Das Volksmärchen


Inhaltsverzeichnis

Abb. 211. Kampf eines ungarischen Kriegsmanns mit dem zwölfköpfigen Drachen.

Abb. 211. Kampf eines ungarischen Kriegsmanns mit dem zwölfköpfigen Drachen.
Aufgerollte Zeichnung eines Hirtenhorns.
Kom. Tolna, 19. Jahrhundert

Das ungarische Wort für Märchen, mese, ist ein uraltes Erbwort aus der ugrischen Zeit. Die Wurzel findet sich gleicherweise bei den Wogulen und den Ostjaken und bedeutet „Märchen“, „Sage“. Der Buchstabe -e am Ende des Wortes ist entweder ein Possessivsuffix oder ein Diminutivum, das erst hinzukam, als die ungarische Sprache bereits ihr Sonderleben führte. Zuerst taucht es am Ende des 14. Jahrhunderts auf und bezeichnet eine Rätselgeschichte oder Rätselfrage, was gleichzeitig das große Alter jener Gattung bezeugt. Im 15. Jahrhundert kommt das Wort schon allgemeiner vor in der Bedeutung „erzählte, erfundene Geschichte, Parabel, Aenigma“. Im Wörterbuch von Murmelius (1533) lautet die Übersetzung von fabula noch „beszéd“ (Rede) und wird so von der historia unterschieden, die der Verfasser {G-597.} mit „lött dolog“ (geschehene Sache) übersetzt; die „lügnerische“ fabula und die „wahre“ historia sind also zwei verschiedene Sachen. Die Bedeutung des Wortes „mese“ als Märchen bildet sich dann im 18. Jahrhundert heraus. Die Bedeutungsentwicklung des ungarischen Wortes „mese“ und seine Absonderung von den anderen Gattungen folgt im allgemeinen der in den europäischen Sprachen üblichen Art.

Vor einer Behandlung der wichtigsten Probleme des ungarischen Volksmärchens lohnt es sich, seine Hauptformen wenigstens in großen Zügen kennenzulernen, um seine Geschichte, seine Verbindungen und seine gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten am lebenden Material besser erfassen zu können.

269. Titelblatt eines Jahrmarktbüchleins

269. Titelblatt eines Jahrmarktbüchleins
(Wie der Landser den Teufel betrog)

Wenn wir in den ungarischen Volksmärchen blättern oder als Sammler in einem Dorf, wo die Kunst des Erzählens noch lebendig ist und stundenlang ausgeübt wird, uns zum Erzähler setzen, um all die Abenteuer und Geschichten anzuhören, werden wir zunächst darüber erstaunt sein, daß in diesen Märchen niemals etwas Unglaubliches vorkommt und daß alles an seinem Platz und so ist, wie es sein soll. Dies klingt zunächst eigenartig, ist aber tatsächlich so. Nur Uneingeweihte oder außerhalb des Zauberkreises der Märchen stehende Personen können die Abenteuer der kleinen Schweinehirten und der Prinzessinnen als unmögliche Wunder ansehen. Für den skeptischen und nur in Begriffen der realen Welt denkenden Zuhörer erscheinen natürlich die Abenteuer des flüchtenden Liebespaars, das sich in einen See und eine schwimmende Wildente verwandelt, die Irreführung der bösen Verfolger, der in ein Reh verwandelte Prinz, die Zauberburg und die von Drachen entführten Prinzessinnen als durchaus unglaubwürdige Phantasterei, als Wunder. Und doch beobachtet man nie, wenn man diese Märchen hört oder sich beim Lesen in sie hineinlebt, hinsichtlich dieser wunderbaren Dinge eine besondere Betonung oder {G-598.} einen Hinweis auf das Wunderbare. Im Märchen ist das Wunder im Munde des Volkes ein natürliches Element der Geschichte, das sich auf literarischem Niveau nur in ein besonderes mystisches oder romantisch betontes Detail verwandelt.