Historische Sagen

Die historische Sage beruht stets auf irgendeiner geschichtlichen Grundlage, doch wird der auf Wahrheit beruhende Kern immer ausgeschmückt, und zwar oft mit stark märchenhaften Elementen. Der Kern der Sage ist in der Regel gleichaltrig mit dem ihr zugrunde liegenden geschichtlichen Ereignis; doch fügen sich ihr im Laufe der Zeit immer neue, weitere Elemente ein, volksmärchenhafte Motive, unter Umständen auch neue geschichtliche Tatsachen. Die Sage kann im Laufe der Zeit, ohne wesentliche Änderung ihres Inhaltes, auf einen neuen Helden jüngerer Zeit übertragen werden. Ein Teil der von König László (Ladislaus) I. handelnden Sagen (11. Jahrhundert) scheint aus Sagen von einem älteren Helden übernommen worden zu sein. Man kennt aber auch Geschichten über Kossuth (19. Jahrhundert), deren Kern in allen wesentlichen Zügen mit Sagen über König Matthias (15. Jahrhundert) übereinstimmt.

Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen von ungarischen Sagen finden sich in den mittelalterlichen Chroniken. Doch dürfte ein großer Teil des Sagengutes noch vor der Landnahme entstanden sehr. Hierher gehört der Traum der Emese, die totemistische Sage des Arpadengeschlechts: Die Stammutter Emese sieht im Traum den Vogel Turul; aus ihrem Schoße entspringt ein glorreicher Strom, das Herrscherhaus der Arpaden, darunter als erster Álmos – nach dem Wortsinn wahrscheinlich „der Erträumte“, „der Verkündete“. Der totemistische Ahne des Geschlechts und die Frau selbst scheinen noch Traditionen aus der Zeit des Matriarchats zu bewahren. Mit der Geschichte des Herrscherhauses der Arpaden hängt auch die Sage von der Abstammung der Ungarn, die Sage von der wundersamen Hirschkuh zusammen. Sie hat sich in einer Chronik aus dem 13. Jahrhundert erhalten, deren Quelle aber aller Wahrscheinlichkeit nach eine der Urgesta aus dem 11. Jahrhundert gewesen sein dürfte:

Die Sage von der wundersamen Hirschkuh

Der Riese Menrot zog nach der (Babylonischen) Sprachverwirrung in das Land Evilath … Hier gebar ihm sein Weib Ene zwei Söhne, Hunor und Mogor, von denen die Hunnen oder Magyaren abstammen. Der Riese Menrot hatte zwar noch mehr Weiber, die ihm weitere Söhne und Töchter gebaren. Doch Hunor und Mogor waren Menrots erstgeborene Söhne, und sie wohnten von ihrem Vater getrennt in einem eigenen Zelt. Eines Tages geschah es, daß die beiden Brüder auf die Jagd gingen. In der Heide tauchte eine Hirschkuh vor ihnen auf, und als sie die Flucht ergriff, verfolgten die Jäger sie bis zu den Sümpfen von Maeotis. Dort aber verloren sie sie schließlich aus den Augen, und auch nach längerem Suchen konnten sie keine Spur ausmachen. Als sie {G-626.} das Sumpfland schon kreuz und quer durchforscht hatten, wurden sie gewahr, daß dies ein gutes Weideland für das Vieh sei. Sie kehrten zu ihrem Vater zurück, baten ihn um sein Einverständnis und zogen mit all ihrem Vieh in die Sümpfe von Maeotis, um sich dort niederzulassen. Maeotis grenzte an eine Provinz Persiens. Abgesehen von einer schmalen Furt, war es an allen Seiten vom Meer umgeben; Wasserläufe gab es nicht, doch war das Land reich an Wiesen, Bäumen, Vögeln, Fischen und Wild. Allerdings war es schwer zugänglich, und als sie sich in den Sümpfen von Maeotis niedergelassen hatten, blieben die Brüder fünf Jahre dort, ohne die Gegend auch nur ein einziges Mal zu verlassen. Im sechsten Jahr schließlich zogen sie eines Tages hinaus, und ganz zufällig stießen sie auf die Kinder und die Weiber der Söhne von Belar, die gerade ohne ihre Männer in der Heide ihre Zelte aufgeschlagen hatten. In wildem Galopp trieben sie sie allesamt in die Sümpfe von Maeotis. Unter den Kindern befanden sich auch die beiden Töchter des Dula, des Fürsten der Alanen. Hunor nahm die eine und Mogor die andere zum Weibe. Von ihnen stammen alle Hunnen oder Magyaren ab.

Die wundersame Hirschkuh, die in die neue Heimat führt, scheint ein altes totemistisches Tier zu verkörpern. Die Verfolgung des lockenden Tieres gehört zu den bekannten mythisch-märchenhaften Geschichten und ist zum Beispiel ein wichtiges Märchen in der großen persischen Sammlung 1001 Tage. Das Motiv des Frauenraubs dagegen spiegelt die geschichtlichen Verbindungen wider, die zwischen „Gyula“, dem Ahnen der Arpaden, und dem berühmten bulgarischen Herrschergeschlecht (Belar-Bulgár) sowie allgemein zwischen Ungarn und Bulgarotürken bestanden.

Der ursprüngliche Kern der Botond-Sage bezieht sich auf die Kriege, die die Ungarn gegen Byzanz führten, und bewahrt des näheren die Erinnerung an die Zeremonien der Kriegserklärung bei den alten Ungarn, die darin bestanden, daß ein Speer oder ein Kampfbeil in das Tor des Feindes geschlagen wurde. Der Held der Lél (Lehel)-Sage gerät in die Gefangenschaft des deutschen Kaisers, und da er weiß, daß dieser ihn zum Tode verurteilen werde, erschlägt er zuerst den Kaiser mit seinem Horn und sagt: „Du wirst mir vorangehen und mir im Jenseits dienen.“ Diese Sage hängt mit einem geschichtlichen Moment der Streifzüge zusammen, die die Ungarn schon von ihrem neuen Land aus unternahmen, und die Handlung offenbart den auch bei den alten Ungarn verbreiteten Glauben, daß die vom Helden in der Schlacht getöteten Feinde ihm im Jenseits dienen müssen.

Erwähnt werden soll auch die Sage vom weißen Roß. Sie erzählt von den Kämpfen um die neue Heimat und bezeugt auch die Zeremonien, unter welchen die alten Ungarn Frieden schlossen. Diese umfaßten Tieropfer, Vergießen von Wasser auf dem Boden, Berührung der Erde, Umkehrung des Sattels und das Aufheben einer Handvoll Erde gegen den Himmel.

Die ältesten Sagen vermitteln uns also ein interessantes, im Kern auch geschichtlich glaubwürdiges Bild der ungarischen Frühgeschichte; und sie berichten von den Kämpfen um die neue Heimat.

Diese Sagen wurden wahrscheinlich viele Jahrhunderte lang von beruflichen Sängern bewahrt und verbreitet. Es kann nachgewiesen {G-627.} werden, daß die Texte dieser Historiensänger die Chroniken beeinflußten, ja es konnte sogar anhand der Texte der Chroniken festgestellt werden, daß die Heldensagen in der Regel so vorgetragen wurden, als ob der Held in der ersten Person über seine Taten Bericht erstattete. Früh haben sich auch mythische Sagen in Prosa herausgebildet. Die bereits erwähnte Bemerkung des Anonymus weist außer auf den „geschwätzigen Singsang“ der Liedersänger und Jokulatoren auch auf die „falschen Märchen der Bauern“, also auf die mythischen Sagen hin.

Mangels Aufzeichnungen weiß man wenig über die Volkssagen der Jahrhunderte nach der Staatsgründung, da in dieser Zeit nur die im Dienste der Feudalordnung stehenden Kleriker schriftkundig waren. Diese verachteten, ja verfolgten die Gesänge und Märchen, in denen das unterdrückte Volk seine Beschwerden und sein Sehnen ausdrückte. Umsonst verfolgte aber die Kirche die Volksdichtung mit allen Mitteln – das Lied ging trotz aller Verfolgung von Mund zu Mund, trug dazu bei, die schwerere Arbeit erträglich zu machen, und pries die Taten der Helden der Landnahme. Neben den alten Gesängen, Sagen und Märchen entstanden auch neue, solche von Helden, die die Tugenden und das Sehnen des Volkes verkörperten und die sich besonders beim Zurückschlagen von feindlichen Angriffen ausgezeichnet hatten, die das ganze ungarische Volk gefährdeten. Eine der volkstümlichsten Gestalten der Heldenlieder war der große Held der Kämpfe gegen die fremden Eroberer, König Ladislaus (11. Jahrhundert), dessen Charakterzüge und Taten sich im Gedächtnis des Volkes mit denen von Helden früherer, wahrscheinlich noch in der vorhergehenden Heimat entstandener Heldensagen vermischten.

Es scheint, daß in die Sagen des ungarischen Volkes auch Gegensätze innerhalb der herrschenden Feudalklasse eingedrungen sind. Die sich gegen den König erhebenden Feudalherren erscheinen in der Anschauung des Volkes oft als Helden eines Aufstandes gegen die ganze feudale Gesellschaft. Das Attentat Felizian Záchs gegen die Familie König Karl Roberts (14. Jahrhundert) und die furchtbare Rache, die vollständige Ausrottung der Familie Zách, waren geeignet, das Thema einer Sage abzugeben.

Zu den im 14. bis 15. Jahrhundert entstandenen Sagen gehört die von der Höllenfahrt des Lõrinc Tar. Sie wurde später – im 16. Jahrhundert – von dem hervorragenden Historiensänger Sebestyén Tinódi dem Lautenschläger in Verse gesetzt. Tinódi selbst verrät, daß er die Geschichte als Gesang gehört habe. Die einzelnen Motive der Sage stammen zwar nicht aus dem Volke, doch scheint es, daß die Geschichte von Lõrinc Tar, der in der Hölle das für den König bereitstehende Bett gesehen hatte, der dem falschen Zehnten einhebenden Erzbischof und anderen Bischöfen sowie Bauerngüter verwüstenden Adligen begegnet war, lange Zeit im ganzen Lande beliebt und verbreitet war. Internationale Parallelen dieser Sage können weithin verfolgt werden.

Im jüngeren ungarischen Sagengut finden sich diese alten Stoffe kaum mehr oder werden höchstens an einzelnen Orten fragmentarisch erzählt. Die im Munde des Volkes auch heute noch lebenden historischen Sagen stehen nicht mit allgemein bekannten geschichtlichen Persönlichkeiten {G-628.} in Verbindung, doch spiegeln vielleicht gerade diese am besten wider, daß unter den nationalen Katastrophen in erster Linie das arme und arbeitende Volk zu leiden hatte. Unter den hierhergehörenden Sagen scheinen die Sagen vom Mongolensturm die ältesten zu sein. Diese stimmen häufig mit den Sagen aus der Türkenzeit überein, was die Annahme erlaubt, daß die eine oder andere hierhergehörige Sage gar nicht die Mongolenplage des 13. Jahrhunderts, sondern die während der Türkenzeit so häufigen Tatareneinbrüche besingt. (Im Ungarischen werden auch die Mongolen Tataren genannt.) Auf alle Fälle weisen die Sagen der Türkenzeit und der Tatarenplage viele Ähnlichkeiten auf. Beweis dafür ist eine in Karcsa (Komitat Zemplén) aufgezeichnete Sage dieser Art:

Einmal, da kamen die Türken, aber sie hießen nicht Türken, sondern hundsköpfige Tataren. Was sollte man jetzt tun? Die fressen uns! Also nahm man Lebensmittel mit, alles, um nicht zu verhungern, solange die Belagerung dauerte. Es gab auch kotorca (den mehligen Stiel des Riedgrases) und Wurzeln. Man schälte die Rohrkolben und aß das Innere. Es fand sich Nahrung.

Und die wiederum hatten solche kleinen Pferde wie Katzen oder Hunde. Darauf lagen sie bäuchlings und ritten bis oben auf die Weinberge. Dort fingen sie an zu rufen:

„Sári, Zsuzsi, Borcsa, Mari, kommt hervor. Die hundsköpfigen Tataren sind nicht mehr da. Sie sind fort, kommt nach Hause. Hier ist kein einziger hundsköpfiger Tatar mehr!“

Doch nichts rührte sich. Da sprach der eine:

„Wartet nur, ich weiß, wo ihr seid. Ihr seid im Schilf. Ich werde euch im Schilf suchen, mit meinem Pferd reite ich hinein. – Kommt her, Leute, die sind hier. Kommt, es ist nicht tief, wirklich nicht.“

Die anderen blieben am Ufer stehen, wo das Schilf begann. Er aber ritt hinein und verschwand bis über den Kopf des Pferdes, nichts war mehr von ihm zu sehen.

Es verging viel Zeit, das Wasser ging zurück, wurde immer weniger. Der See trocknete aus. Da wuchs ein großer, furchtbar großer Nußbaum aus der Tasche des Türken. Herrlich war er anzusehen. Der Baum stand vielleicht zweihundert Jahre, niemand legte Hand an ihn. Aber als die Juden und die Barone kamen, die machten sich nichts aus ihm; er störte sie in ihrer Flur. Wer weiß, was mit dem Nußbaum geschah, sicher haben sie ihn gefällt. Die Leute von Karcsa haben ihm nachgeweint; denn von Vater auf den Sohn hatte sich überliefert: Das ist der Baum oder das ist die Nuß, die der Türke in der Tasche hatte, aus der ist der Baum gewachsen.

In den meisten dieser Sagen handelt es sich um die glückliche Flucht der Bevölkerung vor der Übermacht des Feindes, wobei sie ihr Entkommen ihrer Klugheit und Findigkeit zuschreiben. Andere Sagen dieses Themenkreises erzählen Geschichten von tapferen Helden, die gegen eine Übermacht siegen, während gleichzeitig Feiglinge und Verräter mit Verachtung bedacht werden.