Legenden

Die systematische Sammlung der Legenden ist noch eine Aufgabe der ungarischen Folkloristik. Immerhin machen sie bereits jetzt 12,5 Prozent des bekannten ungarischen Märchengutes aus. Man pflegt sie im allgemeinen in zwei Gruppen zu teilen. Zur ersten gehört die moralisierende märchenhafte Legende, deren Quellen Kirchenpredigten und die religiöse Jahrmarktsliteratur sind; die zweite besteht aus den schwankhaften Christuslegenden, die meist mittelalterlichen Ursprungs sind oder der Volksdichtung entstammen. Die billigen religiösen Jahrmarktshefte verbreiteten nicht nur die offiziellen Legenden der katholischen Kirche, sondern auch viel Apokryphes aus dem Mittelalter sowie Geschichten und Parabeln, die anregend auf die verschiedenen Sekten der jüngeren Vergangenheit wirken sollten. {G-608.} So erscheint die Gestalt Christi bei weitem nicht so eindeutig wie König Matthias oder der Held der Zaubermärchen. Dasselbe gilt für die sich aus den Legenden ergebende Moral, die sich meist stark von der christlichen Lehre der Duldsamkeit, der Selbstverleugnung und der Verachtung der irdischen Güter unterscheidet und eher bäuerliche Nüchternheit verrät, wie die folgende Legende zeigt (BN 779 XI* MNK 750 B II*):

Christuslegende

Als Jesus Christus noch auf der Erde weilte, geschah es einmal, daß er nach einem langen Fußmarsch mit Petrus sehr müde und hungrig war. In der weiten Pußta sahen sie kein einziges Gehöft, in das sie hätten einkehren können. Als Petrus sich so umsah, sprach er plötzlich zu Jesus Christus:

„Herr, dort hinten sehe ich eine Schafhürde, gehen wir in diese Richtung, vielleicht finden wir ein Lebewesen.“

Sie gingen und gingen, bis sie schließlich zu der Schafhürde kamen. Ein armer Schäfer wohnte hier, der die Schafe seines Gutsherrn hütete. Sie begrüßten ihn, er empfing sie freundlich, bot ihnen einen Platz an, und sie begannen sich zu unterhalten. Doch Jesus Christus war schon sehr hungrig, und er sprach zum Schäfer:

„Du armer Mann, gib uns etwas zu essen, wir sind sehr hungrig!“

Der arme Schäfer überlegte, was er seinen Gästen anbieten solle. Er hatte nichts außer einem Stückchen trockenen Brotes und einem kleinen Lämmchen. Die Schafherde seines Gutsherrn war zwar groß genug, doch davon wagte er kein Schaf zu schlachten, denn er fürchtete den Zorn seines Herrn und bedachte sehr wohl, daß die Tiere nicht ihm gehörten. Und er grübelte: Herrgott im Himmel, soll ich mein Lämmchen schlachten? Oder soll ich es nicht schlachten? Wenn ich es schlachte, habe ich nichts mehr. Wenn ich es nicht schlachte, hilft es mir auch nicht sehr weit. Ach, ich werde es schlachten!` Und er Zog sein Messer mit dem verzierten Griff aus dem Stiefelschaft, ergriff das kleine Lämmchen, schlachtete es und bereitete ein Lammsgulasch.

Als das Essen fertig war, setzten sich Jesus und Petrus zum Kessel und begannen zu essen, sie aßen mit gutem Appetit. Der arme Schäfer beobachtete sie nur und wartete, ob sie ihm etwas übriglassen würden, denn auch er war hungrig. Aber es blieb nichts, nicht einmal ein Kosthappen; sie verspeisten das ganze Fleisch im Kessel. Als sie mit dem Essen fertig waren, sprach Jesus zu Petrus:

„Petrus, sammle alle Knochen bis zum kleinsten Stückchen!“

Petrus tat, wie ihm geheißen, sammelte die Knochen auf, und Jesus steckte sie in den Ärmel seines umgehängten Mantels. Abends, als der Schäfer schon schlief, ging Jesus zur Hürde und streute die Knochen unter die Schafe. Da wurde aus jedem Knochenstückchen ein Schaf, und jedes trug das Brandzeichen des Schäfers.

Als das geschehen war, verließen Jesus und Petrus die Hürde und gingen ohne ein Wort ihres Weges.

Am anderen Morgen, als der Schäfer erwachte und zu den Schafen in der Hürde ging, sah er viele fremde Schafe unter ihnen, gar dreimal so viele wie die seines Gutsherrn, und das sonderbarste daran war, sie trugen alle sein Brandzeichen. Er konnte sich nicht erklären, wie das möglich war, besaß er doch kein einziges Schaf; das letzte Lamm hatte er gestern für seine Gäste {G-609.} geschlachtet. Er suchte seine Gäste und fand ihren Platz verlassen. Da wußte er, daß ihm niemand anderer als Gott allein die Schafe geschenkt hatte. Und er gelobte, von jetzt an allen Bedürftigen, solange er auch nur den Wert von einem einzigen Kreuzer besaß, zu helfen.