{G-571.} Versnovellen und Balladen aus der Türkenzeit

Die nächste und sehr bedeutende Gruppe ungarischer Volksballaden sind die reimchronikartigen Gesänge, deren Themen Novellen und Begebenheiten der Türkenzeit des 15. bis 17. Jahrhunderts bilden. Schon von früheren ungarischen Forschern wurden diese Balladen als schönste Beispiele des alten Balladenstils erkannt. Sie können vermöge ihrer Rhythmik, ihrer Struktur, ihrer Sprache und ihrer Melodien zu der Schicht der Volksdichtung gezählt werden, die älteste Elemente bewahrt hat. Hierher gehören die Balladen Anna Molnár, Kata Kádár, Szilágyi und Hajmási, Schön Julia, Klein Julia, István Fogarasi und ähnliche. Natürlich sind diese Balladen oft durch Hinweise auf die Türkenzeit, auf den Kerker des Sultans und. durch andere Requisiten der Versnovelle bereichert, was auf Kosten der historischen Glaubwürdigkeit geht. Von der Ballade Szilágyi und Hajmási (oder Die zwei Flüchtlinge) wird diese Grenze nicht überschritten, und das macht ihre Stärke aus.

Szilágyi und Hajmási (oder Die zwei Flüchtlinge)
 
„Bruderherz, Bruderherz, – Brotkam’rad, Notkam’rad!
Sieben Jahr sind’s nun schon, daß wir gefangen sind
Nur um zwei Trauben Weins hier in des Sultans Macht.
Nicht ging die Sonne mehr, nimmer der Mond uns auf,
Sah’n nicht die Sterne mehr wechselnd in ew’gem Lauf!“
 
Lauschend des Sultans Kind hinter der Türe stand,
Ein trat des Sultans Kind, sprach zu den Zwein gewandt:
„Hört mich, ihr Ungarn,an, hört ihr zwei Edelleut:
Aus meines Vaters Haft sollt ihr entrinnen heut;
Doch eh’ ich frei euch mach, dankt mir, wie sich’s gebührt,
Schwört, daß ins Ungarland ihr mich hinüberführt.“
Drauf zur Sultanstochter sprach Miklós Szilágyi:
„Ja, bei Gott, wir schwören, schöne Sultanstochter!“
 
Schnell von dannen ging die schöne Sultanstochter,
Ging in des Vaters Haus,
Hielt die Kerkerschlüssel fest in banger Hand,
Wenige Golddukaten barg sie im Gewand
Schöne Sultanstochter!
Fort nun floh’n sie eilends weit hinaus ins Land
Bis sie rastend standen, und zurückgewandt
Sprach die Sultanstochter:
 
„Hört mich, ihr Ungarn an, hört ihr zwei Edelleut!
Aus meines Vaters Haft seid ihr entronnen heut,
Näher zieht, näher zieht schon meines Vaters Heer,
Bald fällt die Übermacht über euch beide her,
Schleppt mich fort nach Hause!“
„Brauchst dich nicht zu fürchten, schöne Sultanstochter,
Uns haut keiner nieder, wenn das Schwert nicht bricht,
Dich wird keiner rauben, Gott verläßt uns nicht,
Schöne Sultanstochter!“
Näher schon kam heran, schauerlich die Heerschar:
„Bruderherz, Notkam’rad, sorg’ für das Fräulein du,
Ich schaff’ uns freie Bahn!“
{G-572.} Mitten in die Heerschar warf sich nun der Starke,
Schlug beim ersten Gang sich quer durch einen Fußsteig,
Hieb sich bei der Rückkehr eine Wagenstraße!
Alles lag erschlagen. Von der großen Heerschar
Ließ er einen Einzigen leben noch als Boten,
Daß er möchte heimgehn und die Nachricht künden.
 
Nun, als alles still war und die Schlacht vorbei,
Rüsteten zum Aufbruch wieder sich die drei.
Sprach László Hajmási: „Bruderherz, Notkam’rad,
Laß im Kampf uns jetzt messen in Kraft und Mut,
Du aber, Jungfrau, sag, wem du gehören willst,
Schöne Sultanstochter!“
 
„Hört mich, ihr Ungarn, an, hört, ihr zwei Edelleut!
Aus meines Vaters Haft seid ihr entronnen heut,
Nie soll euer Blut um meinetwillen fließen,
Seht, hier knie ich, – lieber sollt ihr meins vergießen.“
 
Darauf sagt sogleich der edelmütige Miklós:
„Bruderherz, Bruderherz, hör mich mein Kamerad,
Nimm du das Sultanskind, das uns gerettet hat,
Hab’ ich doch zu Haus mein Weib, das auf mich wartet,
Das mit Ring und Eidschwur mir ward angetraut.“
 
Als die Sultanstochter dieses Wort vernommen,
Hat sie dort von Miklós Abschied schnell genommen,
Heimwärts Zog der starke Miklós ganz allein,
László und die Jungfrau schöne Sultanstochter
Zogen fort zu zwei’n.

                           Deutsch von Hedwig Lüdeke

Die Balladen dieses Typs unterscheiden sich in einigen Fällen nur in Nuancen von einer späteren Gruppe, zu der die aus der Struktur der Feudalgesellschaft sich ergebenden Zusammenstöße, Tragödien und heiteren Episoden zusammengefaßt werden können. Der Zusammenhang zeigt sich auch darin, daß die dichterische Formung dieser Balladen in aller ihrer Varianten die Kennzeichen des neueren und des älteren Stils aufweist. Auch die Themen leben in zeitgemäßer Adaptation fort; so kehrt zum Beispiel die Geschichte des Mädchens, das den Tod der türkischen Gefangenschaft vorzieht (in der Ballade István Fogarasi) in neuerer Fassung wieder, wobei es sich jetzt um ein Mädchen handelt, das einem Herrn oder dem Müller des Dorfes verkauft wird. Diese wie Versnovellen vorgetragenen Balladen sind nicht nur durch die Vortragsweise und den Aufbau der Erzählung miteinander verbunden, sondern vor allem durch die Widerspiegelung der Gesellschaft, die teils volksmärchenhaft, teils bereits novellistisch gehandhabt wird. Es ist kein Zufall, daß die Novellen- und Versnovellenliteratur des 14. bis 16. Jahrhunderts in ganz Europa sich dieser Darstellungsweise bedient hat. Die Erscheinungen dieser doppelten Strömung können durch eine Reihe von Balladenbeispielen belegt werden. Die Vorstellungen von der strengen Gliederung und den Gesetzen der Gesellschaft erinnern {G-573.} noch lebhaft an die Volksmärchen, aber die Verwicklung, der Konflikt, ist bereits von Elementen der Wirklichkeit durchsetzt. Diese eigentümliche Zwiespältigkeit, diese Gegensätze in der Darstellungsweise sind es, die den berückenden Zauber dieses Balladenkreises ausmachen.

Barcsai
 
„Fahr nach Klausenburg, mein lieber Gatte, fahre,
Fahr nach Klausenburg zu meines Vaters Hofe,
Bring von dort mir, bring den großen Ballen Leinen,
Bring den Ballen Leinen samt den feinen Laken.“
„Fahr nicht, lieber Vater, fahr nicht fort von Hause,
Meine Mutter hat den Barcsai lieb, das weiß ich!“
„Höre, Weib, so hör’ doch, was da spricht der Kleine!“
„Glaub ihm nicht, mein Lieber, Unsinn schwatzt der Kleine!“
Drauf nach Klausenburg hinaus sein Wagen rollte,
Fort sein Wagen rollte, wie die Frau es wollte.
Da, als er den Weg zurückgelegt zur Hälfte,
Kam zu Sinn ihm plötzlich seines Kindes Rede;
Heimwärts kehrt er wieder, fährt so schnell’s mag gehen,
Fährt so schnell’s mag gehen, bleibt vorm Tore stehen.
„Auf, die Tür! Auf, die Tür! Komm, mein Weib und öffne!“
„Gleich, mein Lieber, Guter, gleich will ich dir öffnen,
Laß nur erst den Rock mich, den gewohnten, finden,
Laß den Rock mich finden und die Schürze binden!“
„Auf, die Tür! Auf, die Tür! Wirst du, Weib, wohl öffnen?“
„Gleich will ich, mein Lieber, gleich will ich dir öffnen,
Will nur mit den Füßen in die Stiefel schlüpfen,
Will nur um das Haar mir schnell das Kopftuch knüpfen.“
„Auf, die Tür! Auf, die Tür! Wirst du, Weib, mir öffnen!“
Was konnt’ sie da machen? Mußte schnell ihm öffnen.
„Schlüssel her, Schlüssel her, von der großen Truhe!“
„Hab’, ja den Schlüssel nicht von der großen Truhe!
Bin im Nachbarsgarten auf und abgeschritten,
Ist der großen Truhe Schlüssel mir entglitten,
Find’ ich ihn jetzt nicht gleich,
Such’ ich im Morgenschein,
Wird dann im Morgenschein
Leichter zu finden sein.“
Drauf sein Fußtritt sprengt der Truhe harz’ge Wände,
Spaltend reißt er auf die Bretter bis zum Ende.
Barcsai rollt heraus –, da kriegt er ihn zu packen,
Zieht sein Schwert und haut das Haupt ihm ab vom Nacken.
„Höre, Weib, nun höre! Hör’ mit ganzer Seele;
Zwischen drei verschied’nen Todesarten wähle:
Soll ich dir den Kopf vor deine Füße legen
Oder mit dem seidnen Haar den Estrich fegen?
Oder willst bis morgens leuchten du beim Feste,
Wenn an sieben Tischen tafeln meine Gäste?“
„Von drei Toden wähl’ ich den, daß ich beim Feste
Leuchte, wenn bis morgens tafeln deine Gäste!“
{G-574.} „Bursch, mein Bursche, komm! Komm du mein kleiner Bursch!
Bring herbei mir, bring das Pech, die große Pfanne,
Bring’ den Ballen Leinen samt den feinen Laken,
Ja, den großen Ballen, die geschenkten Laken.
Nun fangt an und legt das Weib mir fest in Binden,
Sollt vom Kopf zum Fuß mit Streifen sie umwinden,
Drauf vom Kopf zum Fuß bestreicht mit Pech die Binden,
Bei den Sohlen dann beginnt, sie anzuzünden.
Ihr zu Häupten blase Flöte ein Walache,
Ihr zu Füßen streich’ die Geige ein Zigeuner.
Blas Walache, blase die Walachenflöte!
Streich, Zigeuner, streiche die Zigeunergeige!
Blast in die Welt hinaus, spielt in das Herz hinein,
Jetzt soll mein Weib sich freu’n, jetzt soll sie lustig sein!“

                           Deutsch von Hedwig Lüdeke

Die für ihre Untreue büßende Gattin kommt in der europäischen Volksdichtung sehr häufig vor. Varianten können auch in den Gesta Romanorum nachgewiesen werden; Entsprechungen dieser Ballade lassen sich bis zu den spanischen Balladen zurückverfolgen, und Vergleiche können auch mit einzelnen Zeugnissen der osteuropäischen, besonders der russischen Balladendichtung gezogen werden, wobei aber die Verbrennungsstrafe hier selten vorkommt. Die Wurzeln dieser grausam-schönen ungarischen Ballade reichen weit bis ins Mittelalter zurück.

Nicht unerwähnt soll bleiben, daß gerade die zu diesem Kreis gehörigen Balladen bemerkenswerterweise oft Umformungen in Prosa aufweisen. Man kann verschiedene Abstufungen der Umwandlung beobachten, die bis hin zur reinen Prosa reichen, in deren Zeilen aber der Rhythmus des Verses doch noch pulsiert und sozusagen den Herzschlag des Textes fühlen läßt. Dies ist das Geheimnis einer besonderen, ungekünstelten Schönheit und zugleich ein Beispiel dafür, daß der Wandel in der mündlichen Tradition, der zuweilen abwertend „Zersingen“ genannt wird, nicht nur Kümmerformen, sondern auch in neuer Schönheit erstrahlende Gestaltungen hervorbringt. Es hat den Anschein, als würde der episch-novellistische Vortrag die Vorbedingungen für die Entwicklung zur Prosa schaffen, doch sind deren Gesetzmäßigkeiten bislang kaum untersucht worden.