{G-752.} Die Volkskultur in der Gegenwart und in der Zukunft

In den Klassengesellschaften teilt sich nicht nur die Gesamtheit der Nation in zwei Teile, sondern auch die Kultur. So bestehen in jedem kapitalistischen Land zwei gut voneinander abgrenzbare Kulturen nebeneinander: die Kultur der herrschenden und die Kultur der unterdrückten Klassen. Und so verhielt es sich auch in der Feudalgesellschaft, obwohl die Unterschiede im Mittelalter keineswegs so tiefgreifend waren wie in späteren Jahrhunderten, denn ein großer Teil der Adligen und Grundherren konnte weder lesen noch schreiben, und auch sie hatten nur durch mündliche Überlieferung Zugang zu ihrer Bildung, die dadurch der Kultur der Bauern nahestand. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sangen die Adligen am Hofe König Matthias’ laut Aufzeichnungen eines italienischen Geschichtsschreibers dieselben Weisen wie die Bauern, und überhaupt war sich die Kultur der Adligen und der Leibeigenen auf vielen Gebieten ähnlich. Bálint Balassi, ein hervorragender, hochgebildeter ungarischer Poet des 16. Jahrhunderts, war, obwohl aus adligem Stand, ein so virtuoser Künstler des Schäfertanzes, daß seine Tanzdarbietung vor dem königlichen Hof eigens aufgezeichnet wurde.

Mit der Zeit entfernte sich die Kultur der herrschenden Klassen immer mehr von der des Volkes. Eine bedeutende Rolle spielte dabei die Schriftkundigkeit. Die Schule sicherte vor allem den Privilegierten Bildungsmöglichkeiten, wodurch gleichzeitig auch der Kontakt zur allgemeinen europäischen Bildung hergestellt wurde. Von alldem konnte die schriftunkundige Bauernschaft nur auf indirektem Wege etwas erfahren. Die Massen der Bauern waren in allen Bereichen des Lebens zu physischer Leistung gezwungen. Trotzdem schufen sie sich in der Produktion, in der Kultur und der Kunst ihren eigenen, spezifisch gefärbten Lebensbereich, der von der historischen Situation der Vergangenheit und Gegenwart, von den ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt wurde und sich dementsprechend auch landschaftlich unterschied.

Ein Hauptmoment dieser Volkskultur ist die Überlieferung, die darin besteht, daß die Gesamtheit und einzelne Elemente der Kultur, die Erfahrungen, mündlich und durch Beispiel von einer Generation auf die andere übergehen. Viele Jahrhunderte hindurch werden sie weder schriftlich fixiert noch in der Fläche oder im Raum dargestellt. Dazu kommt eine andere Eigenschaft der Volkskultur, ihre Zwiespältigkeit. Sie ist außerordentlich wandlungsfähig, besitzt aber zugleich die Kraft, Archaisches zu bewahren. Der Widerspruch ist nur scheinbar, denn während sich einzelne Elemente ungewöhnlich kräftig erhalten, werden andere – zum Beispiel von den Sängern, den Märchen- und Sagenerzählern je nach Talent – umgestaltet; diese Träger der Folklore verbinden verschiedene Elemente und Motive entsprechend ihrem Wissen und ihrem Geschmack miteinander, so daß sich Inhalt und Form im Vortrag einer besonders talentierten Persönlichkeit verändern und {G-753.} vervollkommnen. Nicht anders war es in der materiellen Kultur: Es gab stets mit ausgezeichneten technischen Fähigkeiten begabte Bauern, die im Laufe der Jahrhunderte die Hacke, den Pflug und den Wagen umgestalteten und vervollkommneten und somit das Niveau der Produktion erhöhten.

Eine Wechselwirkung zwischen der Kultur der Herrschenden und der Kultur der Ausgebeuteten gab es auf allen Gebieten des Lebens, worauf auch in diesem Werk vielfach hingewiesen worden ist. Vom 18. Jahrhundert an mehren sich die Elemente, die in gewissem Maße bewußt in die Kultur der herrschenden Klassen übernommen wurden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wendet sich die Aufmerksamkeit dann ausgesprochen der Bauernschaft und ihrer Kultur zu: Es beginnt ein Kult der Volksdichtung; Dichter werden bekannt, die selbst aus der Bauernschaft kommen; systematische Sammlung, schriftliche Aufzeichnung und Veröffentlichung von Volksdichtung wird Mode. In der Blütezeit der ungarischen Dichtkunst haben János Arany, Sándor Petõfi und viele andere nicht nur volkstümliche Themen in die Kunstdichtung eingeführt, sondern auch Sprache, Form und Wendungen der Volksdichtung eingebürgert. Die Verbindung zwischen Kunst- und Volksdichtung wurde so eng, daß künstlerische Lieder und Balladen vom Volk übernommen wurden, während bedeutende Dichter Wendungen, Zeilen oder manchmal sogar ganze Strophen der Volksdichtung in ihre eigene Dichtung einbauten. In einigen Fällen ist nur noch schwer festzustellen, ob das eine oder andere Volkslied von den Bauern gekommen und in die Literatur eingegangen ist oder den umgekehrten Weg genommen hat. Das war ein systematisches und bewußtes Vorgehen seitens der Dichter. Sándor Petõfi sagte einmal zu János Arany, er würde viele seiner Gedichte dafür hingeben, wenn er seine Gefühle mit so wenigen abgerundeten Worten ausdrücken könnte, wie es das Volkslied vermag.

Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts wurden zahlreiche Versuche unternommen, die volkstümlichen Traditionen der Volksmusik, des Volkstanzes und der dekorativen Kunst in die nationale Kultur einzubauen. Am umfassendsten hat sich der hervorragende ungarische Ethnograph István Györffy mit dieser Frage beschäftigt. In seinem letzten Werk „A néphagyomány és nemzeti mûvelõdés“ (Die Volkstradition und die nationale Kultur), das 1939 kurz vor seinem Tode erschien, ist er bemüht, die Volkstraditionen als Grundlage der ungarischen Kultur zu sehen. Wenn wir heute auch über die eine oder andere seiner grundlegenden Feststellungen anders denken, so müssen wir doch zugeben, daß sich zahlreiche wertvolle und nützliche Vorschläge von ihm im letzten Jahrzehnt realisiert haben.

Die ungarischen Komponisten Béla Bartók, Zoltán Kodály und László Lajtha, die zugleich auch hervorragende Volksmusikforscher waren, haben viele Volkslieder bearbeitet und Volksweisen in ihre Kompositionen eingebaut. Sie haben sich durch die Erhöhung der Volksmusik in den Rang der hohen Musik große Verdienste erworben. Zoltán Kodály schrieb 1937: „Die Volkstradition hat ihre Bestimmung nicht damit erfüllt, daß sie die Musikwelt des Volkes ausmacht. Sie ist mit dem Leben verbunden. Sie enthält den Kern und den Plan für eine {G-754.} große nationale Musikkultur. Sie zu entwickeln und zu vervollkommnen ist Sache der gebildeten Schichten. Doch nur in seelischer Einheit mit dem Volke wird diese die Kraft dazu haben.“

Die Beispiele dafür, daß namhafte Persönlichkeiten des geistigen Lebens in Ungarn und der ungarischen Ethnographie bereits Ende des vorigen Jahrhunderts begannen, die Volkskultur in die nationale Kultur einzubeziehen, könnten noch fortgeführt werden. Allein die gesellschaftliche Struktur, die ökonomischen Verhältnisse, kurz: das Wesen der Klassengesellschaft waren dafür verantwortlich, daß diese Bestrebungen entweder gar nicht oder nur in beschränktem Maße auf dem einen oder anderen Gebiet von Erfolg gekrönt waren.

Betrachten wir nun im Anschluß an diese vereinzelten Experimente und Vorarbeiten die Rolle der Volkskultur in der sozialistischen Gesellschaft, in der sozialistischen Kultur. Damit wir uns in dieser außerordentlich komplizierten Frage orientieren können, ist es notwendig, zunächst einiges vorauszuschicken. Die sozialistische Kultur ist nicht in fertiger Form mit einem Mal entstanden und auch keine Erfindung von Fachleuten, vielmehr entsteht sie, wie Lenin erkannt hat, als ein gesetzmäßiges Ergebnis der Entwicklung des angehäuften Wissens, das die Menschheit unter dem Druck der kapitalistischen Gesellschaft und der früheren Klassengesellschaften erarbeitet hat. Wir haben bereits gesehen, daß in der kapitalistischen Gesellschaft die Kultur wie die gesamte Nation in zwei Teile zerfiel. Diese Teilung soll in der sozialistischen Gesellschaft aufgehoben werden. Und es kann kein Zweifel bestehen, daß die Kultur, die das werktätige Volk in den Jahrhunderten der Unterdrückung aus eigener Kraft geschaffen hat, auch in der sozialistischen Kultur, die nun die ganze Nation einbezieht, eine bedeutende Rolle spielen muß. Wege und Möglichkeiten dafür haben sich heute noch nicht völlig klar abgezeichnet, wir können bisher eher nur die Umrisse erkennen.

Damit kommen wir zur Frage des Unbewußten und Bewußten. In der Entwicklung früherer Gesellschaften kam dem Unbewußten eine große Rolle zu. Die Gesetze und Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich das Wirtschaftsleben, die Gesellschaft und die Kultur entwickelten, waren nicht bekannt, so daß man von ihren Möglichkeiten auch keinen Gebrauch machen konnte. Besonders galt das für die nicht schriftlich fixierte, nur mündlich überlieferte Volkskultur. Hervorragende Sänger, Märchenerzähler, Holzschnitzer oder Töpfer waren unbewußt, instinktiv schöpferisch tätig, ohne etwas über die Regeln ihrer Kunst, den inneren Prozeß, die Gesetzmäßigkeiten der schöpferischen Tätigkeit zu wissen. Die sozialistische Gesellschaft will sich auf das bewußte Handeln umstellen. Wir wissen, was wir wollen; wir bestimmen, auf welchem Wege wir unser Ziel erreichen wollen und welche Gesetze und Gesetzmäßigkeiten wir bei der Realisierung beachten und anwenden müssen. Das gilt auch für den Aufbau der sozialistischen Kultur.

313. Verzierte Kürbisflasche, 1969

313. Verzierte Kürbisflasche, 1969
Segesd, Kom. Somogy

Bewußte schöpferische Tätigkeit äußert sich in erster Linie in einer Auswahl. Was wollen wir in unsere neue Kultur einbauen, und was soll nicht weiter gepflegt werden? In diesem Zusammenhang kommen wir zu dem heute häufig gebrauchten Begriff der progressiven Tradition. Das Attribut „progressiv“ bedeutet: Die Traditionen sind für uns {G-755.} wertvoll, sie sprechen die gesamte Gesellschaft, die ganze Nation an, sie stimmen mit deren kulturellen Zielen überein und tragen zu ihrer möglichst umfassenden Realisierung bei. Deshalb erfordert die Auswahl ein breites Fachwissen, eine klare Bestimmung der Ziele, eben bewußtes Handeln.

In der sozialistischen Kultur können und müssen alle Werte Verwendung {G-756.} finden. Ein Teil der volkstümlichen Wirtschaftstechniken kann auch in die entwickelteren Formen des Acker- und Gartenbaus sowie der Viehzucht eingebaut werden, und die genossenschaftliche Landwirtschaft würde sich selbst am meisten schaden, wenn sie die alten erprobten und bewährten Erfahrungen außer acht ließe. Es ist kaum vorstellbar, daß diese gut bewährten, lokalen Erfahrungen den Leistungen der modernen sozialistischen Landwirtschaft hemmend im Wege stünden. Keiner will heute mehr nur um der alten Technik willen mit dem Dreschflegel dreschen oder mit Ochsen das Land pflügen. Die auch heute nutzbaren Erfahrungen der Bauern beziehen sich eher auf die Bodenverhältnisse und auf die Witterungsbedingungen. Seitdem zum Beispiel die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften selbst bestimmen, wann und wo sie was aussäen, sind die Ernteerträge wesentlich gestiegen.

Die Volkskultur ist, wie gesagt, die Schöpfung eines schriftlosen, nur die mündliche Überlieferung kennenden, sich selbst überlassenen Volkes, das sich seine Lebensformen mit unsagbarer Mühe geschaffen hat. Diese Kultur der mündlichen Überlieferung produziert jedoch nur so lange neue Werke in ihrem traditionellen Stil, wie sie auf einer bestimmten Bildungsstufe stehenbleibt und nichts hinzulernt. Die aus dem Analphabetentum herausgetretene Landbevölkerung ist auch weiterhin Kulturschöpfer, aber diese Kultur ist nicht mehr die von Volkslied und Volksmärchen gekennzeichnete. Die „städtische Kultur“, die der Kapitalismus in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen den Bauern vermittelte, enthielt viel Minderwertiges (sentimentale Schundliteratur, kitschige Filme und ebensolche Musik), all das war keine echte Weiterentwicklung der Volkskultur, deren frühere, von Leidenschaft erfüllte klassische Werke in ihrer geschlossenen Form auf einer wesentlich höheren Stufe standen. Heute aber besteht dieser Widerspruch nicht mehr. Der kulturelle Aufstieg der Bauern ist keine Phrase, sondern lebendige Wirklichkeit. Auf dem Weg des Sozialismus gelangt die Bauernschaft im Einklang mit der gesamten ungarischen Gesellschaft zu einer ihren Gegebenheiten und Traditionen entsprechenden höheren Kultur.

314. Zigarettenbehälter

314. Zigarettenbehälter
Balatonfenyves, Kom. Somogy

315. Trinkkelle

315. Trinkkelle
Palotzenland

Der Einbau der Volkstraditionen in die sozialistische Kultur ist eine umfassende Aufgabe, die in der Praxis in zwei Teilaufgaben zerfällt. Die Ethnographie als historische Wissenschaft hat die Aufgabe, die traditionelle Kultur der Werktätigen in den verschiedenen Epochen und gesellschaftlichen Formationen zu untersuchen. Bei der Sammlung und Aufarbeitung der Überlieferungen der Volkskultur sind die Ethnographen auch bei Teilstudien bemüht, das Ganze zu erfassen und Details in das gesamte Kulturbild einzufügen. Daraus folgt, daß sie sich für alle Lebensbereiche der Werktätigen interessieren, ohne zu selektieren. Es ist nicht ihre Sache zu entscheiden, was für die Kultur der Zukunft von Wert ist. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, für die historische Erkenntnis ein möglichst vollständiges Material, ein möglichst breites Angebot zu erarbeiten, aus dem dann die progressiven Traditionen für die Zukunft nutzbar gemacht werden können. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt es vor, daß ein hervorragender Sammler der Volkskunst zugleich auch schaffender Künstler ist, {G-758.} der die traditionellen Kulturelemente des Volkes in die neue Kultur einzubauen vermag, wie es zum Beispiel bei den Volksmusik- oder Volkstanzforschem der Fall war.

Lange Zeit war man sich nicht einig darüber, inwieweit und auf welche Weise die traditionelle Volkskultur in die neue Kultur eingebaut werden kann. Einige behaupteten, man dürfe an der Volkskultur nichts ändern und müsse sie unter Beibehaltung ihres Inhalts und ihrer Form übernehmen. Man wollte also die Holzschnitzer und die Töpfer dazu verurteilen, ihre alten, als klassisch geltenden Werke zu kopieren oder bestenfalls nachzuahmen. Die Vertreter dieser Meinung haben die Volkskunst überhaupt nicht begriffen oder gründlich mißverstanden, denn gerade die ständige Veränderung und Gestaltung ist einer ihrer Grundzüge. Das spürten auch die schöpferisch tätigen Volkskünstler, und sie selbst verwahrten sich dagegen, daß sie auf der Stufe des Kopierens stehenbleiben sollten. Die Volkskultur soll also nicht kopiert, sondern weiterentwickelt werden, wozu die Möglichkeit besteht.

Die großen europäischen Musiker, Bach, Mozart und Beethoven, lernten ebenso vom Volkslied wie Bartók und Kodály. Die Auswirkungen der europäischen Konzertmusik verbinden andererseits die historischen Schichten der Volksmusik. Die nebeneinander lebenden, das gleiche Schicksal erleidenden Völker haben einander auch ununterbrochen ihre kulturellen Werte übergeben. Bartók befaßte sich eingehend mit der Frage, wieviel die Ungarn von ihrer Musik den Nachbarvölkern gegeben und wieviel sie von ihnen bekommen haben. Die traditionelle ungarische Volkskultur war jederzeit von der historischen Entwicklung abhängig. Warum sollte sie in nur zum Teil lebendige, zum größeren Teil in nur noch rekonstruierbare uralte Formen zurückgedrängt und auf dieser Stufe fixiert werden? Ganz im Gegenteil: Je mutiger heute die kulturelle Massenbewegung verschiedene traditionelle Themen aufgreift und die volkstümlichen Formen weiterentwickelt, um so mehr hilft sie, neue Formen der sozialistischen Volkskultur hervorzubringen. So wie das Volk früher einmal in seinen kleinen analphabetischen Gemeinschaften die alten Traditionen weiterentwickelte und dem Neuen gegenüber stets aufgeschlossen war, hat es auch heute die Aufgabe, dem Neuen zur Entfaltung zu verhelfen, und es kann sich nicht damit begnügen, bisherige Formen der Volkskunst leblos zu wiederholen.

Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte sollen einige Kulturleistungen der Gegenwart beleuchtet werden, bei denen traditionelle Elemente der Volkskultur in die heutige Kultur eingebaut wurden. Die bisherigen Erfahrungen besagen, daß sich auf dem Gebiet der sozialen und materiellen Kultur stets weniger Möglichkeiten bieten als in der geistigen Kultur. Deshalb wollen wir auch die Beispiele aus letzterer auswählen.

316. Vexierkrug

316. Vexierkrug
Mezõtúr

Die dekorative Volkskunst hat vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten Wertvolles geschaffen, obwohl in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen viele Zweige des Dorfhandwerks bereits zum Erliegen gekommen waren. Heute können wir sagen, daß eine Blütezeit der dekorativen Volkskunst begonnen hat und es in vielen Fällen {G-760.} gelungen ist, Gewerbezweige wieder zu beleben, die bereits teilweise oder ganz ausgestorben waren (Lederarbeiten, Szûrapplikationen usw.). Diese neue dekorative Volkskunst unterscheidet sich natürlich in vielem von der früheren. Das äußert sich teilweise im Formengut, noch mehr aber im Inhalt und in der Technik. Früher hat der Bauer oder der Berufshandwerker instinktiv gearbeitet, wobei er ungewollt den traditionellen Weg ging; heute ist er mehr bewußt tätig. Diese bewußte schöpferische Tätigkeit zeigt sich zunächst in der getreuen oder etwas veränderten Übernahme der Motive, der Farben und der Kompositionen. Die besten Volkskünstler der Gegenwart begnügen sich aber nicht mehr mit der bloßen Verwendung neuer Elemente, sie schaffen auch eigene neue Kompositionen. Neue Materialien und entwickeltere Techniken, die neben künstlerischen Fertigkeiten auch Routine verlangen, sichern den Fortschritt.

Die Funktion der Gegenstände der dekorativen Volkskunst hat sich ebenfalls grundlegend gewandelt. Früher waren es meistens Gebrauchsgegenstände, etwa Vorratsgefäße wie Töpfe, Krüge usw., die durch Verzierungen schöner gestaltet werden sollten. Heute ist nicht mehr die Verwendung, sondern die Verzierung des Gegenstandes das ausschlaggebende Moment; die Bedeutung als Gebrauchsgegenstand ist nur noch gering. Dies erklärt sich daraus, daß die Gegenstände heute nicht mehr für den Bauernhaushalt, der sich übrigens ebenfalls grundlegend geändert hat, hergestellt werden, sondern eher für das Heim der städtischen Bevölkerung, das sie schmücken und wohnlich gestalten sollen. All das macht deutlich, daß sich die dekorative Volkskunst der Gegenwart dem Kunstgewerbe nähert, weshalb sie heute auch schon oft als Volkskunstgewerbe bezeichnet wird.

Früher waren die Schöpfer der dekorativen Volkskunst nur für ihre unmittelbare Umgebung (Familie, Nachbarschaft, Dorf) tätig. Das bedeutete, daß diese größere oder kleinere Gemeinschaft unmittelbar Gefallen oder Mißfallen äußerte und so die Arbeit des Künstlers direkt beeinflußte. Heute hat sich auch dies geändert, denn die besten Schöpfer des Volkskunstgewerbes sind im ganzen Land bekannt. An die hervorragendsten unter ihnen wird alljährlich der Titel „Meister der Volkskunst“ vergeben, für ihre Arbeiten und Experimente erhalten sie eine regelmäßige Unterstützung, und im Alter steht ihnen auch eine entsprechende Rente zu. Die unmittelbare Kontrolle und Anleitung ihrer Arbeit durch die große Öffentlichkeit kommt allerdings nur im übertragenen Sinne zur Geltung. Künstler und Ethnographen beurteilen zwar die Arbeiten in kleinem Kreis, das Urteil der Öffentlichkeit erfährt der Urheber aber nur insofern, als das eine oder andere seiner Werke in den Geschäften mehr gefragt und nachbestellt oder weniger gekauft wird. Prinzipielle und praktische Probleme gibt es also auch dort, wo Fachkenntnis und materielle Unterstützung gewährleistet sind.

Gehen wir nun zu Kinderspielen, zu Musik und Tanz über, so begegnen wir anderen Problemen. Man hatte schon geglaubt, das international verbreitete Spielzeug würde die früheren Spiele der Dorfkinder ganz aussterben lassen. Das gilt aber nur für einen großen Teil der dörflichen Sportspiele. Die Wiederbelebung verschiedener {G-761.} volkstümlicher Ballspiele begann erst in jüngster Zeit mit vielversprechendem Erfolg. Gesungene Kinderspiele der Kleinsten im Kindergartenalter (3–6 Jahre) sind vor allem im letzten Jahrzehnt immer mehr den Volkstraditionen angeglichen worden. Das ist von besonderer Bedeutung, denn mehr als 70 Prozent der Kinder dieser Altersstufe besuchen einen Kindergarten oder leben in einem Kinderheim, wo sie überwiegend Kinderlieder und Kinderspiele der Bauern lernen. Sind diese Kinder herangewachsen, werden sie sicherlich für die Volkslieder und die Volksmusik empfänglicher sein als die ihnen vorangegangenen Generationen von Stadt-, ja sogar von Landkindern.

Zoltán Kodály hat die Volksmusik als die musikalische Muttersprache bezeichnet, und da er nicht nur ein großer Volksmusikforscher und Komponist war, sondern auch ein hervorragender Pädagoge, unternahm er alles, um die ungarische Volksmusik möglichst umfassend in das gesamte ungarische Musikleben einzubauen. Heute sprechen wir hinsichtlich des Unterrichts bereits von einer Kodály-Methode, die man nicht nur in Ungarn, sondern in vielen europäischen Ländern und sogar darüber hinaus kennt und praktiziert.

317. Töpfchen

317. Töpfchen
Sárospatak

Den Kindern werden also ausreichende Kenntnisse in der Volksmusik vermittelt, während es bei den Erwachsenen bisher nicht gelungen ist, solche Erfolge zu erzielen. Allerdings zeigen sich auch hier, hauptsächlich in den letzten Jahren, neue Initiativen. Dazu gehört zum Beispiel die Bewegung der „Pfauen-Zirkel“. Ihren Namen verdankt sie der Tatsache, daß der Pfau nicht nur in den Volksliedern, sondern auch im Motivgut der dekorativen Volkskunst eine bedeutende Rolle spielt. Die meisten „Pfauen-Zirkel“ entstanden auf dem Lande oder in kleineren Städten. Besonders gern sind die älteren Mitglieder {G-762.} gesehen, die noch aus eigenem Erleben die Volkslieder und die Volksmusik ihres Dorfes und dessen Umgebung kennen und an die interessierte Jugend weitergeben können. Heute gibt es im ganzen Land viele Hundert solcher aktiver Zirkel, die von Zeit zu Zeit zu regionalen und zentralen Ausscheiden antreten, wobei die Besten über Rundfunk und Fernsehen dem ganzen Land vorgestellt werden. Den „Pfauen-Zirkeln“ ist es zu verdanken, daß man auch in den Dörfern auf die eigenen alten Schätze aufmerksam wurde. Wo noch vor kurzem außer Schlager und Operettenmelodien kaum etwas anderes zu hören war, ist heute das Volkslied erneut weit verbreitet. Diese Bewegung trug auch weitgehend dazu bei, daß einzelne Bräuche, zum Beispiel die mit der Hochzeit verbundenen, wieder belebt wurden, so daß heute eine Hochzeit ohne Volkslieder bereits wieder unvorstellbar ist. Die Hochzeiten auf dem Lande werden zumeist von den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften veranstaltet, und dabei werden alte Lieder, Verse und Bräuche, der Situation und den Umständen angepaßt, wiederbelebt.

Bei den Volkstänzen verhält es sich etwas anders, denn seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden der Csárdás und die früher reiche ungarische Tanztradition stark vereinfacht und vereinheitlicht. Als dann obendrein um die Jahrhundertwende auf dem Lande die Tanzlehrer erschienen, um die modernen europäischen Tänze jener Zeit einzubürgern, verloren sich die in die Vergangenheit zurückgehenden alten Tänze vollends. Die hervorragenden ungarischen Volkstanzforscher hatten in den letzten Jahrzehnten mit weit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen und mußten weitaus älteres Material ausfindig machen als die ungarischen Volksmusikforscher ein paar Jahrzehnte vor ihnen.

Bereits in den dreißiger Jahren wurden auf dem Lande Volkstanzgruppen gebildet, und in den fünfziger Jahren gab es kaum ein dörfliches Kulturhaus, das keine Volkstanzgruppe gehabt hätte. Sie machten sich verdient, indem sie die lokalen Tänze samt den lokalen Volkstrachten auf der Bühne vorstellten. Die meisten erreichten allerdings kein hohes künstlerisches Niveau und kamen nicht über das Einstudieren einiger älterer Tänze, die den bejahrten Mitgliedern der Gruppe noch bekannt waren, hinaus. Anders verhält es sich mit den großartigen zentralen Volkstanzensembles Ungarns, die, besser gerüstet, bei ihren Darbietungen sowohl unverändert die alten Tänze wie auch neue vorführen, die von ihren Choreographen unter Verwendung der bekannten Tanzelemente selbst geschaffen wurden. Neues entsteht auf der Basis der alten Tanztraditionen.

Lange Zeit hatte es den Anschein, als würden die alten Bauerntänze damit zu einer bloßen Bühnendarbietung. Seit einigen Jahren aber haben Jugendliche der Städte und hier und da auch auf dem Lande vielerorts sogenannte „Tanzhäuser“ gegründet. Sie lehnen sich an den alten Brauch an, bei dem die Dorfjugend ein Haus oder einen Raum mietete, um allabendlich, vor allem jedoch an den Wochenenden Gelegenheit zum Tanz zu finden. Vom alten Brauch wurde der Name übernommen, und auch die Form ist die gleiche. Heute gibt es in Ungarn bereits mehrere Hundert solcher Tanzhäuser, und sie werden immer beliebter.

318. Krug,

318. Krug,
Mohács

{G-764.} Film, Rundfunk und Fernsehen fällt bei der Verbreitung der Volksmusik und des Volkstanzes eine außerordentlich wichtige Rolle zu. Es werden viele Filme über den einen oder anderen Zweig der Volkskultur für das Kino oder das Fernsehen produziert. Im Rundfunk wird der Volksmusik in den Musiksendungen ein breiter Raum gewährt, und ständige Programme stellen die Volkslieder einzelner Gegenden vor. Das Fernsehen nimmt sich besonders der Volkstänze und anderer Volksbräuche an, die visuell wirksam sind.

Neben den guten Beispielen, deren Aufzählung hier noch fortgesetzt werden könnte, sollen auch einige Tendenzen erwähnt werden, die nicht unbedenklich sind; so unter anderem die Mode, die Wohnungen mit einer Überzahl von Volkskunstgegenständen vollzustopfen. Eine Variante davon sind die Gaststätten, die mit Vorliebe als „Csárda“ firmieren und ihre Wände mit mehr oder weniger wertvollen Gegenständen des Volkskunstgewerbes vollhängen. Derartige Übertreibungen haben eine eher nachteilige Wirkung selbst auf den Fremdenverkehr, der mit solchen Mitteln eigentlich angeregt werden sollte. Sogar bei den Tischen und Stühlen versucht man, die nicht eben bequemen Bauernmöbel nachzuahmen. Hinzu kommt ein fachlicher und künstlerischer Dilettantismus, der sich in der gesamten Anordnung offenbart, so daß viele derartige Schaustellungen als „volkstümlicher Kitsch“ abgetan werden müssen. Das vorhandene Bedürfnis nach Werken der dekorativen Volkskunst und die Beliebtheit der mit ihnen stimmungsvoll eingerichteten Räume wird infolge fehlenden Sachverstandes in der Auswahl und durch Übertreibungen hinsichtlich der Proportionen mißbraucht. Der gute Wille allein genügt nicht, wenn man alte Traditionen in die neue Kultur einzubauen wünscht.

Die Ethnographie als Wissenschaft und die Kenntnis der Werke der Volkskunst und der alten Traditionen verdienen es, in der Erziehung einen festen Platz zu erhalten. Wer mit der Volkskunst bekannt wird, der begreift auch, welch großartige Werke die Menschen früherer Zeiten unter außerordentlich schwierigen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen schaffen konnten. Gleichzeitig wird ihm klar, daß diese Kultur in ihrer Gesamtheit für das ungarische Volk typisch ist, während einzelne volkskulturelle Elemente über sprachliche, ethnische und politische Grenzen hinaus riesige Gebiete miteinander verbinden. Und er erkennt zugleich, daß auch andere Völker eine Volkskultur haben, die – wenn sie sich auch von der ungarischen unterscheidet – für das jeweilige Volk, das sie hervorgebracht hat, genauso wertvoll ist. So wird die Kenntnis der Volkskultur ein Mittel, das zu Patriotismus und Internationalismus zugleich erzieht.

Die Volkskultur ist sowohl gesellschaftlich wie künstlerisch gleichermaßen wirksam, und in den letzten Jahrzehnten scheint sich ihr Einfluß noch verstärkt zu haben. Die meisten Elemente der Volkskultur, ihre Erscheinungsweise und ihre schöpferischen Methoden dürfen nicht als erstarrt und überlebt angesehen werden, denn sie gehen in die Kultur der Zukunft über. Die Wege und Möglichkeiten des Übergangs sind nicht immer klar, doch in der Summe der zahlreichen bisherigen Initiativen und Erfolge ist eine bestimmte Entwicklungstendenz, die ihre Gesetzmäßigkeiten hat, unverkennbar.

319. Teil einer Tischdecke

319. Teil einer Tischdecke
Tura, Kom. Pest