{G-715.} Die Glaubenswelt des ungarischen Volkes


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Wenn wir von der Glaubenswelt des ungarischen Volkes sprechen, dann müssen wir in erster Linie an ihre kosmisch-archaische Einheit, an die Einheit von Übernatürlichem, von Natur und Mensch denken. Sonst würde uns vieles im System der Glaubensvorstellungen des Volkes fremd und unverständlich bleiben. Das ungarische Bauerntum hat nicht nur einzelne Motive und Erinnerungsfragmente aus der Vergangenheit bewahrt; in der Glaubenswelt schwingen auch viele Grundelemente seiner archaischen Religiosität und ganz allgemein seiner Weltanschauung mit.

Werden Forscher mit verschiedenen primitiven bäuerlichen Glaubensvorstellungen, „abergläubischen“ Gewohnheiten und „heidnischer“ Religiosität konfrontiert, stellen sie zumeist die Frage, wie diese Glaubenswelt bestehen, auf welcher logischen Grundlage sie beruhen kann. Wie können ansonsten gewandte und fähige Jäger, Fischer, Viehzüchter und Ackerbauern, die inmitten der Gefahren und Probleme des täglichen Lebens gut zurechtkommen, in dermaßen irrigen, absurden Vorstellungen befangen sein? Als Antwort auf diese Frage wurden die verschiedensten Theorien entwickelt, die auf die Entstehung und die Entwicklungsgeschichte des Glaubens eingehen. All diese Theorien beschränken sich aber mehr oder weniger auf den Glauben an sich, der aus sich selbst heraus zu erklären versucht wird. Zweifellos ist der Volksglaube, ist die Glaubenswelt ein wichtiger Faktor, ohne jedoch eine Antwort auf die uns bewegende Frage zu geben, warum die Menschen so lange den verschiedenen Glaubensvorstellungen anhingen, sich von ihnen leiten ließen und lassen.

Eine umfassende und ausführliche Antwort gibt uns wiederum nur eine umfassende Untersuchung der gesamten bäuerlichen Kultur- und Gesellschaftsstruktur in ihrer historischen Entwicklung. Wenn wir nur an Einzelerscheinungen denken, etwa daran, daß die ungarischen Bauern an den bösen Blick glauben, der Krankheiten oder das Versiegen der Milch bei den Kühen bewirkt, an Zauberer, Alpe und noch so vieles andere, so erscheint uns all das – aus dem Zusammenhang gerissen – in der Tat unsinnig. Doch noch weitaus unverständlicher und unsinniger ist, daß auch die hohe europäische Kultur, das Leben in der Stadt, bis heute nicht frei ist von „Aberglauben“, der das Verhalten, die Gesten der Menschen und ihre Gefügigkeit magischen Einflüssen gegenüber bestimmt.

Untersuchen wir die ungarische Kulturgeschichte, so fällt auf, daß die bäuerliche Kultur viele Jahrhunderte hindurch keine organische, sondern höchstens eine rein zufällige Verbindung zum Verlauf der geistigen Bewußtseinsentwicklung der herrschenden Klassen hatte. Diese allgemeine europäische Erscheinung ist nicht nur in Ungarn nachweisbar, sondern – mutatis mutandis – auch bei der Bauernschaft anderer Nationen. Die ethnischen Gruppen und sozialen Schichten der Bauern konnten weder mit dem Adel noch mit dem städtischen {G-716.} Bürgertum in der Entwicklung Schritt halten. Ihre Klassenlage, ihr Gebundensein an den Boden und die Natur der bäuerlichen Arbeit hinderten sie, der seit der Renaissance stürmisch voranschreitenden europäischen Kultur und der geistigen Bewußtseinsentwicklung zu folgen und die Auswirkungen des europäischen Rationalismus unmittelbar nachzuvollziehen. Zwar erhielten sie Impulse von den herrschenden Klassen, doch beeinflußten diese nicht ihr Denken und die fundamentalen Eigenheiten ihrer Kultur, sondern wirkten sich eher auf ihre Kleidung oder höchstens auf einzelne ihrer Märchen und Lieder aus. Die Vorstellungen der Bauern von den Erscheinungen der Welt, von Leben und Tod und von ihrem eigenen Platz in der Welt hielten sich jahrhundertelang in den alten Bahnen.

Die bäuerliche Kultur und das bäuerliche Weltbild waren im wesentlichen sozusagen autark. Die Bauernschaft war gezwungen, ihre Fragen überwiegend selbst zu beantworten, ebenso wie der Bauer auf seinem kleinen Hof sein eigener Baumeister, Viehzüchter, Ackerbauer, Meteorologe, Liedersänger und noch vieles andere sein mußte. Das bäuerliche Leben besaß eine zwangsläufige Universalität. Also mußte der Bauer auch seine Fragen nach den letzten Dingen nach eigenem Gutdünken beantworten. So entwickelte er aus dem, was er glauben, sich vorstellen konnte, ein spezifisches Weltbild, das vielfach an die urtümlichen schamanistischen Vorstellungen erinnert, aus denen es – historisch gesehen – hervorgegangen ist. Nach dieser Auffassung stehen überirdische Mächte, Natur und Mensch in einem sehr engen Verhältnis zueinander, das unauflösbar ist. Außerdem ist in diesen Glaubensvorstellungen Überirdisches und Irdisches nicht deutlich voneinander getrennt, eines geht in das andere über, weshalb Wunder nichts Außergewöhnliches sind. Eine Axt, ein einfaches Stück Eisen, kann ein nützliches Handwerkzeug und im nächsten Augenblick ein magisches, unheilverhütendes Hilfsmittel sein, das vor Sturm und Hagel bewahrt. Diese Zusammenhänge und Übergänge sind natürlich in den archaischen Stammeskulturen und in den urtümlichen Glaubensvorstellungen leichter zu erkennen und aufzuspüren als in den bäuerlichen Kulturen.

Die Bauernschaft mußte Erklärungen suchen, besser gesagt, sich in Ermangelung eines besseren an die uralten Auslegungen und Grundsätze halten, mit denen sie die Erscheinungen der Welt deuten und die eigenen Probleme lösen konnte. Deshalb dürfen wir keineswegs in den Irrtum verfallen, den Volksglauben in der alten bäuerlichen Welt nur als etwas Nebensächliches zu betrachten. Er war ein Hauptfaktor, die wichtigste Richtlinie im Leben, die mit ihren vielschichtigen Bräuchen und Geboten den bäuerlichen Lebensweg von der Geburt bis zum Grab begleitete. Auch die Arbeit in der Landwirtschaft war von Volksglauben und Zauberei erfüllt. Fruchtbarkeitszauber galt von der Aussaat bis zur Ernte; auch die Haustierhaltung, der Wurf, die Milch- und die Eiergewinnung waren durchsetzt von Vorstellungen des Volksglaubens, die sich auf alle Gebiete des Lebens erstreckten. Die Befolgung der „abergläubischen“ Riten in der Landwirtschaft war nach Ansicht der Bauern genauso wichtig wie die gute Arbeit selbst. Die Aussaat gelang nur, wenn sie unter glücklichen Umständen erfolgte, und die gute {G-717.} Ernte war ebenfalls den genau vollzogenen Fruchtbarkeitszeremonien zu verdanken.

Wie sehr diese Glaubenswelt alle Sphären des bäuerlichen Lebens durchdrang, geht am besten daraus hervor, daß sie auch in der Zeit der christlichen Religionslehren jahrhundertelang sowohl bei den katholischen wie bei den protestantischen Bauern ihr Eigenleben weiterführte. Bekanntlich stellte die Religiosität der Bauern in ganz Europa ein eigenartiges Gemisch, eine Verflechtung von Christentum und älterer vorchristlicher Glaubenswelt dar. Die christlichen Bräuche und Andachtsübungen wurden mit den lokalen vorchristlichen Traditionen, uralten Überlieferungen und dem später hinzugekommenen bäuerlichen Volksglauben vermischt. Die Religiosität der Bauern entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem recht komplizierten System einander widersprechender Vorstellungen, und die Forscher haben es nicht leicht, die Bräuche unterschiedlichen Ursprungs voneinander zu trennen. Nicht immer gelingt es ihnen, denn die einzelnen Volksbräuche nahmen im Laufe der Zeit immer wieder eine neue Gestalt an, vertauschten ihre Rollen und veränderten sich. Oftmals ist es einfach nicht genau auszumachen, ob ein Volksglaube auf „heidnische“ Tradition zurückgeht, ob er im christlichen Europa entstanden ist oder ob es sich um eine Vorstellung der Bauern aus neuerer Zeit handelt.

Über die Bestimmung der historischen Entstehungsschichten hinaus ist jedoch von entscheidender Bedeutung, daß die geistige Beschaffenheit und die Weltanschauung der ungarischen Bauernschaft, bedingt durch verschiedene historische, gesellschaftliche und kulturelle Faktoren, lange auf einem Entwicklungsstand verharrte, auf dem „abergläubisches“ Verhalten in einer Art Wiederbelebung neugeweckt werden konnte. Die Glaubensvorstellungen hatten ihre erprobten Bahnen und ausgetretenen Wege, so daß der Volksglaube in einer neuen Situation jederzeit wieder als Lösungsmittel und Deutungsmaxime fungieren konnte.

Die Glaubenswelt beeinflußte das religiöse Weltbild, das gesellschaftliche Leben, die landwirtschaftliche Arbeit und die alltäglichen Gewohnheiten der Bauern. Sie erstreckte sich aber auch auf eines der bedeutendsten Gebiete der Volksdichtung, auf die Volksmärchen. Dieses reiche und komplizierte Gebiet des schöpferischen Talents der Bauern hätte sich nicht entwickeln können, wenn das Innenleben der Bauern nicht von derartigen Glaubensvorstellungen durchsetzt gewesen wäre. Die Sphäre der volkstümlichen Epik ist von allerlei Wunder und Zauber durchdrungen. Sie war nur glaubhaft in einer Gesellschaft, deren Weltbild nicht ausschließlich von der Vernunft und der Alltagsrealität, sondern von üppig wuchernden, übernatürlichen Vorstellungen bestimmt wird, und nur hier konnte sie weiter überliefert werden. In einer solchen Gesellschaft und in einer solchen Kulturform blieb das Märchen für die Bauern jahrhundertelang eine gute und glaubwürdige Unterhaltung. Das heutige Schicksal und die Umdichtung der Volksmärchen sind ebenfalls ein Beweis dafür: Mit der Zerstörung der Glaubenswelt verkümmern zuerst die Zaubermärchen, und am längsten halten sich die Anekdoten und die lokalen epischen {G-718.} Geschichten, die der Wirklichkeit, der wahrnehmbaren Welt scheinbar am nächsten stehen.

Da die Glaubenswelt der ungarischen Bauern auf allen Gebieten des Lebens vertreten ist, kann an dieser Stelle kein vollständiger Überblick gegeben werden; wir wollen nur einige typische und wichtige Fragen beleuchten. Bei der Behandlung verschiedener Gebiete der Volkskultur ist bereits auf einzelne Züge der Glaubenswelt hingewiesen worden.