Jahrmarktsballaden

Kaum älter als das 19. Jahrhundert ist die Gruppe der Jahrmarktsballaden, die angeblich wahre Begebenheiten besingen, wie Fälle von Mord aus Eifersucht, Blutrache, Habsucht, Kindsmord und ähnliches. Diesen Balladen merkt man die Herkunft von den Jahrmarktsheften noch an. Die mündliche Überlieferung hat an ihnen noch kaum ihre formende, bildende Arbeit begonnen. Mehr als einmal holpert der Rhythmus; die Darstellung und der Aufbau des Themas erinnern an die primitiven Holzschnitte und die Schaubilder der Moritatensänger. Die Moral von der Geschichte erscheint gezwungen angehängt, als fühlte man, daß die Geschichte zu schwach sei, um für ihre innere Wahrheit einzustehen.

Nani Bereg
 
Großer Wald von Debrezin, Debrezin,
Eine Amsel ist darin die Hüterin.
Auch ich hab’ dort oft herumgelegen,
Nani Beregs, meiner Liebsten, wegen.
 
{G-586.} Nani Bereg hatte Bänder in den Locken.
Damit sollst du, Nani, keinen mehr verlocken.
Heb die Bänder auf, du kannst sie nutzen,
Um den Schopf von deinem Kind zu putzen.
 
Oh, mein Gott, wie hast du mich geschlagen
Mit den aller-, allerschwersten Plagen.
Lächeln muß ich, weinen darf ich nicht,
Auch wenn mir das Herz vor Kummer bricht.
 
Naní Bereg ging unter die Eichen,
Machte sich ein Bett aus Gras, dem weichen.
„Steh auf, Nani, mach dich aus dem Staub“,
Rief ich ihr, „man sieht dich durch das Laub.“
 
Nani sprang auf, stieg aufs Pferd geschwind,
Jagte rein nach Arad wie der Wind.
Warten dort im Krug schon die Gendarmen,
Packen Nani gleich an beiden Armen.
 
Wirtin, hol mir hundert Seidel, frisch,
Stell sie den Gendarmen auf den Tisch.
Hundert Kerzen, hundert Seidel Wein,
Laß die Burschen einmal fröhlich sein.
 
Neun Gendarmen führen Nani durch die Stadt,
Ihre Mutter grad das Fenster offen hat.
„Schau nicht, Mutter, was ich muß erdulden,
Daß es soweit kam, ist dein Verschulden.“
 
Naní, Nani, was hast du gemacht?
Hast dein eignes Kindlein umgebracht.
Wie ichs konnte, muß ich selber fragen,
Muß ja darum jetzt das Eisen tragen.
 
Schwere Eisentür hat meine Zelle,
Weiß gekalkt ist drinnen meine Stelle
Dank sag ich dem edlen Komitat,
Daß mir diese große Ehr’ antat.
 
Trübe ist die Theiß, wird immer trüber,
Wozu schwimmt der Vogel auch hinüber?
Wo, an welchem Himmel steht geschrieben,
Daß ich meinen Liebsten nicht darf lieben?
 
War der Kálmán bei mir eine Nacht,
Hab ich an die Eltern nicht gedacht,
Bat ich auch nicht um des Himmels Segen,
Schmachte jetzt im Kerker hier deswegen.

Die Jahrmarktsballaden entwickeln ihr Thema holprig und setzen – wie die Historiengesänge oft – die einzelnen Bilder starr aneinander. Doch drücken sich in ihnen bereits die gefühlsmäßigen Gegensätze und Spannungen innerhalb der bäuerlichen Klassen aus, wobei im Rahmen einer Familiengeschichte oft das Bild einer ganzen Klasse {G-587.} gezeichnet wird. Diese Geschichten vermitteln nicht nur das Bild des Bauern im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, sondern deuten auch die im Werden begriffene neue Gestalt der Ballade an. Die Jahrmarktsballade kann in Ungarn auf keine so lange Vergangenheit zurückblicken wie sonst in Europa. Der Dichter János Arany, der sich lebhaft für die Volksdichtung interessierte, hörte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts solche Moritatensänger und sah ihre Schaubilder; ihr primitiver Vortrag inspirierte ihn zu einer seiner kunstvollsten Balladen. Der Verkäufer von Kalendern, Märchen- und Schauergeschichten in Versen, der seine Hefte von der Plane aus feilbot, war eine bekannte Figur auf den ländlichen Märkten in Ungarn.

Die Jahrmarktsballade ist lehrreich, indem sie zeigt, wie sie in der mündlichen Überlieferung immer schönere und reinere Formen annimmt (so in der Ballade von Klaris Szûcs), mehr noch aber, weil hier beobachtet werden kann, wie das Selbstbewußtsein der nach Individualität strebenden und sie auch erreichenden bäuerlichen Talente wächst, wenn auch noch ein langer kampferfüllter Weg auf sie wartet.

Klaris Szûcs
 
Acht Uhr Abend schlug die Kirchenglocke eben,
Alle Mädchen in die Spinnstub’ sich begeben.
Frohgemut ist Klaris Szûcs auch hingeeilt,
Doch der Himmel hat es anders eingeteilt.
 
Trüb und dunkel brach auch bald die Nacht herein,
Sollte für dich, Klaris Szûcs, die letzte sein.
Kaum hat Klaris in der Stube Platz genommen,
Ist ein fremder Bursche hin zum Haus gekommen.
 
Fragt die Hausfrau barsch ihn, was er denn hier wolle,
Daß die Klaris auf ein Wort rauskommen solle.
„Was hast du zu schaffen grad jetzt mit der Klaris?“
„Ist doch meine Liebste, ich sag’s, weil es wahr ist.“
 
Sie ging raus zum Burschen: „Was willst du mir sagen?“
Er nahm sie ins Tal mit, hat sie dort erschlagen.
Schwang der Bursch’ sein Stockbeil wild wie einen Wedel,
Traf beim zweiten Schlag sie mitten auf den Schädel.
 
„Kommt schnell, Mädchen, helft mir, schafft mich schnell von hinnen.
Weh mir, nie mehr komm ich her mit euch zum Spinnen.“
Kommen gleich die Mädchen, wollen sie aufstützen,
Doch sie fällt ins Gras hin, steht das Blut in Pfützen.
 
„Mädel, Mädel, sag ich, lernt aus meinem Los:
Ist ein Bursche neidisch, laßt ihn stehen bloß.
Laßt die Rocken liegen, höret auf zu singen,
Denn der Gang zur Spinnstub’ wird euch Unglück bringen.
 
Auch der Weg ins Tal bringt euch wie mir nur Schaden,
Bis zum Montag Morgen reißt mein Lebensfaden.
Mir aufs Grab ein schönes Kreuz aus Eichholz macht,
Schreibt drauf: Jedes Mädchen nehme sich in acht.“

{G-588.} Auf diesem Gebiet kann eine seit mehr als einem Jahrhundert anhaltende Entwicklung beobachtet werden. Schon aus der Korrespondenz zweier führenden Literaten des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, Ferenc Kazinczy und Ádám Pálóczi Horváth, weiß man von einem lateinische Verse machenden Schäfer; auf die schöpferische und dichterische Kraft des Bauern wurde man aber erst etwas später aufmerksam. Seitdem kennt man eine ständig wachsende Anzahl von ganz oder halbbäuerlichen Dichtern, die versuchten, in teils aus den Jahrmarktsheften, teils aus der mündlichen Überlieferung geschöpften Wendungen – den Ansprüchen ihrer Hörer gemäß – aufregende Vorfälle in Reime zu bringen. Es ist ein langer Weg, bis aus diesen in der Weise der Historiensänger deklamierenden, oft selbst Wendungen Tinódis benutzenden schwerfälligen Reimeschmieden Dichter werden, die Töne für den tiefsten Schmerz des Volkes finden.