{G-629.} Lokale Sagen

Die Sagen der Türkenzeit und der Tatareneinfälle bestehen in der Regel aus ein und demselben Element und zeigen schon dadurch viel Verwandtschaft mit den lokalen Sagen, einer großen Gruppe der historischen Sagen, von denen man zahlreiche Typen kennt. Am häufigsten finden sich Ursprungssagen darüber, wie eine Ortschaft gegründet wurde, Sagen von Schätzen, von Bergen, Hügeln und Gewässern, von Verwandlungen in Stein usw. Die meisten unter ihnen berühren sich in vielen Belangen mit den historischen Sagen, ja, die erwähnten Typen sind in mehr als einem Falle an bekannte geschichtliche Gestalten geknüpft. Laut einer dieser nicht mit einer historischen Person verbundenen Sagen erlaubte die Herrin von Batina, Márta Vörös, den Gebrauch ihre Fährer nur denen, die ein Goldstück zahlten oder drei Tage in ihrem Weingarten arbeiteten. Einmal kam König Matthias vorbei und übernahm es, mit seinem bäuerlichen Begleiter zu hacken. Unbemerkt warf der König seinem Begleiter ein Goldstück hin, doch ging dieser nicht weg, erst als der König noch eines vor sich hinwarf. Der König schickte seine Schergen, Márta abzuholen, doch diese floh und fiel auf der Flucht mit ihrem Wagen in den Fluß und wurde erst bei der Fähre herausgezogen, die davon den Namen (nach der Herrin: Vörös Márta) „Vörösmarty-Furt“ erhielt.

Am häufigsten erinnert sich das Volk an den Renaissanceherrscher des 15. Jahrhunderts, König Matthias (Corvinus). Die Sagen wissen von seiner fronbäuerlichen Abstammung zu berichten, von Fällen, in denen er die ausbeuterischen Magnaten, ja manchmal den Dorfschulzen – den Vertreter der reicheren Bauern – in die Schranken wies, um das Los der armen Bauern zu verbessern. Bezeichnend für diese Anekdoten um König Matthias ist auch, daß sie teilweise auf Lajos Kossuth, ja sogar auf andere Helden übertragen wurden, denen man Volksverbundenheit zuschrieb.

Die Gestalt des Königs Matthias lebt nicht nur in der Tradition der ungarischen Volksdichtung, sondern auch in der der Ukrainer, Rumänen, Kroaten, Slowenen, Tschechen und Slowaken. Man könnte sagen, daß Matthias bei den osteuropäischen Völkern eine ähnliche symbolische Rolle spielte wie Nasreddin-Hodscha im Nahen Osten, der vergleichbare Held der russischen Volksdichtung Ilja Murometz und in England Robin Hood.

Über den Fürsten Ferenc Rákóczi II., den Anführer des Freiheitskampfes gegen die Habsburger, gibt es wenige vollständige Sagen in der ungarischen Volksdichtung; es haben sich nur Fragmente erhalten, in denen Rákóczi als befreiender Held erwähnt wird. Als solcher lebt seine Gestalt auch noch in unseren Tagen, sogar in der ukrainischen und slowakischen Überlieferung. Aufgrund unserer früheren Kenntnisse schien es, als ob die Erinnerung an Rákóczi als Volksbefreier die Phantasie des ungarischen Volkes nicht so lebhaft beschäftigt habe wie die Gestalten Matthias und Kossuth. Im Vergleich zu den älteren, nur spärliche Resultate bringenden Sammlungen bezeugt nun jedoch das von Imre Ferenczi gesammelte, einen Band füllende Material, daß der Freiheitskampf Rákóczis und besonders seine Person sehr wohl in historischen Sagen fortlebt und, mit mythischen Sagen gemischt, in der mündlichen Tradition verwurzelt ist.

{G-630.} Einer der volkstümlichsten Helden der ungarischen Sagen und sagenartigen Erinnerungen ist die Hauptgestalt des Freiheitskampfes von 1848/49: Lajos Kossuth. Er kommt häufig in den Volksliedern vor, nach seinem Namen sind Bekleidungsformen, ein Hut, ja sogar ein Bart benannt worden, und überdies erscheint Kossuth häufig in Redensarten und Sprichwörtern. In seinen Sagen stattete ihn das Volk mit all den Eigenschaften und Handlungsweisen aus, die es seinen Vorgängern, so unter anderen König Matthias zugeschrieben hatte. So erscheinen die Sagen über Matthias oft mit dem Namen Kossuths, wie die folgende in Debrecen aufgezeichnete (MNK 921 X*)

Eines Tages versammelte Lajos Kossuth die Herren um sich und fragte sie:

„Wem gebührt der Saft der Trauben?“

Die Herren antworteten einstimmig: „Dem der Boden gehört.“

„Na, meine Herren, dann gehen wir hacken!“

Und sie begannen den Boden zu hacken. Lajos Kossuth hackte ganz vorn, doch nicht etwa nur so, sondern immer bergauf. Nach einer Weile gestattete er den Herren eine kleine Ruhepause und fragte wieder:

„Wem gebührt der Saft der Trauben?“

Die Herren antworteten abermals: „Dem der Boden gehört.“

„Na, meine Herren, dann hacken wir noch ein wenig!“

Sie begannen wieder zu hacken, und die Herren kamen recht ins Schwitzen.

Wieder fragte sie Kossuth:

„Wem gebührt der Saft der Trauben?“

„Dem auch, dem der Boden gehört, und dem auch, der ihn hackt im Schweiße seines Angesichts.“

Damit war Kossuth noch nicht Zufrieden, erneut rief er:

„Meine Herren, gehen wir hacken!“

Sie hackten noch ein gutes Stück, bis sie Kossuth aufs neue fragte:

„Wem gebührt der Saft der Trauben?“

Da antworteten alle Herren: „Dem, der den Weinberg hackt, und der, der nur die Beine in der Luft baumeln läßt, kann von Glück sagen, wenn er überhaupt etwas abbekommt.“

In vielen Fällen hat sich noch keine endgültige künstlerische Form der Kossuth-Sagen ausgebildet; sie sind über kleine Fabulate nicht hinausgekommen, doch auch so kann man sehen, daß die Sagenbildung um seine Gestalt, die jüngste, die noch Stoff zu Sagen hergab, begonnen hat.

Eine besondere Welt, über die es sich zu sprechen lohnt, ist die der Betyárensagen (siehe auch die Betyárenlieder und Betyárenballaden). Betyáren waren gewiß keine historischen Helden, aber was in ihnen steckte und wie das Volk zu ihnen stand, erhellt gut aus einer Geschichte, die ein Bauer aus der Großen Ungarischen Tiefebene von Sándor Rózsa erzählte

Glauben Sie nicht, daß Sándor Rózsa ein Räuber oder Wegelagerer war! Er war ein großer Mann, der die Gerechtigkeit liebte. Nur hat er eben Gerechtigkeit so geübt, wie es zu jener Zeit möglich war. Er hat den Reichen ihr {G-631.} Geld weggenommen und hat es unter die armen Bauern verteilt. Einmal brannte das Haus eines armen Bauern ab, und Sándor Rózsa gab ihm Geld, es wieder aufzubauen. Aber auch die Reichen tötete er nicht, nie hat er sich eines Mordes schuldig gemacht. Andere Betyáren haben getötet und geraubt, und die österreichischen Herren haben dies alles dem Sándor Rózsa in die Schuhe geschoben, weil sie sehr böse auf ihn waren. Auch das ist sicher, daß er mit den übrigen verstoßenen Burschen in die Armee Kossuths eintrat, und wo die Truppe Sándor Rózsas kämpfte, errang sie immer den Sieg. Sándor war gegen Kugeln gefeit und war immer an der Spitze seiner Truppe. Mit seinem Gewehr, in weißem Hemd und flatternder Hose, hei, was für ein schöner Bursche er war.

Soweit die Erinnerung. Die Betyáren wurden also wie Freiheitskämpfer angesehen, die dem Reichen das Geld abnahmen und es den Armen gaben.

Ein bedeutender Teil der ungarischen historischen Sagen beschreibt nicht irgendwelche Begebenheiten, sondern wählt bestimmte aus. In erster Linie werden diejenigen als Helden gerühmt, die das Recht der Armen verteidigt und für die Freiheit des ganzen Volkes gekämpft haben. So bezeugen diese Sagen mit ihrer Geschichtsauffassung auch die Tatsache, daß auch auf diesem Gebiet die Schöpfer der Volksdichtung aus den ärmeren Schichten der Bauernschaft hervorgegangen sind.