Schildbürgergeschichten

Die Schildbürgergeschichten, deren Zielscheibe ein Ort ist, nehmen nur 4,5 Prozent des ungarischen Märchengutes ein. Ihr Platz ist zwischen den Märchen und den Sagen, und sie enthalten auch übernatürliche Elemente. Ein kleinerer Teil erzählt tatsächlich vorgekommene Ereignisse, wieder ein anderer internationale Wanderthemen. Solche Schildbürgergeschichten bleiben oft jahrhundertelang an ein und demselben Dorf, einer Stadt oder einer Gegend haften. Ihre knappe epische Struktur wird meist durch ein einziges Motiv hergestellt. Sie werden in der Regel nicht an Märchenabenden weitläufig erzählt, sondern in den Ruhepausen der Arbeit oder beim Anekdotenerzählen vom Spaßmacher der Gesellschaft zum besten gegeben. Es kommt auch vor, daß {G-607.} eine solche ein Dorf verspottende Geschichte den Ursprung einer allgemein gebrauchten Redensart erklärt. Die meisten Märchen oder Anekdoten dieser Art knüpfen sich an das Dorf Rátót im Komitat Veszprém, weswegen sie in der ungarischen Fachliteratur als Rátótiaden bekannt sind. So verspottet das folgende Märchen (AaTh 1287) den Schulzen von Rátót:

da sprach der Dorfschulze:

„Zuvor wollen wir zählen, ob wir noch alle zehn da sind oder ob der große Baumstamm etwa einen von uns ins Wasser gezogen hat.“

Er begann zu zählen und kam bis neun, sich selbst vergaß er zu zählen. Er zählte noch einmal und noch einmal, vielleicht fünfmal, immer waren es neun. Da schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, blickte zum Himmel und begann zu jammern:

„O je, einen von uns hat das Wasser mitgerissen! Weh mir, was soll ich jetzt tun, ich bin für alle zehn verantwortlich! Wenn einer ertrunken ist, gehe ich auch nicht mehr nach Hause.“

Nun begannen auch die anderen zu zählen, aber sie zählten ebenfalls neun. Da beteuerten auch sie, sie gingen nicht nach Hause; sie seien verantwortlich, sie hätten den Vorschlag gemacht, den Baum im Wasser zu tränken. Schließlich raffte sich der zehnte, der noch nicht gezählt hatte, auf und meinte:

„Wißt ihr was? Wir werden hier den Lehmboden glattstreichen und alle unsere Nasen hineindrücken, dann können wir die Löcher zählen und wissen, wie viele wir sind.“

Gesagt – getan, sie legten sich auf den Bauch und drückten ihre Nasen tief in den Boden. Sie zählten die Löcher, und siehe da, es waren zehn. Da sprangen sie vor Freude in die Höhe:

„Alle sind da, alle zehn, alle zehn sind da!“

Beruhigt gingen sie nach Hause, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie dort noch heute.

Der Rechenfehler, bei dem der Rechner sich selbst ausläßt, ist ein sehr verbreitetes Motiv der Rátótiaden (Schildbürgerstreiche). Man kennt es in West- und Nordeuropa, es wurde in Rußland ebenso wie in Indien und Indonesien aufgezeichnet. Solche Wandermotive passen sich leicht den lokalen Umständen an.