{G-644.} Volksbräuche – dramatische Überlieferungen


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Dramatische Überlieferungen finden sich vielfältig in der ungarischen Bauernkultur. Beginn und Abschluß der Ernte weisen bestimmte dramatische Ausprägungen auf; auch wenn der Erzähler den Zuhörern die Abenteuer seines Helden nahebringen will, der Balladensänger die Handlung seines Gesanges mit Gesten begleitet oder wenn die Kinder spielen, immer wieder stößt man auf dramatische Formen. Natürlich ist es der Bereich der Volksbräuche, in dem das dramatische Element am häufigsten und am weitesten verbreitet vorkommt. Eben weil im Leben sich beides nicht voneinander trennen läßt, ist es berechtigt, die Volksbräuche mit den dramatischen Überlieferungen zusammen zu behandeln.

Es muß betont werden, daß die bäuerlichen Volksspiele sich nicht ausschließlich auf Krippenspiele und einige andere, zum Beispiel am Gregoriustag, zu Pfingsten oder am Blasiustag übliche Spiele sowie auf solche wie das heute fast ganz verschwundene „regölés“ (etwa Zauberei) beschränkten. Wenn von den dramatischen Überlieferungen des ungarischen Volkes die Rede ist, denkt man zwar im allgemeinen zuerst an die Krippenspiele oder die anderen regelrechten Spiele, doch wird dabei eine lange und mannigfaltige Reihe von Spielformen übersehen, die nach Abschluß großer Arbeiten – so zum Beispiel beim Erntefest – und in der Spinnstube zur Unterhaltung der Jugend ausgeübt werden. Es kommt vor, daß die Mitglieder einer Spinnstube in eine benachbarte Spinnstube gehen und dort ihre scherzhaften Spiele vorführen. Mancherorts bekommen die gerne gesehenen „Schauspieler“ in Form von Eßbarem sogar eine „Gage“. An diesen Spielen ergötzt sich das Publikum, auch wenn ihm kein überlieferter dramatischer Text aufgeführt wird. Die Grundform dieser Spiele wird durch die Tradition erhalten. Mag der Text oft bloß ein Gemisch unbedeutender und nichtssagender Scherze sein, so bietet er doch dank der Findigkeit und Begabung der Teilnehmer eine Gelegenheit, sich auszuleben, und diese Scherze und lokal bedingten, unerwarteten Anspielungen werden vom belustigten Publikum dankbar belohnt.

Ebenso muß ein großer Teil des Brauchtums bei Hochzeitsfeiern zu den dramatischen Spielen, aber auch zu den kultischen Bräuchen gezählt werden. Die Scherze und der Wettbewerb der Hochzeitsbitter oder noch zuvor die traditionellen, retardierenden Gebräuche bei der Brautwerbung sind ebenfalls beliebte Produkte der volkstümlichen Spielfreude. Ihre Rolle und Aufgabe innerhalb des vom Volk gepflegten spielerischen Brauchtums ist bedeutend. In ihrer Grundform weichen sie von den textgebundenen und ausdrücklich zur Aufführung bestimmten Krippen- und anderen Spielen ab, doch ist dies an sich kein Grund, sie aus dieser Gruppe auszuschließen. Wer immer bei einer Bauernhochzeit und dann bei einem Krippenspiel zugegen war, kann feststellen, daß es sich hier um die zwei Grundformen des Spiels: den improvisierten Vortrag und die textgetreue {G-645.} Wiedergabe des Spiels, handelt. Keine von beiden darf auf Kosten der anderen vernachlässigt werden.

Um alles dies zu veranschaulichen, soll jetzt eine Gruppe ungarischer Hochzeitsbräuche beschrieben werden. Sie stammt aus dem Komitat Szabolcs, wobei ganz ähnliche Beispiele aber auch aus anderen Landschaften angeführt werden könnten.

Der Gevatter, der Schwager und der Bruder (letzterer nur dann, wenn er bereits verheiratet ist) des Bräutigams machen Besuch im Haus der Braut, wo sich die Verwandten in der guten Stube bereits versammelt haben. Die Brautwerber stellen sich vor, als ob sie von weither gekommene Reisende und sehr müde seien. Ob sie eine Unterkunft bekommen könnten? (Es ist überflüssig zu betonen, daß dies bereits eine Art Schauspiel, das Vorspielen einer fiktiven Situation ist.) Ein Stern hätte sie hergeleitet und sie hätten dies als gutes Zeichen gedeutet. – Soweit die mit biblischen Vergleichen durchflochtene Exposition des Spiels der Brautwerbung. – Die Hausleute empfangen die Ankömmlinge natürlich gerne. Diese sollten nur Platz nehmen, wenn sie auch noch nicht wüßten, ob man ihnen Unterkunft werde bieten können. Was eigentlich sei ihr Vorhaben? Die Brautwerber setzen sich nun bequem nieder und erzählen, sie hätten eine Blume gebracht und suchten nun dazu ein Gegenstück Unterwegs hätte man sie auf ihre Anfrage hin hierher gewiesen, und auch der Stern hätte sie hierher geführt. Die Hausleute „mißverstehen` die Erzählung und bringen schnell eine Blume, die sie den Gästen anbieten. Diese schütteln aber den Kopf: Eine solche brauchten sie nicht, man solle ihnen eine größere Blume geben, für die kleine hätte man die lange Reise nicht zu machen brauchen. Jetzt wird ein größerer Ast abgeschnitten und angeboten. Aber auch dieser wird zurückgewiesen: Sie wollten eine lebende Blume. Die Hausleute sind ratlos: was wollen die Gäste? Vielleicht eine Blume, die gehen kann? Genau das wollen sie. Nun wird eine kleine Katze hereingebracht, an deren Hals eine Blume befestigt ist. Aber auch dies ist nicht das Richtige, die Gäste wollen eine auf zwei Füßen gehende Blume haben. Gleich wird ein erschrocken gackerndes Huhn hereingebracht, ebenfalls mit Blumen am Hals. Aber die Gäste sind noch immer nicht zufrieden und sagen jetzt schon, daß sie eine Blume brauchen, die sprechen kann. Ein kleines Kind wird hereingebracht. Es ist komisch verkleidet und grinst verlegen. Als „Zu klein!“ wird das Angebot zurückgewiesen. Um keinen Preis wird die Zeremonie verkürzt. Ein größeres Mädchen kommt herein. Auch dieses ist zu klein: man will ein größeres und entwickelteres. – Es wäre falsch zu glauben, daß diese kleinen Neckereien und Retardierungen die Erfindungsgabe der Hausleute erschöpfen oder die anspruchsvollen Gäste ermüden. Man belustigt sich herzlich an den neuen Variationen der gewohnten Wendungen, und die Teilnehmer beobachten gespannt die Vorgänge. – Nach diesem letzten Wunsch könnte man nun glauben, daß endlich die schon lange wartende Braut erscheint. Aber ihre Zeit ist noch immer nicht gekommen – es folgen noch einige Wortspiele. Eine junge Frau kommt herein und läßt ihre Röcke rauschen. Sie dürfte wohl den Vorstellungen entsprechen. Da sie aber bereits eine Blume hat, wird auch ihr Angebot von den Gästen zurückgewiesen. Nun {G-646.} kommt eine ältere Witwe herein, die ja allein steht. Wieder falsch gewählt! Diese war einmal eine Blume, jetzt ist sie bereits verwelkt.

Damit sind die Scherze zu Ende, und die Braut wird hereingeführt; sie ziert sich und errötet, wie es der Anstand und die ganze Lage erfordern. Sie wird jetzt von allen beobachtet und muß sich streng an die Anstandsregeln halten. Aber der vorgeschriebene Brauch und die wahren Gefühle – und das macht den großen inneren Wert der bäuerlichen Kultur aus – treffen sich ohnehin und bestärken das Mädchen in seiner Rolle und in seiner Bereitschaft zu der neuen Lebenslage. „Sie ist es, sie ist es!“ jauchzen einstimmig die Brautwerber, „sie ist die Blume, die wir gesucht haben!“ Mädchen und Bursche geben sich die Hand und setzen sich. Erst jetzt beginnt der Schmaus mit großem Appetit. Vorher wurden den müden „Reisenden“ umsonst Speise und Trank angeboten. Nun aber beginnt die Unterhaltung, die mit viel Gesang bis zum Morgen, dauert.

Wenn wir diesen Brauch einfach als einen der vielen Hochzeitsbräuche betrachten, ohne darin die Lust des Volkes am Spiel und gleichzeitig die inneren, sich von selbst ergebenden Möglichkeiten, seine Spiellust in volkstümlichen dramatischen Formen auszuleben, zu erkennen, haben wir die volkstümlichen Spiele selbst und ihr Wesen nicht begriffen. In diesen Hochzeitsbräuchen verbirgt sich ein tieferes Erlebnis als in dem bis in die jüngste Zeit von den Schulkindern heruntergeleierten Texten eines Krippenspiels, der Begrüßungs- und Heischegänger, denn der überlieferte Rahmen der Hochzeitsbräuche wird mit größerer persönlicher Inspiration ausgefüllt. Natürlich ist die Beschreibung des Ablaufs sehr mangelhaft und zeigt nur ganz im allgemeinen den Gang der Handlung; das Ergebnis ist etwa so, als versuchte man den Inhalt eines lyrischen Gedichts in einigen Prosasätzen zusammenzufassen.

Im Folgenden soll versucht werden, die wichtigsten Bräuche und dramatischen Überlieferungen so darzustellen, wie sie einst in der Wirklichkeit, von Elementen des Volksglaubens vielfältig durchflochten, existiert haben.