{G-640.} Sprichwörter

Die Sprichwörter können in drei – hauptsächlich inhaltlich verschiedene – Gruppen aufgeteilt werden: Feststellungen, Urteile und Ratschläge. zur ersten Gruppe gehören Feststellungen, die ohne jede Ausschmückung, urteilende oder moralisierende Zutat eine allgemeine Ansicht ausdrücken: „Der Hund bellt, die Karawane zieht weiter“ – „Aus einem Hund macht man keinen Speck“ – „Ein guter Wein braucht kein Aushängeschild“ – „Wer zuerst kommt, freut sich zuerst“ – „Der Lohn des geflohenen Knechtes ist der Stock“ (eine sozialgeschichtliche Erinnerung in einem Sprichwort) usw. Viel tieferen Sinn bergen die Sprichwörter, wenn sich in der Feststellung ein gewisses Werturteil, oft ein politisches oder klassenbedingtes Urteil ausdrückt: „Es ist nicht gut, mit großen Herren aus einer Schüssel Kirschen zu essen“ – „Besser ein magerer Ausgleich als ein fetter Prozeß” – „Nicht alles ist wahr, was die großen Herren flunkern“ – „Besser heute ein Sperling als morgen eine Trappe“. Die dritte Gruppe ähnelt am meisten den sogenannten Lebensweisheiten oder Sentenzen, die besonders zu einer gewissen Zeit eine regelrechte literarische Mode waren. Solche Ratschläge in Sprichwörtern sind zum Beispiel: „Biege die Gerte, solange sie jung ist“ – „Strecke dich nach der Decke” – usw.

Auch in den Sprichwörtern, diesen scheinbar in einfachster Sprache ausgedrückten Formen der Volksdichtung, spiegeln sich das Leben der Gesellschaft, die Auffassung und das Urteil des Volkes über die es umgebende Welt wider. In der Redensart „an der Erde klebender armer Mann“ lebt das Klassengedächtnis des der Freizügigkeit beraubten Fronbauern, die ewige Gebundenheit an die Scholle. „Ein Pfaffe nimmt vom anderen keinen Zehnten“ erinnert uns an die Abgabepflicht des zehnten Teils seiner Ernte, unter der der Bauer lange zu leiden hatte. Die folgenden Sprichwörter brauchen wohl kaum einen Kommentar: „Der Bauer lebt von seinen zehn Fingern“ – „Eine reiche Witwe ist immer dreißig Jahre alt“ – „Auch der Reiche hat nur zwei Nasenlöcher, wie das Schwein des armen Mannes“.

Andere Sprichwörter enthalten wieder kulturelle Erinnerungen, so zum Beispiel: „Er hat viel auf dem Kerbholz“ – ein Andenken an die alte Art der Zählung nach Einschnitten im Kerbholz. Viele Sprichwörter kommen uns als sinnlose Scherzworte vor, obgleich sie vielleicht uns nicht mehr geläufige geschichtliche Vorgänge berühren und dadurch zeitlich fixierbar sind. „Weder Geld noch Tuch“ ist zum Beispiel ein Sprichwort, das Bezug auf das Leben der Festungssoldaten des 16. und 17. Jahrhunderts hat, die ihren Sold bald in Geld, bald in Tuch bekamen – oder nicht bekamen. „Warte, ich binde dir die Hacken nach hinten“ oder „Ich werde Dich lehren, in den Handschuh Dudelsack zu pfeifen“ (beide im Sinne von „Ich werde dich Mores lehren“) sind von schwer erklärbarer Herkunft. – „Er leugnet bis zum Nägelrausreißen“ verweist eindeutig auf die mittelalterlichen Foltermethoden zurück, die wahrlich kein Spaß waren. Ähnliches steckt hinter den Redensarten: „Dem hat man sein Lieblingslied vorgegeigt“ oder „Ihm hat man den Kállóer Doppeltanz beigebracht.“ Die Gerechtigkeit des Königs Matthias ist heute noch „sprichwörtlich“, und auch Kossuth wird oft in Redensarten erwähnt.

Bei beiden Gruppen haben wir als grundlegende Eigenschaft die {G-641.} Gedrängtheit, das Bestreben nach möglichst einfachem und bündigem Ausdruck erwähnt. Darüber hinaus ist für die eine Gruppe die offene, für die andere die geschlossene sprachliche Konstruktion charakteristisch. Die wenigen Beispiele haben gewiß die Gedrängtheit hinlänglich bewiesen, so daß es überflüssig ist, darüber noch Worte zu verlieren. Gesagt werden muß dagegen, daß diese Gedrängtheit im Vergleich mit höchster poetischer Verdichtung bestehen kann und oft sogar die besten literarischen Formulierungen übertrifft. Und noch eins: Es kann als Regel gelten, daß, je einfacher und gedrängter eine Redensart oder ein Sprichwort ist, sie desto älter sind; desto gesicherter ist ihr Gemeinschaftscharakter, und desto häufiger werden sie gebraucht.

Eine weitere Eigenheit ist die gegliederte Struktur. Besonders beliebt ist die doppelte Gliederung, aber auch drei- oder vierteilige Gliederung kommt vielfach vor. Die folgenden Beispiele zeigen fast rhythmische Ausprägung: „Heute Braut, morgen Frau, übermorgen G’vattersfrau“ – „Breit ist der Tisch, schmal das Tischtuch, spärlich das Essen“. Viergliedrigkeit: „Wenn ihr kommt, seid ihr da, bringt ihr was, eßt ihr was“. Aus diesem Bestreben nach Verdichtung und Gliederung ergibt sich, daß ein bedeutender Teil der ungarischen Redensarten und Sprichwörter rhythmisiert, in eine rhythmische Formel eingebettet ist, oft sogar die Form von gereimten Versen annimmt.

Auch die Prosodie der ungarischen Redensarten und Sprichwörter kann ermittelt und in Regeln gefaßt werden. Da gibt es die uralte sechssilbige Form: „Lassú víz, partot mos“ (Langsames Wasser unterhöhlt das Ufer), die siebensilbige: „Esõ után köpenyeg“ (Mantel nach dem Regen), die achtsilbige: „Késõ bánat ebgondolat“ (Späte Reue, Hundsgedanke) – „Olcsó húsnak híg a leve“ (Billiges Fleisch gibt dünne Suppe) usw. (Die Silbenzahlen beziehen sich natürlich auf die ungarischen Originalversionen, die stets einen fallenden Rhythmus aufweisen. Der Übersetzer.) Man findet auch regelmäßige Dreitaktzeilen (mit Zehner-, Elfer- und Zwölfersilbenformeln), zusammengesetzte Zeilen mit verschiedenen rhythmischen Formeln und neben diesen auch solche mit regelrechten Alliterationen: „Vak vezet világtalant“ (Blinder führt den, der nicht sieht) und Formen mit Endreimen; oft soll die Versform durch Zwillingsworte und Klangeffekte verstärkt werden. All dies zeigt, daß es beim ungarischen Sprichwort nicht nur auf Sinn und Inhalt ankommt, daß damit seine eigentliche Funktion erfüllt wäre, nämlich ein Thema, eine Debatte mit einer Sentenz, einem Rat oder einem Beispiel abzuschließen; es kommt vielmehr auch darauf an, dem Inhalt eine angemessene, also dichterische Form zu geben.

Selbstverständlich finden sich unter den ungarischen Redensarten und Sprichwörtern viele Verwandte des einschlägigen europäischen Geistesguts wieder. Schon György Gaál, der 1822 eine ungarische Volksmärchensammlung in Wien herausgab, stellte einen Band vergleichender Sprichwörter zusammen, von anderen ungarischen Vorläufern gar nicht zu reden. Diese Verwandtschaft ist leicht verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß eine der Quellen der europäischen Sprichwörter und Redensarten die Bibel und die andere die Überlieferung antiker Sentenzen war. Auch das ist verständlich, daß die verwandte Naturanschauung, die ähnliche Beschäftigung mit der Landwirtschaft und {G-642.} die vergleichbare Gesellschaft ähnliche oder sogar übereinstimmende Sprichwörter hervorbrachten. An immer nur eine Nation gebunden sind dagegen die Sprichwörter und Redensarten, die von lokalen Geschichten oder Anekdoten ausgehen und als deren abgeschliffene Substrate fortleben. Auch solche finden sich in großer Zahl in dieser Gattung der ungarischen Volksdichtung.