnisvolle Vorzeichen) oder gar die Tatsache, daß der Wendepunkt der Ballade gerade durch einen derartigen Volksglauben angezeigt wird, uns gestatten, sie auf ein viel früheres Datum zurückzuführen. Andererseits kann auch angenommen werden, daß in diesen Balladen nur die einzelnen altertümlichen {G-564.} Elemente aus früheren Zeiten stammen, während ihre poetische Gestaltung nicht früher als im 15. bis 16. Jahrhundert erfolgte. Tatsächlich weisen einzelne mythisch-märchenhafte Motive der europäischen Ballade ebenfalls auf frühere Jahrhunderte zurück, bestimmte Motive des Volksglaubens sogar bis in die Zeit der Urgemeinschaft. Die Ballade als Kunstgattung ist jedoch trotzdem nicht früher entstanden als um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert. Mit Gewißheit kann also gesagt werden, daß einzelne Elemente der ungarischen Volksballaden zwar ältere Erinnerungen bewahren, daß aber die Gattung Ballade sich in Ungarn kaum früher als im 13. und 14. Jahrhundert zu entfalten begonnen hat und die ersten gesicherten historischen Hinweise in den aufgezeichneten Balladen sich auf das 16. Jahrhundert beziehen. Die Entfaltung und die Blüte der Volksballade, ihre Kraft, die neue Schichten und Gruppen formte, geht aus den folkloristischen Sammlungen klar hervor, und es kann festgestellt werden, daß diese Kraft noch lange nicht versiegt ist, wenngleich die Traditionsfeindlichkeit der Industrialisierung auch hier ihre Spuren hinterlassen hat.

Es ist heute noch ein schwieriges Unterfangen, die ungarischen Volksballaden nach Themen und Epochen in geschichtliche Perioden einzuteilen. Wie schwer ein solcher Versuch fiele, ließe sich gut der Geschichte verschiedener solcher Versuche entnehmen, in denen sich die willkürlichsten Gesichtspunkte mit richtigen historischen Auffassungen mischten. Am folgerichtigsten gingen vielleicht noch diejenigen Forscher vor, die die ungarischen Volksballaden einfach nach Jahrhunderten gliederten. Nun ist diese Einteilung zwar geeignet, Anfangspunkte zu bestimmen, aber weit entfernt davon, größere Einheiten zu umgrenzen. Die Einteilung wird weiter erschwert durch den Umstand, daß das Geschichtliche mit dem Gattungsmäßigen verbunden werden muß. Daher erlauben wir uns einen ersten Versuch, das Überlieferungsgut nach Themen geschichtlich periodisiert zu ordnen, ohne zu vergessen, daß der eigentümliche, aber verständliche Konservativismus kultureller Elemente in der bäuerlichen Klassengesellschaft keineswegs die Aufstellung abgeschlossener Epochengrenzen erlaubt. Diese Periodeneinteilung ist gleichzeitig zu einer kurzen Charakterisierung dessen geeignet, wie sich in den Volksballaden das Bild der Gesellschaft widerspiegelt und wie man aus ihnen den Wandel bäuerlichen Schicksals herauslesen kann.