Inhaltliche und formale Fragen des Volksmärchens

Es sollen nunmehr die geschichtlichen, inhaltlichen, sozialen und funktionalen Probleme des ungarischen Volksmärchens etwas näher betrachtet werden.

Hinsichtlich der Lösung historischer Problematik kann der Märchenforscher in mehreren Richtungen vorgehen. Manche haben es sich zur Aufgabe gemacht, festzustellen, ob im ungarischen Volksmärchengut eine Schicht existiere, die ausschließlich für die ungarischen Märchen kennzeichnend ist beziehungsweise auf östliche Verbindungen aus der Zeit vor der ungarischen Landnahme hinweist. Gibt es eine solche Schicht, und kann sie von den westeuropäischen, allgemein bekannten Märchentypen, Motiven und vielleicht auch Formen abgegrenzt werden? Natürlich betrachtete die frühromantische Anschauungsweise den größeren Teil der Märchen als unveräußerliches nationales Eigentum. Aber auch nach vielen vergleichenden Untersuchungen und Diskussionen kann kaum ein endgültiges Urteil gefällt werden. Immerhin ist man zu der Einsicht gekommen, daß einige der schamanistisch-religiösen Motive noch in der Zeit vor der Landnahme Eingang in die Volksmärchen gefunden haben und daß diesen entsprechende oder verwandte Motive im westlichen Märchengut nicht vorkommen. So muß man wohl die sogenannte „östliche“, schamanistische Schicht der ungarischen Volksmärchen als den ältesten Teil betrachten. Als ein solches schamanistisch-religiöses Motiv wurde das in den ungarischen Märchen häufig vorkommende Zauberschloß angesehen, dem widerspricht aber, daß dasselbe Motiv in osteuropäischen, hauptsächlich russischen Märchen häufig vorkommt. Aber auch in der keltischen Epik tritt das Motiv der sich drehenden Burg schon sehr früh auf, und andere westeuropäische Analogien weisen auf eine weite Verbreitung desselben Motivs hin. Die neuere Forschung kommt nun zu dem Schluß, daß man hier nicht von einem isolierten Motiv sprechen kann, sondern daß in den ungarischen Volksmärchen – wohl in genetischem Zusammenhang – mehrere Motive und Elemente schamanistischer Zeremonien beziehungsweise mit dem schamanistischen Ritus verbundene Vorstellungen und Erzählungen anzutreffen sind. Vor nicht langer Zeit hat ein sowjetischer Forscher beobachtet, wie Elemente aus der Glaubenswelt aus dem Bereich des schamanistischen Ritus Eingang in Märchenerzählungen gefunden haben. Solange diese Riten mit dem {G-611.} Anspruch auf Authentizität auftraten und für die Bevölkerung verbindlich waren, gelangten die mit ihnen zusammenhängenden Geschichten nicht unter die Märchenerzählungen. Als sich aber ihre gesellschaftliche Glaubwürdigkeit und Gültigkeit zu zersetzen begann und später ganz aufhörte, gelangten ihre Elemente und Motive schrittweise in die lediglich zur Unterhaltung erzählten märchenhaften Geschichten. Immer mehr ungarische Geschichten aus der Glaubenswelt zogen so in die Welt der märchenhaften Epik ein. Diese Entwicklung kann als gesetzmäßig angenommen werden; sie wiederholt sich in verschiedenen geschichtlichen Epochen: Der Ritus und das religiöse, glaubensbezogene Element gehen in die nicht glaubwürdigen märchenhaften Geschichten über.

Im folgenden wird – natürlich nur sehr skizzenhaft – auf einige Züge der komplizierten geschichtlichen Entwicklung hingewiesen. Die ältesten und genetisch miteinander zusammenhängenden Elemente der ungarischen Märchen dürften also von den schamanistischen Riten der Zeit vor und während der Landnahme stammen. Als solche Märchenmotive können der himmelhohe Baum, das sich auf einem Entenfuß drehende Schloß, die Motive der Lehrzeit und der Proben des schamanischen (des Zauber-) Lehrlings, die Zerstückelung des Märchenhelden und seine Wiederbelebung mit dem formelhaften Seufzer „Ach, wie tief hab ich geschlafen“, eventuell auch der die Welt durchleuchtende Spiegel (das heißt der schamanistische Zauberspiegel) angesehen werden, obwohl, man weiß, daß dieses letztere Motiv auch in den Gesta Romanorum vorkommt. Natürlich berühren sich diese Motive oft genug mit anderen märchenhaften Motiven aus einem anderen Kreise; dennoch erlauben sie aufgrund dessen, daß sie in Märchen verwandten Typs folgerichtig vorkommen, die Annahme, daß sie Überbleibsel älterer schamanistischer Riten und religiöser Konzeptionen sind.

Wenn es, wie gesagt, manchmal auch schwer ist,. diese Motive von anderen, ebenfalls bekannten zu isolieren, so ist es noch schwerer, die einzelnen Märchenformeln auseinanderzuhalten. So findet sich die oben zitierte Formel „Ach, wie tief hab ich geschlafen“ auch außerhalb des Kreises der schamanistischen Riten; allerdings kann unsere Vermutung über die Herkunft dadurch gestützt werden, daß diese Elemente nicht zufällig und nicht verstreut vorkommen.

Eine schwere Aufgabe ist es, die einleitende Formel des Märchens „Hol volt, hol nem volt“ (etwa: Es war einmal oder auch nicht) mit der ältesten Schicht des ungarischen Märchenvortrags in Zusammenhang zu bringen. Einzelne Autoren betrachten diese Formel als slawischen Ursprungs, andere betonen, daß dieser Märchenbeginn im kaukasischen (mingrelischen, grusinischen, armenischen usw.) sowie im seldschukisch-türkischen Märchengut häufig sei und sich von diesem her zufälligerweise auch anderswo verbreitet habe. Während also diese Formel in den türkischen, kaukasischen und ungarischen Märchen gesetzmäßig ist, kommt sie anderswo nur zufällig vor, so daß sie ebenfalls zum ungarischen Märchengut von vor der Landnahme gehört haben muß.

Hier lassen sich auch noch andere stereotype Märchenformeln erwähnen {G-612.} wie die Frage „Hol jársz, ahoi a madár se jár“ („Wie kommst du her, wo sich nicht einmal ein Vogel hin verirrt?“) und die Antwort „Szerencséd, hogy öreganyádnak szólítottál!“ („Dein Glück, daß du mich Großmutter genannt hast!“), die die angesprochene hilfreiche alte Zauberin dem Märchenhelden gibt. Diese Formel wird übrigens von einzelnen Forschern als eine Erinnerung an das Matriarchat betrachtet.

Dies ist so ziemlich alles, was bisher über den ältesten und von den westeuropäischen Märchen am stärksten abweichenden Teil des ungarischen Volksmärchens gesagt werden kann und diese Abgrenzung bietet noch Diskussionsstoff. Immerhin kann man die aufgezählten Motive und Formeln als zu einer zusammenhängenden und an die schamanistische Kultur der Ungarn erinnernden Gruppe betrachten.

In seinem großen Werk über das Volksmärchen widmet Stith Thompson auch dem ungarischen Volksmärchen einige Worte. Es scheint, als ob er im ungarischen (wie im tschechischen und südslawischen) Volksmärchen nur die unverkennbar germanischen Züge für bedeutend hielte, obwohl er auch auf den Platz der ungarischen Volksmärchen zwischen den östlichen und westeuropäischen Märchengebieten hinweist. Das Märchengut eines Volkes in einer kurzen Übersicht zu beschreiben, ist ziemlich schwer, und selbst einige kennzeichnende Züge hervorzuheben, die in erster Linie nur für dieses besondere Märchengut gültig sind, ist nicht leicht. Im eurasischen Märchengut können größere Märchengebiete voneinander abgesetzt werden, und es unterliegt keinem Zweifel, daß der Platz des ungarischen Volksmärchens unter den osteuropäischen Märchen zu suchen ist. Und doch hat hier und da auch das ungarische Volk eine ältere Erbschaft in seine Volksmärchen einbezogen. Die ursprünglich ugrofinnischen Ungarn haben sich schon im Jahrtausend vor der Landnahme mit türkischen Stämmen vermischt, und der Grundcharakter ihrer Kultur ist durch diese uralte Ambivalenz bestimmt. Ebenso sicher ist es, daß die Ungarn bis zum Einzug in ihre jetzige Heimat innerasiatischen, kaukasischen und iranischen Kultureinflüssen ausgesetzt waren, mit der altslawischer und byzantinischen Kultur in Berührung kamen und nach 896 n. Chr. sich zu einem sensiblen, Kulturen verbindenden Knotenpunkt zwischen Ost und West entwickelt haben. All das kompliziert nämlich die ungarische Kultur und damit die Kultur des ungarischen Bauerntums, andererseits befähigt sie sie aber, zahlreiche widersprüchliche Elemente zusammenzufassen und in sich zu vereinigen.

Die ungarischen Volksmärchen stehen tatsächlich an der Grenze zwischen der osteuropäischen und der westeuropäischen Märchenwelt, und ihr Farbenreichtum ist in nicht geringem Maße ebendiesem Umstand zu verdanken. Es gibt Märchen, die Anlaß böten, zahlreiche historische und kulturelle Schichten freizulegen: In einem einzigen Märchen können sich Elemente verschiedener Jahrhunderte und kultureller Strömungen treffen. Wenn also von den eigenständigen Zügen der ungarischen Volksmärchen die Rede ist, muß neben dem, was über die Art ihres Vortrags und ihre stilistischen Züge gesagt worden ist (wobei natürlich ständig die ähnlichen Züge im Märchengut anderer Nationen im Auge behalten werden müssen!), vor allem und {G-613.} als Hauptkennzeichen ihr Platz zwischen Ost und West hervorgehoben werden. Die geographische Lage, die komplizierten geschichtlichen und ethnischen Verbindungen sind die Hauptgründe der Vielschichtigkeit und des Reichtums der ungarischen Volksmärchen. Und schließlich soll man nicht die schon erwähnten schamanistischen Elemente in den Märchen vergessen, die nicht mit der geographischen Lage der Ungarn zwischen den germanischen und slawischen Völkern erklärt werden können, sondern allein aus der frühgeschichtlichen Vergangenheit und älteren ethnischen Zusammenhängen erklärbar sind.

Nach der inhaltlichen Seite des Märchens soll nun des näheren untersucht werden, wie sich die einzelnen gesellschaftlichen Schichten zur Gewohnheit des Märchenerzählens verhielten und verhalten. Es gibt Aufzeichnungen, daß noch im 18. Jahrhundert die jungen adligen Herren und Fräulein sich häufig Märchen erzählten. Man weiß auch, daß es in bürgerlichen Kreisen ebenfalls üblich war, Märchen und scherzhafte Geschichten zu erzählen. Vor der Kirche hörte man im 13. bis 16. Jahrhundert den „gottlosen Spaßmachern“ zu. Ferner gibt es Angaben aus dem 18. Jahrhundert, daß während der langen und schweren Jahre des Militärdienstes die kleinen Zwangsgemeinschaften der Mannschaft eines Regimentes oder einer Zimmerbelegschaft im Märchenerzählen Trost fanden. Während der abendlichen Ruhestunden wurden bis weit in die Nacht hinein Märchen erzählt. Einer nach dem anderen kam an die Reihe, und wer dazu nicht imstande war, wurde gewissen beschämenden Zeremonien unterworfen. Auch wußte man dem Erzähler zu verstehen zu geben, ob sein Märchen die Hörer interessierte oder nicht und ob es nicht besser wäre, aufzuhören. Wenn der Erzähler in fragendem Ton „Knochen?“ einwarf und die Antwort „Fleisch“ oder „Scherbe“ lautete, konnte er fortfahren; wenn geschwiegen oder nur einsilbig geantwortet wurde, mußte das Märchen abgebrochen werden.

1938 erinnerte sich der 86 Jahre alte Mihály Fedics, wie in seiner Jugend in der Nyírség Märchen erzählt wurden: „Früher gab es keine Lampen, in der Spinnstube leuchtete nur das Feuer im Kamin, um den die Frauen saßen … Auch die Männer kamen zusammen. Jeder faltete seinen Flauschmantel zusammen, legte ihn auf den Boden und setzte sich darauf, andere breiteten ihn aus und legten sich bäuchlings darauf. Sie sangen und erzählten dort auf dem Boden sitzend. Es herrschte Stille. Ich hörte meist in einem Winkel zu und behielt so alles in meinem Kopf. Die Männer erzählten; es gab solche, die sagten Na, jetzt erzähle ich!` Wenn der eine fertig war, fand sich ein anderer, oder wenn sich keiner meldete, zeigte man auf einen und sagte ,Nun erzähl du!‘ Als wir beim Roden Holz schlugen, habe ich nicht nur erzählt, sondern auch gelernt zu erzählen. Dort gab es eine große Hütte. Darin hatten wir an die siebzig Platz. In dieser Hütte wurde die ganze Nacht erzählt. Manchmal rief der Erzähler ,Knochen! ‘, und wenn man antwortete ,Scherbe!‘, dann setzte er seine Erzählung fort; wenn aber nur zwei oder drei antworteten, dann hörte er auf, denn während seiner Erzählung war der eine oder der andere eingeschlafen, da sie ja den ganzen Tag gearbeitet hatten. Ich aber konnte kein Auge schließen, selbst wenn man wochenlang erzählt hätte …“ Diese Erzählung des {G-614.} begeisterten Märchenschülers und Märchenerzählers ist – wenigstens in großen Zügen – eine authentische Beschreibung der Erzählgewohnheiten während und nach der Arbeit, die eine wohl für ein bis zwei Jahrhunderte zurückgehende Gültigkeit hat.

Es ist allgemein bekannt, daß man ein Volkslied einfach vor sich hin singen kann. Ein Volksmärchen dagegen erfordert zumindest eine kleine lebendige Zuhörergemeinschaft. Für sich allein wird niemand Märchen erzählen. Darum ist das Verhältnis von Zuhörerschaft und Märchenerzähler von größter Wichtigkeit, denn dieses Verhältnis bestimmt die Existenz, die Art der Überlieferung, der Wiedererzählung und der künstlerisch-vortragsmäßigen Neuschöpfung des Märchens. Die guten Märchenerzähler erzählen auch nicht gerne vor nur ein oder zwei Zuhörern. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß es dem Vortrag und dem stilistischen Glanz des Märchens schadet, wenn der Märchensammler unter vier Augen den Erzähler ausfragt, der so, ohne eine teilnehmende, durch Zwischenrufe Gefallen oder Mißfallen äußernde, lachende oder erregt zuhörende Zuhörerschaft sein Können nicht entfalten kann.

So richtig lebt das Volksmärchen nur dort, wo man im Kreise einer kleineren dörflichen Gemeinschaft dem Erzähler gern zuhört und wo der Erzähler mit Dank belohnt, aber auch mit Kritik bedacht wird. Eine interessierte Zuhörerschaft regt den Märchenerzähler zu schönerem, die Konkurrenten zum Wettbewerb herausforderndem Vortrag an, und das hat seine Wirkung auf die Formung und Bereicherung des Märchens durch Einflechten neuer Motive. Dies ist also der eine Weg, das überlieferte Märchengut fortzubilden und abzuwandeln; und die Zuhörerschaft hat so ihren Anteil an den Veränderungen. Gleichzeitig kontrollieren aber die Zuhörer mit kritischen Bemerkungen, ob der Erzähler auch richtig erzählt; Neuerungen mögen sie nicht immer, sondern fordern die Rückkehr zu der alten, überlieferten Form.

So wie die ungarischen, haben auch zahlreiche andere europäische Forscher beobachtet, wie die Zuhörerschaft beim häufigen Anhören eines Märchens an der Gestaltung einer sich festigenden Form teilnimmt. Beim Märchenerzählen kämpfen immer wieder zwei gegensätzlich wirkende Kräfte miteinander: der Trieb des Märchenerzählers zur Neuschöpfung auf der einen Seite (oft erwarten auch die Zuhörer das Neue und fordern es) und auf der anderen Seite das Beharren der Zuhörer auf der überlieferten Form.

Eine Untersuchung hat ergeben, daß größere oder kleinere Erzählgemeinschaften fast das ganze bäuerliche Leben hindurch bestehen. Man kennt Gemeinschaften, die sich auf die Familie beschränken; die Eltern, noch häufiger die Großeltern erzählen den Kindern. Interessanterweise ist es an einzelnen Orten üblich, daß der junge Ehemann seiner Frau erzählt. Beim Märchenerzählen für Kinder spielt neben den Großeltern vor allem die Mutter eine bedeutende Rolle.

271. Titelblatt eines Jahrmarktbüchleins

271. Titelblatt eines Jahrmarktbüchleins
(Räubergeschichte)

Beim Märchenerzählen in ländlichen Gegenden muß man einzelne Gelegenheiten und Gemeinschaften unterscheiden. In den Dörfern können sich Märchenerzählgemeinschaften leicht bei verschiedenen Arbeitsgelegenheiten bilden. Sogar nachts nach der schweren Erntearbeit wurden noch Märchen erzählt, aber auch beim Bündeln {G-615.} des Tabaks, beim Maisrebeln, bei den Arbeiten auf dem Feld und im Weinberg, beim Ausruhen der Holzhacker abends nach der Arbeit. Die beste Zeit zum Märchenerzählen sind die langen Winterabende. Ende des vorigen und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts erzählten die Alten mit Vorliebe in den Spinnstuben zur Zerstreuung des jungen Volkes, das sich zwischendurch auch mit Gesellschaftsspielen und Gesang Abwechslung schuf. Außerdörfliche Märchenerzählgemeinschaften fanden sich in erster Linie bei den Hirten und Fischern, sodann beim Militär und bei Gruppen von Arbeitern, {G-616.} die sich zu Bauarbeiten in der Stadt verdingten, ebenso kennt man Märchenerzählerkreise bei den Industriearbeitern, in den Gesellenherbergen und den Werkstätten der ländlichen Kleinhandwerker.

Diese Märchenerzählgemeinschaften unterscheiden sich auch darin, daß die einen Dauercharakter besitzen, und wenn sie sich auch von Zeit zu Zeit auflösen, so bilden sie sich immer wieder von neuem; die anderen sind Zufallsgebilde, die sich fallweise auf kürzere Zeit zusammenfinden. Diese zwei Typen üben einen unterschiedlichen Einfluß auf die Art der Märchenüberlieferung aus. Die Stabilität, die Wiederholung der Typen und Strukturen und ihre verhältnismäßige Beständigkeit sind den dörflichen Zuhörergemeinschaften zu verdanken, während die außerdörflichen das Verdienst haben, immer neue Elemente und märchenhafte Inhalte in den ländlichen Märchenschatz einsickern zu lassen.

Zu den Eigenheiten der ungarischen Erzählgemeinschaften gehört es, daß es für gewisse Märchenarten regelrechte Spezialisten gibt. Ein Märchenerzähler zieht erotische Scherzerzählungen, ein anderer religiöse oder Zaubermärchen vor, und die Zuhörerschaft verlangt ebendiese Spezialitäten von ihnen. Es gibt Erzähler, die es meisterhaft verstehen, in das Märchen aktuelle Anspielungen einzuflechten, die zu Zwischenrufen und scherzhaften Bemerkungen Anlaß geben. Solche Momente des Märchenerzählens werden erst neuerdings beachtet und aufgezeichnet. Der Anspruch der Zuhörer veranlaßt den Erzähler, die Formen und strukturellen Züge seiner beliebtesten und gelungensten Märchen besonders plastisch herauszuarbeiten und die effektvollsten Motive recht farbig zu bringen, womit er auch erreicht, daß sich die Märchen den Zuhörern besser einprägen. Anderseits üben diese Zuhörergemeinschaften lebhafte Kritik an schlechtem Vortrag und dulden keine Anfänger und schlechte Erzähler. Man weiß auch, daß gewisse Zuhörergemeinschaften – und das gilt hauptsächlich für die gelegentlich gebildeten: Holzhacker, Soldaten, Fischer und Hirten – sich Märchen gern tagelang, wenn auch mit Unterbrechungen, anhören. Dies bringt verständlicherweise ihre Lage mit sich. Bei solchen Gelegenheiten sind die Erzähler regelrecht bemüht, ihre Märchen so lang wie möglich auszudehnen und auszuschmücken (dies ist auch bei den sibirischen Brodjagas so), und das übt einen unmittelbaren Einfluß auf den Text, die Entwicklung und die Überlieferungsart der Märchen aus.

Jahrmärkte, Wanderungen, Verdingung zu Arbeiten in anderen Teilen des Landes und im Ausland sind die besonderen Gelegenheiten, bei denen gern Märchen erzählt werden. Um die Jahrhundertwende und zu Beginn unseres Jahrhunderts gerieten ungarische Märchenerzähler wiederholt in neue Zuhörergemeinschaften und wurden mit immer neuen Märchenerzählern und Themen bekannt. Verbindungen dieser Art, Berührung über ethnische und sprachliche Grenzen hinaus bringen so häufig sprunghafte „Wanderungen“ von Märchentypen mit sich.

Mindestens so stark wie die nachweisbare mittelbare und unmittelbare Einwirkung der Zuhörergemeinschaften auf die Texte und die {G-617.} Überlieferung der Märchen ist die von den Märchenerzählern ausgehende. Man sieht immer klarer, daß Zuhörergemeinschaften sich nur dort bilden und von Dauer sind und daß die Gewohnheit des Märchenerzählens nur dort blüht, wo ein begabter Märchenerzähler im Mittelpunkt steht. Im Verlauf unserer eigenen Sammlertätigkeit haben wir immer wieder festgestellt, daß in Dörfern und Gemeinden das Volksmärchen, die Prosa des Volkes, sich nur dort entwickelt und blüht, wo das Erzählen von Volksmärchen noch im Schwang ist, und das ist nur dort der Fall, wo es begabte Märchenerzähler möglichst verschiedener Eigenart gibt. Ähnliche Beobachtungen von früher und im Ausland bestätigen dies. Ähnlich wie im literarischen Leben sucht eine Fülle mittelmäßiger, unbedeutender, epigonenhafter „Nacherzähler“ es den hervorragenden Schöpfern gleichzutun.

Es muß unser Bestreben sein, das ganze Wissen möglichst vieler Märchenerzähler zu sammeln und aus diesem reichen Stoff die Natur der Überlieferung zu erforschen und die Gesetzmäßigkeiten der schaffenden und zerstörenden Vorgänge beim Nacherzählen aufzudecken. Es stimmt nämlich durchaus nicht, daß die mündliche Überlieferung, wie es viele behauptet haben, nur zerstört. Unsere Erfahrung weist vielmehr darauf hin, daß zum Beispiel ein Märchen oder eine Ballade dann an Wert zu verlieren beginnt, wenn sie vom Publikum nicht immer wieder erzählt oder rezitiert wird und sie sich nur noch in der immer unsichereren Erinnerung einiger weniger erhält. Aus der Überbewertung der Aufzeichnungen, die immer nur ein Stadium der Entwicklung festhalten, ergab sich die irrige Auffassung vom „Zersingen“ der Texte, die in mehreren Varianten fortleben.

Während unserer eigenen Sammlertätigkeit haben wir in zahlreichen Fällen die Erfahrung gemacht, daß die fragmentarisch, skizzenhaft, ja geradezu schlecht erzählten Märchenvarianten aufs engste mit ihren Erzählern verbunden sind; und wenn man dieselben von einem wirklich begabten, vom Publikum meistgeschätzten und immer als erstem eingeladenen Erzähler wieder hört, dann erwacht das „zersprochene“ Märchen zu neuem Leben und blüht vor uns in neuen Farben auf. Hier wären die in den letzten Jahrzehnten gesammelten Märchen zu nennen, die in der Originalform ohne jegliche nachträgliche literarische Glättung zahlreiche Nachlässigkeiten aufweisen: Sie warten geradezu auf den begabten Nacherzähler.

Auch das konnte festgestellt werden, daß ein und derselbe Märchenerzähler ein und dasselbe Märchen – auch innerhalb einer kurzen Zeitspanne – unterschiedlich, bald angereichert, bald weniger ausgeschmückt vorträgt.

Über die ungarischen Märchenerzähler kann man erst aufgrund neuester Forschungen nähere Angaben machen. Der Märchen-, Lieder- und Balladensammler János Kriza erinnert sich bereits im Jahre 1863 liebevoll einiger Szekler Märchenerzähler, und er erwähnt auch ihre Namen, aber mehr wissen wir nicht von ihnen. Im selben Jahr schrieb Ágost Greguss, ein ausgezeichneter Erforscher der ungarischen Volksballade, in einem seiner Artikel: „Viel hängt auch davon ab, ob man ein Märchen von einem hervorragenden oder einem ungeschickten Märchenerzähler hört. Deshalb sollten die Sammler bemüht sein, {G-618.} vorzügliche Märchenerzähler zu suchen“. Das richtig erkannte Grundprinzip kam jedoch lange Zeit nicht zur Anwendung.

Die guten Märchenerzähler kommen zumeist aus der Schicht der ärmsten Bauern und des Agrarproletariats; dies wird auch durch viele einschlägige Angaben aus dem Ausland bewiesen. Das Märchenerzählen war den dörflichen Sitten gemäß unter der Würde eines wohlhabenden, angesehenen Bauern, der sich solche Märchen auch kaum anhörte. Es war eine seltene Ausnahme, wenn ein wohlhabender Bauer erzählte, und dann beschränkte er sich auch meist auf die eine oder andere Anekdote. Das Märchenerzählen blühte und blüht mancherorts auch heute noch in den Kreisen der armen Bauern, aus denen die besten Märchenerzähler hervorgegangen sind. Einer der bekanntesten ungarischen Märchenerzähler, Mihály Fedics, war sein Leben lang Tagelöhner, lebte im größten Elend und zog in den letzten Jahren seines Lebens als Bettler durch die Dörfer. In ähnlicher Lage waren auch Mihály Lacza (bis zur Befreiung des Landes) und die Witwe Palkó, die aus einer besitzlosen kleinbäuerlichen Familie stammte. Aber auch die Fischer, Hirten und andere, die als Märchenerzähler im ungarischen Sprachraum bekannt geworden sind, gehörten mit verschwindenden Ausnahmen der ärmsten Schicht an.

Die gesellschaftliche Zugehörigkeit bestimmte die Weltanschauung der Märchenerzähler, und dies ist einer der Hauptgründe dafür, daß die Märchen in ihren Symbolen und auch in ihren offenen Anspielungen eindeutig das Bewußtsein der Unterdrückung des Bauernstandes artikulieren. Sie verraten die bittere Wut und die oft wilde Leidenschaft der armen Knechte, die sogar die mittelalterlichen Parabeln und Geschichten durchglühen. Das ist auch der Grund dafür, daß in den Erzählungen der armen Bauern oder Agrarproletarier immer der Ärmste und Schwächste als Sieger hervorgeht, die hochmütigen und bösen Herren dagegen gedemütigt werden; es ist immer der kleinste, ausgelachte und für dumm gehaltene Junge, der den Drachen überwindet. Alle diese scheinbar abgegriffenen Themen gewinnen auf den Lippen des Märchenerzählers und im Kreise seiner vom Schicksal vernachlässigten Zuhörer neue Glaubwürdigkeit und Verheißung späterer Wiedergutmachung.

Unter den ungarischen Märchenerzählern finden sich alle Typen, die – wie man weiß – auch bei anderen Völkern vertreten sind. Man kennt Märchenerzähler, die bewußt bestrebt sind, möglichst getreu wiederzugeben, was sie von ihren Vorfahren gelernt haben, die keinerlei Änderungen an der Struktur der Märchen vornehmen, sondern sogar den Wortlaut beibehalten. Diese Treue ist im Vortrag natürlich relativ. Andere Märchenerzähler freuen sich geradezu, wenn sie Änderungen vornehmen können. Selbstbewußt erklärte Fedics oft, daß er die Motive der Märchen frei variiere und daß der Wert seines Vortrags eben darin bestehe, daß er die Märchen so abwechslungsreich wie möglich gestalte. Das gleiche Ziel setzen sich viele Märchenerzähler in Ungarn, und aus den Textanalysen der alten Sammlungen geht hervor, daß die früheren es auch nicht anders hielten. Deswegen erscheint das ungarische Märchengut bei weitem nicht als ein so erstarrter Block wie sehr viele westeuropäische Märchen.

272. Titelblatt eines Jahrmarktbüchleins

272. Titelblatt eines Jahrmarktbüchleins
(Sándor Rózsa, König der Pußta)

{G-619.} Auch das Leben und die persönlichen Erlebnisse der Erzähler finden ihren Niederschlag in den ungarischen Märchen, und ihrem Wortschatz kann man sogar entnehmen, in welcher landwirtschaftlichen Arbeit oder in welchem Handwerk der Erzähler bewandert war. Man kann aber auch beobachten, ob der Erzähler in der Ausdrucksweise seinem Dialekt die Treue hält oder sich fremden Einflüssen zugänglich zeigt. Eine interessante Erscheinung ist, wie sich städtische Elemente immer mehr in den Stil der Märchenerzähler mischen und sie die städtische Sprache „der Herren“ nachahmen. Natürlich zeigt sich auch {G-620.} ein Unterschied im Aufbau des Textes und in der Darstellung von Einzelheiten je nachdem, ob ein Mann oder eine Frau das Märchen erzählt.

Da die Entwicklung der Märchentexte, ihr zukünftiges Schicksal, ihre Varianten und Transformationen in vieler Beziehung von den Märchenerzählern abhängen, sind wir seit einiger Zeit auch bestrebt zu beobachten, wer von den Zuhörern eines hervorragenden Märchenerzählers zum „Jünger“ wird oder wer nur eben fähig ist, das Märchen nachzuerzählen, wie es sich dem Gedächtnis der zehn- bis zwölfjährigen Kinder eingeprägt hat, das heißt, wie die Entwicklungsgeschichte des Märchens weiter verlaufen wird. Diese Forschungen erfordern eine Arbeit von langen Jahren, und vielleicht wird das Ergebnis geringer sein als die aufgewandte Mühe. Trotzdem wollen wir sie uns nicht ersparen.

Ältere folkloristische Aufzeichnungen und die Beobachtung des ländlichen Lebens sprechen dafür, daß das Märchenerzählen fast überall in Ungarn im Schwange war, daß man den weit ausgesponnenen Zaubermärchen, den prasselnden, frischen Anekdoten, den scharfzüngigen Spottgeschichten gern zuhörte. Alte Märchenerzähler erinnern sich, daß die Gemeinschaft einen Märchenerzähler mit schöner Stimme und gutem Gedächtnis stets zu würdigen wußte. Das Anhören eines Märchens zu Hause oder das Erlernen einer bislang noch nie gehörten Geschichte gehörte organisch zum Dorfleben, konnte aber auch das Los der bei den Soldaten Dienenden oder die öden Abende der in der Fremde Arbeitenden versüßen. Heute steht man einer vollständigen Auflösung des alten Gemeinschaftslebens gegenüber. Nicht einmal die Bauernschaft bewahrte mehr die Tradition des Märchens im früheren Sinn. Die Gelegenheiten, bei denen Märchen erzählt wurden, bestehen nicht mehr; die Art und der Inhalt der gemeinsamen Zusammenkünfte haben sich verändert; die alten Themen erregen nicht mehr das Interesse der Zuhörerschaft. Was besprochen wird, sind immer mehr die Probleme und Ereignisse des täglichen Lebens. Die Massenmedien beherrschen auch das Dorf.

Am lebensfähigsten sind die Anekdoten und die lokalen Spottgeschichten. Dem Zaubermärchen, dieser eigentümlichen Atmosphäre des Wunders, in der die unglaublichen Abenteuer der Märchenwelt in die Wirklichkeit übergehen und die Zuhörer sich mit dem Haupthelden identifizieren, begegnet man immer seltener. Dabei gibt es noch genügend ausgezeichnete Märchenerzähler, und man kennt ethnische Gruppen, in denen die Tradition des Märchens noch lebt, aber die Gewohnheit des Märchenerzählens wird immer seltener gepflegt. Zwei Vorgänge können beobachtet werden: Die Gattung der Zaubermärchen gerät schrittweise in den Hintergrund, und die Zuhörerschaft wird dem Erzähler langsam untreu. Infolgedessen nimmt auch die aktive Rolle der Märchenzuhörergemeinschaften hinsichtlich der Bewahrung und Überwachung der Märchen ein Ende. Märchenerzähler finden sich in Ungarn immer mehr vereinsamt. Und das ist, wie wir glauben, ein gesetzmäßiger Vorgang.

Betrachtet man die stilistische Eigenart der ungarischen Märchen und der Vortragsweise der Erzähler, so müssen zunächst einige Worte über die starke Dramatik gesagt werden. Gewiß ist Dramatik im Vortrag {G-621.} und Aufbau nicht nur ein Merkmal des ungarischen Volksmärchens. Mehrere Forscher erwähnen dies auch im Zusammenhang mit russischen Märchenerzählern, und wir selbst hatten Gelegenheit, tschechische und slowakische Märchenerzähler zu hören, deren Vortrag, selbst bei der Erzählung kurzer Schwänke, von großem Talent zum Dramatisieren und zur Belebung der Dialoge zeugte. Vergleichende Untersuchungen haben dafür sowohl in Europa als auch außerhalb Europas zahlreiche Analogien nachgewiesen.

Natürlich liegt im Aufbau des Märchens – und hier denken wir besonders an die Zaubermärchen – schon von vornherein etwas Dramatisches. Die drei der Einleitung folgenden Abenteuer, bei denen der Held mit immer größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat und das dritte, schwerste Abenteuer tragen schon die abschließenden Geschehnisse, die die Spannung auflösen, in sich. Wenn diese Kunstmittel auch primitiv erscheinen, erinnern sie doch an den Aufbau und die Konstruktion des Dramas.

Der Charakter des ungarischen Volksmärchens ist jedoch nicht nur in dieser Beziehung dramatisch. Seine Dramatik offenbart sich auch darin, daß fast jeder gute Erzähler sein Märchen aus einer Reihe von dramatisch wirksamen Szenen zusammenfügt. Dies läßt darauf schließen, daß es sich hier nicht um individuelle Findigkeit, sondern um eine kollektive Tradition der ungarischen volkstümlichen Erzählkunst, nicht um etwas Zufälliges, sondern um eine Regel handelt. Und diese aufeinander folgenden Szenen werden immer in Dialogen der Personen des Märchens vorgetragen; bloßes Erzählen in der dritten Person ist selten. Es gibt ungarische Märchen, in denen die beschreibenden, erklärenden Teile eben nur angedeutete Behelfe sind, während die eigentliche Geschichte sich in geschickten Wortwechseln und lebendigen Dialogen abspielt. Wer Gelegenheit hatte, die Handlung eines Märchens im Kreise eines andächtig zuhörenden bäuerlichen Publikums mitzuverfolgen, kann bezeugen, wie dramatisch die Vortragsweise guter Märchenerzähler ist. Die Pointen der Dialoge werden zugespitzt; bei jeder Märchenperson, die gerade spricht, wechselt der Erzähler die Stimme und bedient sich aller Mittel, um das Interesse seiner Zuhörerschaft zu erregen und in Spannung zu halten.

Bei der Analyse der formalen Eigenschaften des ungarischen Märchens muß wiederum auf einen Zug hingewiesen werden, der im Zusammenhang mit den Märchenerzählern bereits erwähnt worden ist. Aufgrund der alten, teilweise „korrigierten“ Märchentexte erschien es anfangs unglaubwürdig, wie umständlich und mit welcher Lust an Einzelheiten besonders die Zaubermärchen erzählt wurden, obwohl man aus älteren ungarischen Sammlungen solche getreu überlieferten Märchen kannte. Es ist kennzeichnend für das ungarische Märchen, daß Einzelheiten – ohne Verflachung der dramatischen Kraft der Erzählung – reichlich eingeflochten werden. Gute Märchenerzähler erweitern wegen solcher Einzelheiten die Konstruktion des Märchens und fügen sogar neue Motive ein.

Als László Arany im Jahre 1872 die Sammlung Ungarische Volksdichtung in Gang setzte und damit die Frage zu beantworten suchte, was eigentlich für das ungarische Märchen kennzeichnend sei, schrieb {G-622.} er: „In unseren ungarischen Märchen ist es hauptsächlich ihre verwickelte Art, die sie von den Märchen der benachbarten Völker unterscheidet. Diese verflechten die verschiedenen Bestandteile nicht so eng miteinander wie das ungarische Volk, besonders das der Großen Ungarischen Tiefebene; während beim deutschen Volksmärchen der Erzähler eher geneigt ist, Teile des Märchens auszulassen und die Brüder Grimm bei mehreren Märchen erwähnen, sie hätten sie aus zwei Märchen zusammengezogen, haben die ungarischen Sammler eben mit den einander jagenden Verwicklungen der langen Märchen ihre größten Schwierigkeiten. Den Grund dafür … sehe ich in der Lebensweise unseres Volkes, mit seinem Hirtenwesen und Einzelgehöften, den häufigen arbeitsfreien Abenden und seinem von Natur aus schweigsamen Charakter, der den Menschen zu großer Geduld beim Anhören der Erzählungen erzieht.“

Die behäbige Lebensweise der Bauern und Hirten, die László Arany für den Grund dieser Märchengestaltung hält, gehört schon lange der Vergangenheit an, aber die guten Märchenerzähler erzählen auch heute noch so. Die Erweiterung der Märchen ist so beliebt, daß in mehr als einem Fall die Einleitungsformel des Märchens zu einer besonderen, scherzhaften, vor Verspottung der Zuhörerschaft nicht zurückschreckenden kleinen Geschichte umgeformt wird, und die lügnerischen Wendungen des Märchens selbst immer mehr erweitert und gesteigert werden. Den Hang zur Erweiterung kann man an zahlreichen kleinen Zügen in den Märchen der besten ungarischen Märchenerzähler beobachten, so an der freien Vermehrung der Motive während des Vortrags oder im Häufen der Tätigkeitswörter, was manchmal zur Weitschweifigkeit ausartet.

Daher läßt sich im Zusammenhang mit den Typen des ungarischen Volksmärchens immer wieder beobachten, daß es zahlreiche Übergangsformen gibt und daß mehrere Typen sich ungestört in der Gestaltung vermischen. Neuerdings haben wir zu erforschen versucht, nach welcher Gesetzmäßigkeit sich die verschiedenen Typen und Motive häufiger als andere zusammenschließen und welche gesetzmäßige Affinität sich in diesen Beziehungen und Zusammenfügungen nachweisen läßt. Wir sind nämlich der Ansicht, daß eben diese Affinität eine der vielen Erklärungen dafür ist, wie und warum neue Typen und Typengruppen entstehen und wie sich die mündliche Tradition geschichtlich entwickelt. So bilden sich unserer Ansicht nach aus einander sehr nahestehenden, aber im Charakter doch nicht gleichen Typen regelrechte Typenfamilien wie zum Beispiel die von Amor und Psyche (AaTh 425), vom dankbaren Toten (AaTh 505–508) u. a. m. heraus.

Eben diese affinitive Anziehungskraft von Märchentypen und -motiven ermöglicht die für den Verlauf des Märchens so kennzeichnende Einheit von Identität und Variabilität und die lange Kette der Übergangsformen. So ist ein sehr häufiges Prinzip der ungarischen Volksmärchen die Verflechtung der Typen oder doch wenigstens ihre Anreicherung um Motive, die von anderen Märchentypen frei ausgeliehen werden. Einer der bekanntesten ungarischen Märchenerzähler, Mihály Fedics, hat einmal gesagt: „Wer zehn Märchen kennt, kann hundert aus ihnen machen, wenn er das Talent hat.“ Ein anderes Mal {G-623.} erklärte er, der gute Märchenerzähler könne nach Belieben kürzen oder verlängern: „Das Ende des Märchens kann hier im Hof sein, aber auch weit am Rande des Waldes.“ Die Märchenerzähler haben von ihrer souverän schaffenden und variierenden Begabung unbekümmert Gebrauch gemacht und tun dies heute noch. Auf schöne Weise bekennt sich dazu einer der hervorragendsten, zum Neuschaffen neigenden ungarischen Märchenerzähler, der vierundvierzig Jahre alte Ferenc Gáspár: „Eine ganze Woche vergeht, bis ich ein Märchen beende. Man kann mit allem beginnen: mit einem Tisch, einem Teller, was sich eben anbietet. Das Märchen ist nämlich wie der Setzling eines Baumes. Er entwickelt sich, man beschneidet ihn, pfropft ihn, reinigt ihn, dann wachsen Zweige, Blätter, Früchte. Sein Leben entwickelt sich, ganz so wie beim Menschen. Wer weiß, was aus ihm wird. Ebenso ist es mit dem Märchen. Einmal begann ich ein Märchen damit, daß ein Fräulein ein Kästchen fand. Sie öffnete es, um zu sehen, was darinnen war, und fand einen Drachen. Sie nahm das Kästchen mit nach Hause. Was dann mit ihr geschah, darüber sprach ich eine Woche lang. Das Märchen geht so, wie wir wollen; man braucht nur eine Grundlage, und darauf kann man alles aufbauen.“

Mit diesen Zügen der ungarischen Volksmärchen hängt ein dritter formaler Zug zusammen: ihre Buntheit und ihre Anschaulichkeit. Wir. glauben durchaus nicht voreingenommen zu sein, wenn wirf auf den Glanz, auf den bunten Formenreichtum und die scherzhafte Findigkeit der ungarischen Volksmärchen hinweisen, da ja dieser Zauber der Volksmärchen auch das Märchengut so vieler anderer Völker schmückt.

In der Vortragsweise der ungarischen Volksmärchen liegt eine zauberhafte Zwiespältigkeit – aber auch darin stehen sie nicht allein in Europa. Dieser eigenartige Doppelcharakter besteht in dem fast realistischen Vortrag, aus dem unvermittelt Wunder und Zauber auffliegen. Das Merkwürdige dabei ist, daß aus den kleinen Einzelheiten dieser ungarisch erzählten, aber in ganz Eurasien bekannten Märchen und Märchenmotive immer wieder Momente eingefügt werden, die ungarisch sind, die nur aus dem bäuerlichen Leben der Ungarn und aus dem Erscheinungsbild der ungarischen Gegend stammen können; daher kommt es, daß die Charaktere der ungarischen Märchenhelden ein wenig nach dem ungarischen Temperament geformt sind, was gar nicht anders sein kann. Unter anderem ist es eben dieser Hang zur Realität, der die ungarische Volksdichtung von ihren eurasischen Verwandten unterscheidet. Der Schauplatz der ungarischen Volksmärchen ist – wo immer auch der Märchenheld erscheint – die ungarische Bauernwelt, das Dorf, der Hof, und selbst die Königstadt gleicht eher einem kleinen Städtchen des bekannten Bezirkes oder des Kreises. Der königliche Hof erinnert in vielen Fällen an das ansehnliche Anwesen eines Großbauern, und es ist ein zauberhafter innerer Widerspruch des Volksmärchens, daß alle diese geheimnisvollen Abenteuer, überirdischen Wunder und zauberischen Dinge mit den kleinen Realitäten des alltäglichen Lebens verflochten sind. Auch die Zaubermittel des Märchens: die Spucke, ein Blutstropfen, ein Kamm, ein Klepper und ähnliches verbinden die unglaublichsten Abenteuer mit {G-624.} dem, was der Bauer Tag für Tag vor Augen hat. Es soll hier gar nicht analysiert werden, welchen besonderen Reiz die Volksmärchen dadurch gewinnen, daß die absurdesten Abenteuer und groteskesten Ideen mit selbstverständlicher Natürlichkeit erzählt werden. Sicherlich ist es dieser Vortragsweise zu verdanken, daß man in der Dunkelheit der schneebedeckten winterlichen Bauernhäuser und in den Hirtenherbergen der weiten Pußten in so mitfühlender Andacht den Märchen zuhörte.

Aber nicht nur dies ist der Grund, aus dem man an die Volksmärchen glaubte und sich ihren Abenteuern mit Bangen und Freude hingab. Zunächst muß gesagt werden, daß das ungarische Volksmärchen – in fast allen seinen Gattungen – die sozialen Bestrebungen und das sich nach Gerechtigkeit und Rache sehnende Selbstbewußtsein des ungarischen Volkes ausdrückte. Darüber ist schon viel und verschiedentlich gesprochen worden. Die Wunder der Märchen, der Sieg des Kleinsten und Schwächsten wurden als normative Wunschwelt, als eine Art von Welt-wie-sie-sein-sollte betrachtet. Mehr als darüber sollte von den in den Volksmärchen ausgedrückten sozialen Tendenzen die Rede sein. Nicht zuletzt deshalb hat das Volk die Volksmärchen bewahrt, ihnen zugehört und sie weitergeformt, weil diese Dichtungsart vollkommener als jede andere – bald durch unmißverständliche Parabeln, bald durch nur allzu verständliche Beispiele – seine Bedrängnis, sein Ausgeliefertsein an grausame Unterdrücker und die triumphale Hoffnung auf den Sieg des Schwächsten ausdrückte. Mehr als eine Erklärung aus bäuerlichem Mund bezeugt, wie weit der ungarische Bauer sein eigenes Los mit dem des Märchenhelden, der Drachen, böse Krieger und lügnerische Freunde bekämpft, identifizierte. Das Symbol wurde durchaus realistisch interpretiert.

Andererseits ist es sehr aufschlußreich, daß zu den beliebtesten und am häufigsten erzählten Märchen jene gehören, in denen ein Knecht an seinem bösen Herrn oder am Geistlichen Rache nimmt (AaTh 1000–1029), und daß vielfältige Varianten dieser Typengruppe bekannt sind. Nach unseren Erfahrungen hatte das Erzählen solcher Märchen eine geradezu befreiende Wirkung auf die Zuhörer, die es gar nicht leugneten, warum sie diesen Märchen den Vorzug gaben.

Es ist klar, daß das Volksmärchen nicht nur den Glauben an soziale Gerechtigkeit ausdrückt, sondern auch die Freude an der Verspieltheit und am Wunder, die Sehnsucht nach dem Abenteuer, die dem seit so vielen Jahrhunderten an die Scholle Gebundenen Ausblick in fremde Welten verschaffte. Je größer aber die Unterdrückung war, je grausamer der auf den Bauern lastende Druck, desto eher drückten ihre Märchen die soziale Spannung aus und desto mehr wurde diese Spannung zu einem wesentlichen bewahrenden Faktor des Volksmärchens. Das schwere Schicksal des ungarischen Fronbauern, das trostlose Elend langer Jahrhunderte, brachte dem ungarischen Bauerntum immer neue Leiden. Diese bäuerliche Vergangenheit liegt auch heute noch den scheinbar so verschlungenen, vergnüglichen und bunten Sätzen der Volksmärchen zugrunde.