Die Glaubenswelt des ungarischen Volkes | INHALT | Das bäuerliche Weltbild |
Unter den Gestalten aus der Welt des ungarischen Volksglaubens ist als erste die des táltos (sprich: Taltosch = Magier) zu nennen, die die meisten Züge des Schamanenglaubens aus der Zeit vor der ungarischen Landnahme bewahrt hat. Das Wort táltos selbst stammt vermutlich aus dem Finno-Ugrischen; die finnische Wortentsprechung hat die Bedeutung „Wissender“, so wie vielfach im ungarischen Dialekt Menschen mit übernatürlichen Kräften als „Wissende“ bezeichnet werden. Eigenschaften und Rüstzeug des Táltos sind heute hauptsächlich den Volkssagen zu entnehmen, die vor allem im Osten Ungarns noch in der Erinnerung der älteren Menschen lebendig sind.
Der Táltos ist im allgemeinen gutgesinnt und eher hilfsbereit als böse. Sein Wissen erwirbt er nicht aus eigenem Antrieb, er besitzt es ganz einfach, wie einer im Verhör 1725 aussagte: „Das Táltos-Wesen wird von niemandem gelehrt, Gott formt es schon im Mutterleib.“ Vergeblich widersetzen sich Eltern und Verwandtschaft; wen das Schicksal zum Táltos ausersehen hat, der muß seinen Weg bis zu Ende gehen.
Bei der Geburt werden die Kinder sorgfältig untersucht, ob sie eventuell mit Zähnen oder sechs Fingern an der Hand auf die Welt gekommen sind, denn das wird als Vorzeichen gewertet, daß das Kind einmal ein táltos wird. Allerdings wird es dann auch noch unweigerlich für drei oder mehr Tage von den Ahnen geraubt werden. In der Aussage eines Angeklagten, der 1720 der Kurpfuscherei beschuldigt wurde, heißt es „… nachdem er neun Tage tot gelegen und das Jenseits von ihm Besitz ergriffen hatte, stand er vor Gott, doch Gott schickte ihn zurück, er kehrte wieder, um zu heilen und zu kurieren“. Diesen Zustand der Abwesenheit nannte man elrejtezés (sich verbergen), ebenfalls ein Wort finno-ugrischen Ursprungs, das formale und inhaltliche Entsprechungen bei verschiedenen verwandten sibirischen Völkerschaften hat.
Man glaubte, daß der zum Schamanen Auserwählte während des Schlafs von den übrigen zerstückelt wird, da diese den überzähligen Knochen, das Zeichen der Vorsehung, bei ihm feststellen wollen. Dieses Motiv kommt auch in der ungarischen Version des allbekannten Märchens „Der Zauberer und sein Schüler“ (AaTh 325) vor: Der geraubte Jüngling wird zerstückelt und in der Regel am dritten Tag wieder zusammengelegt, womit er ein höheres Wissen erwirbt.
Damit aber ist der Kampf und die Bewährung des Táltos-Anwärters noch nicht beendet, denn er muß auch noch eine Prüfung ablegen. Diese kann darin bestehen, daß er auf einen bis zum Himmel reichenden Baum klettert; wenn er von der Spitze des Baumes unversehrt zurückkehrt, darf er sein zuvor erworbenes Wissen anwenden.
{G-719.} Die Überlieferungen berichten auch von der Ausrüstung des Táltos. Am häufigsten werden verschiedene Arten des Kopfschmucks erwähnt: Federbüschel oder Hörner, die meistens den Rinderhörnern gleichen, manchmal aber auch ein Hirschgeweih sein können. Die Erinnerung an die Schamanentrommel ist in der Vorstellung noch recht lebendig, hinzu gesellt sich oft das Sieb (szita), das in Kinderversen und auch in den Johannistagsgesängen vorkommt:
Gott, gib deinen Segen, |
Einen stillen Regen. |
Sieb-, Sieb-Freitag, |
Lieb-, Lieb-Donnerstag |
Bock-Mittwoch. |
Bei den Ungarn im Moldaugebiet tragen die Masken anläßlich der Neujahrszauberei ein Sieb, an dem seitlich Schellen oder Rasseln angebracht sind. Ein solches Instrument hat der Táltos einst ebenso wie der sibirische Schamane zum Heilen von Krankheiten, zum Wahrsagen und zur magischen Beschwörung von Reichtum und Überfluß verwendet. Der Schamanenbaum, der bereits in der Zeit der heidnischen Empörungen gegen das oktroyierte Christentum (11. Jahrhundert) erwähnt wird, blieb fast bis in die Gegenwart bekannt. Anfang des vorigen Jahrhunderts wird noch von einem Táltos aus Sárrét berichtet: „Er geht hinaus, er weiß, wohin, und wenn er auf den hohen Baum geklettert ist, erfährt er, was für ein Hund im Schulzen wohnt. Und er handelt, wie er will, er bestimmt, was mit dem Schulzen wird und was mit dem Dorf geschieht.“ Dieser Baum also, der in der dekorativen Volkskunst immer derart dargestellt wird, daß ein kleiner Vogel zuoberst auf dem Wipfel sitzt, ist Instrument und zugleich Symbol der übernatürlichen Kräfte des Táltos.
Unter den Handlungen des Táltos ist vor allem die Ekstase, im Ungarischen rejtezés (sich verbergen) oder révülés (Verzückung), zu nennen. Die Wurzel beider Worte ist bis in die finno-ugrische Zeit zurückzuverfolgen, wo sie mit der Schamanenzeremonie in Verbindung standen. (Allerdings ist bekannt, daß die religionspsychologische Bedeutung der Ekstase nicht nur zum Weltbild des Schamanismus gehörte, sondern auch bei archaischen Glaubensvorstellungen und in antiken Religionstraditionen vorkam.) Der Táltos, der Wissende, kann nämlich nur im Zustand der Ekstase Verbindung zu übernatürlichen Wesen oder dem Geist der Verstorbenen aufnehmen.
Eine andere Handlung des Táltos, von der Volkssagen im ganzen ungarischen Sprachgebiet berichten, ist der Táltos-Zweikampf (táltosviaskodás). Der Táltos muß in Gestalt eines Stiers, eines Hengstes oder eines Feuerrades von Zeit zu Zeit mit den anderen Táltos aus dem Nachbargebiet kämpfen. Im Bericht über einen Grenzstreit aus der Tiefebene vom Jahre 1620 heißt es zum Beispiel: ,,… der Táltos von Békés maß seine Kräfte mit dem Táltos von Doboz, der Táltos von Doboz konnte dem Táltos von Békés standhalten.“ Der fremde Stier ließ sich gewöhnlich von einer Wolke herab und brachte Sturm mit sich. Dem einheimischen Stier konnten auch Menschen helfen.
Bruchstücke des einstigen Schamanengesangs läßt der Refrain „haj, {G-720.} regö rejtem“ der ungarischen regös-Gesänge ahnen, der vermutlich soviel wie „mit Zauber verzaubere ich“ oder um dem Schamanismus näherzubleiben „mit Verzücken verzücke ich“ bedeutet. Hier ist zu bemerken, daß sich in der Sprache der Obugrier, die der ungarischen Sprache am nächsten verwandt ist, die Bezeichnung für den Schamanengesang aus dem Wort kai, kei entwickelt hat, dem die ungarische Interjektion haj, hej etymologisch am genauesten entspricht. Das ungarische Wort hajgatás oder auch hejgetés dürfte demnach die Bezeichnung für den ungarischen Schamanengesang sein.
Bei der Erforschung der Gestalt des Táltos, des ungarischen Schamanen, hat sich der kürzlich verstorbene Wissenschaftler Vilmos Diószegi unvergängliche Verdienste erworben. Bei der Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse stellte er fest: „Die Bestimmung des Táltos-Anwärters durch Krankheit, der lange Schlaf, des weiteren das durch Zerstückelung seines Körpers oder durch die Suche nach dem ,überzähligen Knochen‘ erworbene Wissen und seine Weihe durch das Erklettern eines himmelhohen Baumes sind im einzelnen und auch im Komplex eine lebhafte Widerspiegelung der Vorstellungen, die sich die Ungarn zur Zeit der Landnahme vom Táltos-Anwärter machten. In der Hand des Táltos die Schellentrommel mit einem Boden, die auch als Reittier dient, sein Kopfschmuck aus Eulenfedern oder Geweih und sein eingekerbter oder leiterförmiger ,Baum‘, auf dem Sonne und Mond vorhanden sind, enthüllen uns die Ausrüstung der Táltos-Gestalten des ungarischen Volkes bei seinem Einzug ins Karpatenbecken; die Ekstase des Táltos, sein darauffolgender Kampf in Tiergestalt und die Geisterbeschwörung durch Ausrufe lüften den Schleier um die Handlungen der einstigen ungarischen Schamanen.“ So ist die Gestalt des Táltos aus der Welt des ungarischen Volksglaubens nahezu bis in die Gegenwart eng mit dem Schamanismus Osteuropas und Asiens verknüpft.
Eine andere Gestalt der ungarischen Glaubenswelt ist der garabonciás (Zauberer, Schwarzkünstler). Sie wurde aus dem Westen übernommen und hat sich im Laufe der Jahrhunderte stark mit den Vorstellungen vom Táltos vermischt. Die Bezeichnung selbst ist vielleicht auf das italienische Wort gramanzia (Zauberei, Teufelei) zurückzuführen. Der garabonciás ist zu Gutem und Bösem gleichermaßen bereit, er kann Sturm heraufbeschwören, und seine Zaubereien entnimmt er einem Zauberbuch; denn eigentlich ist er eine Abart des fahrenden Scholaren aus dem Mittelalter, der an der Universität sieben oder auch dreizehn Schulen hinter sich gebracht hat. Hier hatte er sich die schwarze Magie zu eigen gemacht, die er auf seinen Wanderungen auch zu den Bauern brachte. Die Scholaren klopften bei den Bauern an und baten sie um Milch oder Eier. Lehnten die Bauern ihre Bitte ab oder gaben sie nur wenig, ließen sie Sturm aufkommen und Hagel über die ganze Flur des Dorfes niedergehen, während sie selbst auf dem Rücken eines Drachen davonritten. Es scheint, als ob der garabonciás für rachsüchtiger und gefährlicher gehalten wurde als der Táltos. Zweifellos vertritt er in der Welt des ungarischen Volksglaubens eher die europäische schwarze Magie.
Die Bezeichnung boszorkány (Hexe) geht auf das Alttürkische zurück. {G-721.} Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man darunter zumeist eine weibliche Gestalt, obwohl es im ungarischen Volksglauben sowohl Hexen wie Hexer gibt, die beide mit boszorkány bezeichnet werden. Vielerorts wird die Hexe auch bába oder vasorrúbába (Hexe mit der Eisennase) genannt. Das Wort bába kommt aus dem Slawischen, wo es zugleich die Bedeutungen „alte Frau“ und „Hexe“ hat. So wie die Bezeichnungen mehrdeutig sind, stammen auch die Charakterzüge der ungarischen Hexe aus verschiedenen Schichten. Mit ihrer Gestalt sind die vielfältigen Praktiken und Bräuche verbunden, die in der ungarischen Sprache unter babona (Aberglauben) zusammengefaßt werden. Dieses Wort ist ebenfalls slawischen Ursprungs; möglicherweise haben die Ungarn es aus irgendeinem altrussischen Dialekt übernommen, so wie es auf diesem Gebiet überhaupt zahlreiche Elemente gibt, die auf einen ostslawischen Kontakt der Ungarn vor ihrem Einzug ins Karpatenbecken hinweisen.
Am Erwerb ihres Wissens waren die Hexen im ungarischen Volksglauben im allgemeinen aktiv beteiligt. Meistens eigneten sie es sich um Mitternacht an einem Kreuzweg an, wo sie mit einem Stock einen Kreis um sich zogen und diesen auch auf die Gefahr hin, von einem vierspännigen Wagen überfahren oder von einem Stier umgerannt zu werden nicht verlassen durften; auch ein Mühlstein an einem Zwirnsfaden konnte sich über ihnen drehen und sie auf die Probe stellen. Gelang es ihnen, die Angst zu unterdrücken, erwarben sie Hexenmacht. Andere Möglichkeiten für den Erwerb übernatürlicher Fähigkeiten waren, das Fleisch einer schwarzen Katze zu verzehren oder um Mitternacht auf dem Friedhof zu weilen; doch kam es auch vor, daß sie ähnlich den Schamanen auf einen Baum kletterten oder sich an dem Stiel einer Distel hochzogen und von dort mit Hexenwissen zurückkehrten. Am häufigsten wurde die Hexerei in der Familie vererbt: Die sterbende Hexe übergab ihr Wissen auf dem Totenbett durch Händedruck an die jüngere Generation. Auf welche Weise auch immer eine angehende Hexe ihr Wissen erwarb, sie mußte etwas dafür tun, gleichzeitig stand es aber auch in ihrer Macht, die Hexenweihe abzulehnen.
Wenn die Hexe jedoch erst einmal ihr Wissen besaß, dann konnte sie nicht mehr davon loskommen; die übrigen Hexen hätten sie nicht in Frieden gelassen, und sie wäre ihr ganzes Leben lang unglücklich gewesen. Man glaubte, daß die Hexe nach dem Tode für ihre Taten zu büßen habe, daß sie in die Hölle käme oder ihre sündige Seele von Schlangen oder Fröschen zerrissen werde.
Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gab es in ganz Europa eine Welle der Hexenverfolgung, die in etwas abgeschwächter Form auch Ungarn erreichte. Das erste Mal wird in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausführlicher darüber berichtet: „Ich könnte auch über nachts umgehende Frauen viel erzählen, sie springen des Nachts in Gestalt einer Katze; viele gehen wie Reitersmänner umher, sie lärmen, tanzen, saufen und buhlen untereinander, mit einem Fuß stoßen sie kleine Kindlein ins Meer, verursachen Schaden und spielen viele mutwillige Streiche. Vor nicht langer Zeit, um 1574, wurden bei Pozsony (Preßburg) viele von ihnen verbrannt, sie hatten allerlei schreckliche Dinge gestanden. Sie haben eine Königin, auf deren Wort praktiziert der Teufel {G-722.} Fürchterliches.“ Den Hexen suchte man ängstlich auszuweichen, nicht selten mieden sogar die Steuereintreiber ihr Haus. In Ungarn gab es zwar häufig Hexenprozesse, doch größere Hexenverbrennungen, wie sie im Westen auf der Tagesordnung standen, waren hier seltener. 1728 fanden in Szeged neun als Hexen beschuldigte Frauen auf dem Scheiterhaufen den Tod; drei weitere wurden ein Jahrzehnt später in Debrecen verbrannt.
Aus den zahlreich überlieferten Geständnissen der Hexenprozesse geht hervor, daß die Hexen bestimmte, örtlich unterschiedlich aufgebaute Organisationen bildeten. Die Leiter waren in der Regel Männer, wie zum Beispiel aus dem Komitat Békés 1722 berichtet wird: ,,… András Harangöntõ war ein sehr berühmter Hexenmeister, der nicht nur kurierte, zauberte und hexte, sondern auch der Kopf, der Meister einer Hexenbande war, die seinen Angaben nach im Gebiet unseres Komitats eine organisierte Vereinigung darstellte.“ In derartigen Organisationen gab es Kapitäne, Leutnante, Fähnriche, Korporale, Schreiber usw. Diese Dienstgrade hatte man ebenso wie im Westen, vor allem bei den deutschen Hexen von der Armee übernommen. Aus den Überlieferungen geht auch zweifelsfrei hervor, daß der ungarische Hexenglaube ab Mitte des 17. Jahrhunderts unter starkem deutschem Einfluß stand, von dem gewisse Elemente bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind.
Andererseits bewahrte der ungarische Hexenglaube aber auch unbestritten schamanistische Züge. Es seien nur einige hier genannt: Die Hexen tragen Hörner, und der Wissende, der am Heiligabend zur Mitternachtsmesse auf dem Luzienstuhl sitzt, kann sie erkennen. Zur Ausrüstung der Hexen gehört, wie Hexenprozeßakten belegen, auch die Trommel. In einem Geständnis aus Szeged vom 18. Jahrhundert heißt es: ,,… die kupferne Trommel befindet sich in Felsõváros bei einer feisten Bettlerin, die ihren achtzehnjährigen Sohn unterweisen will. Auf Befehl der Kapitäne Dániel Rósa und Ferenc Borbola will sie ihn einschreiben lassen. Die feiste Bettlerin ist eine Hexe, doch da sie schon alt ist, kann sie nicht mehr mit der Trommel umgehen, deshalb erhielt sie den Befehl. Die Trommel war so groß wie ein Pintentopf“ Vermutlich war für den Beschluß, den jungen Burschen in die Geheimwissenschaft einzuweihen, nicht so sehr das Gewicht der Trommel als vielmehr die zu große körperliche und seelische Erschöpfung infolge der Ekstase ausschlaggebend. Aus dem Bodrogköz ist bekannt, daß Hexen dem Schlafenden Knochen herausnehmen, was an die Suche nach dem überzähligen Knochen des Táltos erinnert. Die Hexen wollten mit diesem Knochen Wissen erwerben oder vermehren.
Die Hexen trafen sich regelmäßig, vergnügten sich und tanzten auf einem Berg, einer Insel oder am Waldrand. In Ungarn gibt es bis heute viele geographische Namen, die darauf hinweisen. Der bekannteste Hexentreffpunkt, den man für das Landeszentrum der Hexen hielt, war der Gellértberg am Ufer der Donau, mitten in Budapest. Dazu muß man wissen, daß laut Überlieferung die heidnischen Ungarn, die nicht gewillt waren, sich zum Christentum zu bekehren, den Bischof Gellért (Gerhardus) eben von diesem Berg (ursprünglich: Blocksberg) in einem Faß heruntergerollt und in die Donau geworfen haben. In der {G-723.} Vorstellung des Volkes versammelten sich die Hexen auf dem Blocksberg und flogen von hier aus viele hundert Kilometer weit. Wie aus einer 1794 in Kaschau erschienenen Predigtsammlung zu entnehmen ist, ängstigte zum Beispiel ein Prediger seine Gläubigen wie folgt: „Von den Hexen, den reitenden Teufeln, heißt es, daß sie den Menschen satteln und zum St. Gellértberg oder wer weiß, wohin reiten; durch bloßes Ansehen bringen sie einen leeren Wagen zum Stehen, so daß er nicht mehr von der Stelle zu bewegen ist; sie schaden Kühen, Kälbern und kleinen Kindern auf tausend und abertausenderlei Weise, allein durch ihren Blick, durch bloßes Ansehen.“ Ungarische Sammlungen aus der jüngsten Vergangenheit geben ebenfalls an, daß der Gellértberg im Umkreis von 200 bis 300 Kilometern als Hexentreffpunkt angesehen wurde. Angeblich flogen sogar Hexen aus dem Szeklerland hierher.
Schaden stifteten die Hexen gewöhnlich nicht in ihrer eigenen Gestalt, sondern sie verwandelten sich dazu in irgendein Tier. Am häufigsten erschienen sie in Gestalt einer Katze. Vor allem in der Nacht zum Georgstag (24. April) pflegten sie den Kühen die Milch zu nehmen, weshalb die Bauern einen spitzen Gegenstand, meistens eine Egge, vor die Stalltür legten und selbst mit der Heugabel aufpaßten, daß sich die Katze nicht in den Stall hineinstahl. Es werden auch Hexen als Gans, Ente, Huhn, Glucke oder Küken erwähnt, sogar als Hund oder Pferd konnten sie erscheinen. Von allen Haustieren werden die Rinder interessanterweise nicht genannt, nur die Rinderhörner, wenn die Hexen Hörner trugen, wobei sie aber ihre menschliche Gestalt behielten. Unter dem Wild waren Fuchs und Hase die häufigsten Verwandlungsformen der Hexen. Entsprechungen dieses Glaubens sind vor allem im Westen Europas zu finden.
Die ungewöhnlich vielfältigen Hexereien bedrohten alle Gebiete des Lebens. Ganz allgemein können sie unter der Kategorie Verwünschungen zusammengefaßt werden. Mit dem bösen Blick verwünschten die Hexen kleine Kinder, trennten sie Verliebte oder brachten gemäß ihrem Willen auch junge Leute zusammen. Menschen und Vieh konnten sie gleichermaßen Krankheiten anhexen. Ihre Verwünschungen brachten Mißernten und nahmen der Kuh die Milch, den Hühnern die Eier. Vor noch größerem Wissen und noch stärkerer Macht allerdings mußten auch die Hexen sich beugen und das Weite suchen.
Als ein solcher Höherer wurde vor allem in Gegenden der Tiefebene der wissende Hirt (tudós pásztor) angesehen. Er besaß übernatürliche Kräfte, mit denen er nicht nur die eigene Herde und seine Interessen verteidigte, sondern auch immer bestrebt war, anderen zu helfen und die Verwünschungen der Hexen fernzuhalten. Sein Wissen erwarb er ähnlich wie die Hexen durch aktives Zutun auf einem Kreuzweg, durch die Übernahme irgendeines Hirtengegenstandes (Stock, Ranzen, Peitsche usw.) oder indem er einem sterbenden wissenden Hirten die Hand drückte.
Der wissende Hirt hatte in jeder Beziehung Macht über das Vieh. Wenn er wollte, konnte er auch die Herde eines anderen auseinandertreiben, so daß die Tiere mehrere Tagesmärsche entfernt umherirrten; doch wenn er auf einen besonderen Baum kletterte und sie rief, kamen sie aus dieser großen Entfernung wieder zurück. Dem Vieh eines {G-724.} wissenden Hirten konnten die nicht eingeweihten Hirten nicht schaden. Am Georgstag hatte dieser nämlich rings um die Weide Rauch aufsteigen lassen, so daß sein Vieh nicht mehr aus der Weide ausbrechen konnte. Man glaubte, die Kraft des Hirten sei in seinem Stab oder in seiner Peitsche verborgen. In die Peitsche hatte der wissende Hirt die Haut einer Schlange eingeflochten, die sich noch vor dem Georgstag gehäutet hatte; mit dieser Peitsche konnte er das ihm anvertraute Vieh auf jeden Weideplatz treiben.
Miteinander wettstreitende wissende Hirten hetzten oft einen Stier aufeinander. Der Hirt mit dem größeren Geheimwissen schützte sich durch einen Rauchkreis, oder er zähmte den angreifenden Stier, indem er sich Salz auf den Hut streute. War seine Macht in der Tat größer, konnte er den Stier sogar umkehren und dessen eigenen, weniger wissenden Besitzer jagen oder aufspießen lassen. Hatte sich eine Pferdeherde verlaufen, konnte sie der wissende Hirt oft durch Klopfen auf den ausgebreiteten Szûrmantel aus großer Entfernung zurückholen.
Mit den Hexen standen die wissenden Hirten in ständigem Kampf, denn sie mußten die Verzauberung der Kühe, das Versiegen ihrer Milch verhindern. Es gelang ihnen, nicht nur aufzuklären, wer der Kuh die Milch genommen hatte, sie vermochten die Hexe auch an den Ort ihrer Tat zurückzuzitieren, indem sie die Milch mit einem Beil schlugen, ein Stück vom Kleid der Hexe verbrannten oder allerlei andere magische Beschwörungen vornahmen, und sie zwangen die Schuldige dann, den Schaden in irgendeiner Form wiedergutzumachen. Der wissende Hirt heilte mit übernatürlichen, aber auch mit praktischen Heilmethoden das Vieh der eigenen Herde und anderer Herden. Er verstand sich auf allerlei, so auch auf Binden und Lösen, Verzaubern und Aufhebung des Zaubers.
Der wissende Hirt gehört zur gleichen Gruppe wie der wissende Kutscher, eine verwandte Gestalt des ungarischen Volksglaubens. Sein Wissen erwirbt er durch irgendein Hilfsmittel. Ein Hufnagel oder eine wunderbare Peitsche können ihm übernatürliche Kräfte verleihen, allerdings nur, wenn er sie für eine symbolische Summe gekauft hat. Die bedeutsamste Fähigkeit des wissenden Kutschers ist das Anhalten, das Bannen von Pferdefuhrwerken und Wagen, so daß sie sich nicht von der Stelle fortbewegen können. Aber er vermag auch den Zauber wieder zu lösen, gleichviel, ob er selbst oder ein anderer die Bannung vollzogen hatte. Er klopft mit dem Beil auf die Speichen oder berührt damit oder mit einer Weinflasche das Ende der Deichsel. Manchmal bindet er einen Knopf an das Ende seiner Peitschenschnur und schlägt damit dem weit entfernten Verzauberer die Augen aus, damit der Wagen weiterfahren kann. Wenn es erforderlich ist, kann er sich mit Pferd und Wagen in die Luft erheben. Wenn das Pferd durch Überanstrengung auf der Fahrt verendet, gelingt es ihm trotzdem, mit diesem Pferd noch Haus und Hof zu erreichen; erst dort angekommen, bricht es dann zusammen.
Eine weitere interessante Fähigkeit des wissenden Kutschers: Er kann den Strohsack in ein Pferd verwandeln und sich mit ihm auf den Weg machen. Darin sind Elemente eines bestimmten schamanistischen {G-725.} Brauches aus der Zeit vor der ungarischen Landnahme zu erkennen: Man stopfte die Haut des geopferten Pferdes mit Stroh aus und glaubte, daß es dem Toten im Jenseits wieder lebendig zur Verfügung stünde. Von der Gestalt und den Handlungen des wissenden Kutschers und des wissenden Hirten geben die Volkssagen vor allem aus dem Gebiet östlich der Theiß ein ausgeprägtes und abgerundetes Bild.
Zu den Menschen mit übernatürlichen Kräften gehörten auch die Müller, die im ganzen ungarischen Sprachgebiet insbesondere dafür bekannt waren, daß sie Ratten aussenden oder vertreiben konnten.
Der Glaube an die übernatürlichen Kräfte und Fähigkeiten der Geisterseherinnen (léleklátó) und Wahrsager (javas ember) hat sich nahezu bis in die Gegenwart erhalten. Ihre Tätigkeitsgebiete liegen auf verschiedenen Ebenen. Einige konnten mit dem Geist längst oder kürzlich Verstorbener Kontakt aufnehmen und Botschaften übermitteln. Bekanntere Seherinnen wurden oft von weither aufgesucht, besonders in Kriegszeiten, wenn die Angehörigen etwas über ihren verstorbenen oder verschollenen Sohn oder Bruder erfahren wollten. Andere wieder vermochten durch Gesundbeten Kranke zu heilen. Die Wahrsager konnten die Zukunft voraussagen. Die meisten von ihnen waren stark religiös, doch ihre Umtriebe brachten sie in diesem Jahrhundert mit kirchlichen und weltlichen Behörden in Konflikt. Interessant ist, daß es auch einige Seherinnen oder Wahrsagerinnen gab, die ihr Wissen nicht durch ihr Zutun, sondern wie der táltos im Schlaf, in der Entrückung (elrejtezés) erworben hatten. Hier zeigt sich, wie die ältesten Glaubensformen unter neuen Verhältnissen weiterleben.
Bei den bisher Aufgezählten handelte es sich durchweg um Menschen, die inmitten einer Gemeinschaft lebten oder zumindest ab und zu dort auftauchten. Vom durchschnittlichen Alltagsmenschen unterschieden sie sich nur darin, daß sie auf dem einen oder anderen Gebiet übernatürliche Kräfte besaßen, die sie im Guten oder im Bösen, im eigenen Interesse sowie zum Nutzen oder Schaden anderer gebrauchten. Darüber hinaus gibt es aber in der ungarischen Glaubenswelt auch übernatürliche Gestalten, wenngleich in kleinerer Zahl und von geringerer Bedeutung.
Der Ursprung des ungarischen Wortes lidérc (böser Geist, Dämon) konnte bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden. Es werden damit verschiedene Gestalten bezeichnet, die unterschiedlichen eurasischen Glaubensvorstellungen entsprechen. Zu ihnen gehört zum Beispiel das sonderbare Geisterhuhn (lidérccsirke), das jemand ausbrüten kann, indem er ein Ei unter der Achsel wärmt. Es erfüllt seinem Besitzer jeden Wunsch, macht ihn reich, kann aber auch Gefahr für die Gesundheit bringen. Wer einmal ein solches Geisterhuhn hat, kann sich sein ganzes Leben lang nicht mehr davon befreien oder wird es zumindest nur sehr schwer wieder los. Mancherorts versteht man unter lidérc auch einen in Menschen- oder Tiergestalt erscheinenden Liebesdämon, der die Frau oder den Mann mit Liebesleidenschaft zugrunde richtet, oftmals zu Tode quält. Und schließlich kann lidérc auch ein Irrlicht bedeuten, das als Geist eines Verstorbenen, der aus irgendeinem Grunde nicht zur Ruhe kommen kann, in der Gegend, in der er einst gelebt hat, herumirrt.
{G-726.} Hieran knüpft sich der Glaube vom fliegenden Landvermesser (bolygó mérnök) der in seinem Leben das Land falsch vermessen und die armen Leute betrogen hat; nun kann er keine Ruhe finden. Mit Lampe und Kette irrt er durch die Flur, um das verteilte Land noch einmal zu vermessen. Da er keinen Gehilfen hat, ist er gezwungen, von einem Ende der Vermessungskette bis zum anderen zu laufen. Allgemein hält man ihn für einen guten Geist, aber wenn ihm jemand direkt über den Weg läuft oder ihn bei seiner Arbeit behindert, dann stößt er diesem die Lampe vor die Brust.
Die Seele des Verstorbenen verläßt den Körper und irrt zunächst noch ums Haus, um zu beobachten, ob die Beerdigung ordnungsgemäß nach Brauch und Sitte vollzogen wird. Nach der Beerdigung steht sie solange am Friedhofstor, bis sie von der Seele des nächsten Verstorbenen abgelöst wird; nun erst ist sie frei allerdings nicht jede Seele, denn einige können nach dem Volksglauben im Jenseits nicht zur Ruhe kommen und kehren von Zeit zu Zeit wieder ins Diesseits zurück. Entweder hatten sie keine Gelegenheit, sich von ihren Angehörigen zu verabschieden, oder dringliche Angelegenheiten zu erledigen. Auch die Seelen von Geizigen, die gestohlen und betrogen oder anderen sonstwie Schaden zugefügt haben, kehren zurück, und zwar selbst dann, wenn die Hinterbliebenen ihr alles, was sie besessen hat, in den Sarg gelegt haben. Und ruhelos bleibt die Seele des Verstorbenen, wenn seine kleinen Kinder schlecht behandelt werden oder die Erben sich um die Hinterlassenschaft streiten. In solchen Fällen kehrt sie auf die Erde zurück, bringt alles durcheinander, läßt Bilder von der Wand fallen und Teller zerspringen. Die Verwandten bemühen sich, den Grund für das Umherirren der Seele herauszufinden. Wenn es ihnen nicht gelingt, muß der Tote wieder ausgegraben, umgedreht und mit einem langen Nagel an den Boden des Sarges geschlagen werden.
Das Gespenst (kísértet) ist eine Seele, die aus irgendeinem Grund zu ständigem Umherirren verurteilt ist, bis sie erlöst wird. Ein Palotze, der einem Gespenst begegnete, grüßte es deshalb mit den herkömmlichen Worten:
„Jede fromme Seele lobe den Herrn!“
Worauf die umherirrende Seele schwer seufzend antwortete: „Auch ich würde Ihn loben, wenn ich nur könnte!“
Dann stöhnte sie schmerzlich auf, denn sie mußte ständig den Grenzstein mit sich umherschleppen, den sie zu Lebzeiten versetzt hatte, um das eigene Ackerland zu vergrößern: „O wie schwer! Wohin soll ich ihn tun?“
„Wenn er dir zu schwer ist, setz ihn dorthin zurück, von wo du ihn weggenommen hast!“
Folgte das Gespenst der Aufforderung, konnte es günstigenfalls von dem Fluch befreit werden und seine Ruhe wiederfinden.
Gespenster erschienen in vielfältiger Gestalt. Häufig begegneten sie dem Menschen als Pferd, Kalb, Ferkel, Hase, Hund, Katze oder Gans. Meistens sind sie gutartig und tun dem Menschen nichts, höchstens folgen sie dem, der ihnen entgegentritt und sie schreckt. Wesentlich gesprächiger sind diejenigen, die in der Gestalt irgendeines Bekannten oder einer Bekannten auftreten. Sie bitten zum Beispiel, von einem {G-727.} Fuhrwerk mitgenommen zu werden; dieses kann sich dann in der Regel aber nicht mehr von der Stelle rühren, weil es durch ihr Gewicht überlastet ist und die Pferde, die die Anwesenheit des Gespenstes wittern, wild werden. Andere Gespenster wieder locken Menschen in Gestalt eines Bekannten ins Moor oder in den Fluß, wo sie den Tod finden. Diese Bedeutung schwingt auch in dem ungarischen Wort für Gespenst kísértet mit, das in der übertragenen Bedeutung kísért (in Versuchung führen) bis zu den Ugriern zurückzuführen ist.
Zu den weiblichen Gespenstern gehört die Wilde (vadleány) der Szekler, die man in den übrigen Teilen Siebenbürgens und im Bodrogköz auch Fräulein (kisasszony) nennt. Sie ist im allgemeinen ein guter Geist. Wenn man sie nicht anspricht, dann geht sie still vorbei; manchmal läßt sie sich auch von einem Wagen mitnehmen. Wenn man sich ihr aber widersetzt, sie neckt oder in ihrer Gegenwart vielleicht sogar flucht, gerät sie in Zorn und zerbricht alles, was ihr in die Hände fällt. In Siebenbürgen dichtet man ihr auch bestimmte menschliche Züge an. Man kann sie fangen und zur Frau nehmen, denn sie verlockt die Männer.
Die Welt des ungarischen Volksglaubens kennt noch viele andere Gestalten, die aber seltener oder nur lokal begrenzt auftreten. Ganz allgemein ist zu sagen, daß Zwerge, Riesen, Feen, Gnomen, Nixen, Hausgeister und andere Gestalten, wie sie vorwiegend bei den Völkern der westlichen Länder oft vorkommen, relativ selten anzutreffen sind. Einigen von ihnen kann man in ungarischen Märchen begegnen.
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