Märchenartige Balladen

Es gibt eine Gruppe von sehr altertümlichen ungarischen Volksballaden, deren Struktur und Abschluß gleicherweise märchenhaften Charakter tragen. Dazu gehört die in der Fachliteratur unter dem Titel „Der Wundertote“ oder „Ilona Görög“ bekannte Ballade; sie wurde hauptsächlich in Siebenbürgen, aber auch im nordwestlichen ungarischen Sprachraum aufgezeichnet:

{G-565.} Ilona Görög
 
„Wahrlich, Mutter, ich muß sterben,
Liebe Mutter, teure Mutter,
Ilonas, der schönen, wegen,
Sterben muß ich ihretwegen,
Ihrer schlanken Hüften wegen,
Ihrer roten Wangen wegen,
Ihrer Knospenlippen wegen,
Ihrer blauen Augen wegen,
Hellblau, wie des Flachses Blüten,
Sterben um der blauen Augen
Ilonas, der schönen, wegen!“
 
„Kind, mein Sohn, du sollst nicht sterben,
László Bertalaki – nein!
Sieh, ich laß dir eine Mühle,
Eine Wundermühle bauen,
Die mit ihrem ersten Mühlstein
Nichts als weiße Perlen wirft,
Die mit ihrem zweiten Mühlstein
Silbermünzen fallen läßt,
Die von ihrem dritten Mühlstein
Schöne Seide rauschen läßt.
Alle Jung frau’n, schönen Mädchen
Werden zu der Mühle kommen,
Werden schau’n die Wundermühle,
Kommen wird auch deine Schöne
Anzuschau’n die Wundermühle,
Ilona, das schöne Kind…“
 
„Mutter, laß mich, liebe Mutter,
Liebste Seele, süße Mutter,
Laß mich schaun die Wundermühle!“
„Geh nicht hin, mein Kind, o geh nicht,
Ilona, du schöne, geh nicht,
Listig legt man dir die Netze,
Fängt den Fisch, eh du’s gedacht.“
„Wahrlich, Mutter, ich muß sterben,
Liebe Mutter, teure Mutter,
Ilonas der schönen wegen,
Ihrer schlanken Hüften wegen,
Ihrer roten Wangen wegen,
Ihrer Knospenlippen wegen,
Ihrer blauen Augen wegen,
Hellblau, wie des Flachses Blüten,
Sterben um der blauen Augen,
Ilonas, der schönen, wegen!“
 
„Kind, mein Sohn, du sollst nicht sterben,
László Bertalaki – nein!
Sieh, ich laß dir einen Turm,
Einen Wunderturm erbauen,
Dessen Breite reichen soll
Bis hinab zum Donauufer,
Dessen Höhe reichen soll
Bis hinauf zum Himmelszelt. –
Alle Jungfrau’n, schönen Mädchen
Werden zu dem Turme kommen,
Werden schaun den Wunderturm,
Kommen wird auch deine Schöne,
Anzuschau’n den Wunderturm,
Ilona, das schöne Kind.“
 
„Mutter, laß mich, liebe Mutter,
Liebste Seele, süße Mutter,
Laß mich schaun den Wunderturm!“
„Geh nicht hin, mein Kind, o geh nicht!
Listig legt man dir die Netze,
Fängt im Netz die Bachforelle!“
 
„Wahrlich, Mutter, ich muß sterben,
Liebe Mutter, teure Mutter,
Ilonas, der schönen, wegen;
Ihrer schlanken Hüften wegen,
Ihrer roten Wangen wegen,
Ihrer Knospenlippen wegen,
Ihrer blauen Augen wegen,
Hellblau, wie des Flachses Blüten,
Sterben um der blauen Augen
Ilonas, der schönen, wegen!“
 
„Stirb, mein Sohn, stirb mein Sohn,
László Bertalaki!
Kommen werden alle Jung frau’n,
Schau’n den wundersamen Toten,
Kommen wird auch deine Schöne,
Schau’n den wundersamen Toten,
Ilona, das schöne Kind!“
 
„Mutter, laß mich gehen,
Liebe, süße Mutter,
Laß mich schaun den Toten,
Laß mich schaun den Toten,
Ihn, den wundersamen,
Der um mich gestorben!“
„Tochter, geh nicht, geh nicht!
Sollst ihn nimmer sehen.
Listig legt man dir die Netze,
Fängt im Netz die Bachforelle,
Nimmt dich fort von deiner Mutter,
Ilona, mein schönes Kind!“
 
{G-566.} Ilona hört nicht die Mahnung,
Wendet sich und geht ins Haus,
Kleidet sich in schöne
Glänzend blaue Seide,
Zieht an ihre Füße
Schmucke rote Stiefel,
Legt ums Haupt ein Tüchlein,
Rot von feiner Seide.
Bindet vor die schöne
Frische, weiße Schürze.
 
„Auf, mein Sohn, steh auf nun,
László Bertalaki!
Sie, für die du starbest,
Naht dort auf der Straße!
Auf, mein Sohn, steh auf nun,
László Bertalaki,
Sie, für die du starbest,
Trat ins Haus herein!“
 
„Sah schon manchen Toten,
Aber keinen solchen,
Dessen Füße beben
Sprungbereit zum Aufstehn,
Dessen Arme zittern,
Daß sie mich umfangen,
Dessen Lippen brennen,
Daß sie schnell mich küssen,
Der zum Leben aufwacht,
Wenn ich selbst ihn küsse!“

                           (Deutsch von Hedwig Lüdeke)

Es ist ein in der europäischen Balladenliteratur allgemein verbreitetes Thema, daß der Bursche sich tot stellt und so seine Geliebte herbeilockt. Die Varianten sind aber außerordentlich verschieden. Die ungarischen Varianten lassen eher eine nördliche Verwandtschaft vermuten (zum Beispiel die „Zaubermühle“), enthalten aber auch südliche Motive, denn in der unerreichbaren schönen Ilona Görög (Görög = Grieche) könnte man vielleicht die griechische Helena vermuten. Der Form nach wären die ungarischen Varianten eher der neueren Balladenepoche zuzuordnen. Von der Versnovelle, die ebenfalls Volksmärchenmotive enthalten kann, unterscheidet sie sich in der Art der Themenführung. In der gestrafften Ballade ist mehr von der ursprünglichen Gerechtigkeitsliebe, der heiteren Kraft und dem Schelmischen des Volksmärchens vorhanden.

Zu dieser Gruppe gehört, ohne jedoch den heiteren, siegreichen Ton der Volksmärchen, sondern den der unabwendbaren Tragödie anzuschlagen, die Ballade Kõmûves Kelemenné (Die Frau des Maurermeisters Kelemen [Klemens]). Unter den zahlreichen ungarischen, zum Teil viel ausführlicheren und erschütternden Varianten dieser Gruppe ist auch eine märchenhafte und auf märchenhaften Elementen basierende mit prosaischem Abschluß bekannt. In der hier wiedergegebenen deutschen Nachdichtung der Ballade beruht der tragische Konflikt auf dem Motiv {G-567.} der unmenschlichen Ausbeutung und Habsucht sowie zugleich auf einer Praktik uralten Volksglaubens, dem Bauopfer, das schon aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. durch Ausgrabungen in der Stadt Ur belegt ist.

Abb. 209. Notenbeispiel einer Variante der Ballade „Kõmüves Kelemen (Maurer Klemens).

Abb. 209. Notenbeispiel einer Variante der Ballade „Kõmüves Kelemen (Maurer Klemens).
Korond, ehem. Kom. Udvarhely, 1955

Maurer Klemens
 
Einst des Weges zogen weit ins Land zwölf Maurer,
Gingen immer, gingen bis zur Festung Déva,
Sollten dort die hohe stolze Burg erbauen;
Doch was tags sie bauten, stürzte nachts zusammen,
Was bei Nacht sie bauten, stürzt’ am Tag zusammen.
 
Maurer Klemens endlich stellte dies Gesetz auf.
Welche Frau als erste ihnen Essen brächte,
Mittagbrot im Korbe,
Sollte zwischen Steinen eingemauert werden,
Sollt’ verbrannt im Mauerwerk der stolzen Feste werden:
So nur würd’ es ihnen endlich denn gelingen,
Aufzubau’n die hohe stolze Burg von Déva.

                                *

Sieh! Da schritt heran das junge Weib des Klemens,
Auf dem Haupt den Korb trug sie, das Mittagbrot,
Und im Arm ihr Kindlein, rund und wangenrot.
Voll Entsetzen sieht sie Klemens, der Gefährte:
„Gott, mein Gott! O laß vor ihr erstehen
Wilde Tiere, daß sie heimwärts flüchte!“
Ach! umsonst sein Flehen,
Gott, der Herr, erhörte nicht die Bitte,
Näher kam sein Weib mit jedem Schritte.
„Gott, mein Gott! o laß vor ihr erstehen
Schwarze Wetterwolken, laß es Steine hageln,
Daß den Weg sie aufgibt!“
Ach, umsonst sein Flehen.
Gott, der Herr, erhörte nicht die Bitte,
Näher kam sein Weib mit jedem Schritte.
 
„Guten Tag, ihr Zwölfe! Guten Tag, ihr Maurer!
Lieber Gott, was habt ihr? Laßt mich dreimal grüßen,
Und nicht einmal, nein, nicht einmal gebt ihr Antwort.“
„Ach! wir würden schon, wir würden Antwort geben,
Kämst du Arme nicht hierher zu deinem Tode;
Sieh, dein eigener Gatte stellte dies Gesetz auf.
Welche Frau als erste uns das Essen brächte,
Mittagbrot im Korbe,
Sollte zwischen Steinen eingemauert werden,
So nur kann es endlich uns gelingen,
Auf dem Hügel aufzubau’n die Burg von Déva.“
 
„Tu es denn, und komme was da muß,
Ward das Leben dir mit mir zum Überdruß!“
Als den Korb sie ihr vom Haupt genommen haben
Und aus ihrem Arm den kleinen Knaben,
{G-568.} Dachte sie, es sei ein Scherz des Gatten.
Als sie bis zum Knie gemauert hatten,
Dacht’ sie, Narrheit sei es von dem Gatten.
Erst als bis zur Brust sie eingemauert war,
Wurde ihr die grause Wahrheit klar.
„Weine nicht, mein Söhnlein!
Noch gibt’s gute Frauen hier auf Erden,
Die die Brust dir gerne reichen werden,
Noch gibt’s gute Kinder, die dich wiegen,
Und die Vöglein, die von Ast zu Aste fliegen,
Werden Schlummerlieder für dich singen.“
 
Weiter bauten sie die hohe Burg von Déva;
Was bei Tag sie bauten, blieb bei Nacht bestehen,
Was bei Nacht sie bauten, blieb bestehn am Tage.
Hoch empor, hoch empor wuchs die Burg von Déva.
Eingebaut in ihre Mauern aber
Hatten sie des Klemens Lebensfreude,
Und sein Glück auf Erden,
Ging nicht aus dem Haus mehr, sehen wollt er keinen,
Nachts trieb ihn vom Lager seines Kindes Weinen.

                           (Deutsch von Hedwig Lüdeke)

Ohne sich auf billige und erzwungene Erklärungen einzulassen, kann diese Ballade als eines der furchtbarsten Symbole des Loses der Fronbauern, der an die Scholle gebundenen und schlimmster Ausbeutung Ausgesetzten betrachtet werden. Sie handelt von einer furchtbaren Unmenschlichkeit der Klassengesellschaften: Nicht nur der blutige Schweiß des Arbeiters muß für den Bau der Festung vergossen werden, selbst seine Frau oder ihre „Asche“ muß, wenn es anders nicht geht, in den Kalkgemischt werden, damit die Festungsmauer hält. Und das Erschütternde an dieser Ballade und an diesem Volksglauben ist es eben, daß die Betroffenen dies als ein fast selbstverständliches Opfer betrachteten: Weder Vorahnungen noch das besorgte Flehen des Mannes oder die Kraft der Natur können dem entgegenwirken.

Die glaubensmäßige Grundlage der zitierten Ballade besteht in der Überzeugung, daß für die Errichtung größerer oder kleinerer Gebäude Opfer gebracht werden müssen. Ein solches Opfer konnte in den ältesten Zeiten auch ein Menschenopfer sein; später begnügte man sich damit, die Festigkeit des Gebäudes mit menschlichem Blut oder Haar zu sichern. Bis in die neueste Zeit waren Tieropfer üblich (zum Beispiel ein Hahn), wobei das Opfertier unter die Schwelle gelegt oder in die Wand eingemauert werden mußte. Spuren solcher Opfer finden sich auch heutzutage noch oft in abgerissenen Gebäuden. Dieser Volksglaube und die damit zusammenhängende Ballade ist hauptsächlich in Osteuropa und auf dem Balkan bekannt.