Einleitung

Ungarns Leistungen in der wissenschaftlichen Forschung haben einen anerkannt hohen Standard, und es hat sich damit international große Achtung und Anerkennung erworben. Das gilt in ganz besonderem Maße für die Leistungen auf dem Gebiete der Volkskunde (Folklore und Ethnographie). Wenn wir hier einige Namen nennen, so sind wir uns dessen durchaus bewußt, daß es eine willkürliche Auswahl bleiben muß und daß manche hervorragende Spezialforscher hier nicht genannt sind. Die Auswahl beschränkt sich im allgemeinen auf solche Forscher, die durch ihre Publikationen in einer westlichen Sprache in den westlichen Ländern als ausgezeichnete Vertreter der ungarischen Volkskunde bekannt geworden sind. Da wären etwa zu nennen István Györffy, der erste Professor für Ethnographie an der Budapester Universität, Károly Viski und Vilmos Diószegi, der unbestritten hervorragendste Forscher auf dem Gebiet des Schamanismus. Internationalen Ruf haben drei führende Forscher unserer Zeit: Gyula Ortutay, Iván Balassa und Béla Gunda. Von den beiden ersteren werden wir noch zu sprechen haben; Béla Gunda, Professor für Ethnologie an der Universität Debrecen, hat sich einen Namen gemacht durch seine Forschungen auf den Gebieten der Fischerei, der Jagd, des Transportes und der Ethnographie des Karpatenraumes. Endlich mögen noch aufgeführt sein – und ich muß noch einmal betonen, daß es sich nur um eine Auswahl handelt: István Tálasi, Tekla Dömötör, Vilmos Voigt, Ágnes Kovács, István Vincze, Lajos Vargyas, Edit Fél, Tamás Hofer, Imre Katona.

Die systematische, volkskundliche Tätigkeit setzt 1889 mit der Gründung der Ungarischen Ethnographischen Gesellschaft ein. Wissenschaftlich führend ist heute – abgesehen von den Universitätsinstituten – das von Ortutay begründete Ethnographische Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, an dem unter anderem der ungarische Volkskunde-Atlas vorbereitet wird. Diószegi hat den Grundstock gelegt zu einem einzigartigen Archiv für Schamanismus. Es bestehen weiter ein Katalog der Volksliedtexte und ein Volksmärchenkatalog; ein Sagenkatalog ist begonnen; Ágnes Kovács hat (in ungarischer Sprache) ein Register der Schildbürgerschwänke, Rátótiaden, publiziert (Budapest 1966). Ganz erstaunliche Arbeit wird an den zahlreichen Volkskunde- und Regionalmuseen des Landes geleistet, sowohl was die Präsentation der Objekte als auch die Forschung angeht. Vor allem sind zu nennen das Ethnographische Museum und das Ungarische Landwirtschaftliche Museum in Budapest. Ab 1902 erschien im Ethnographischen Museum der „Anzeiger der Ethnographischen Abteilung des Ungarischen National-Museums“ während einer Reihe von Jahren; er brachte deutsche Übersetzungen vorzüglicher ungarischer Aufsätze zur materiellen Kultur und half damit, die ungarische Ethnographie im Westen bekannt zu machen. Im Landwirtschaftlichen Museum hat Balassa sein „Historisches Archiv für landwirtschaftliche Arbeitsgeräte“ {G-6.} aufgebaut, eines der besten europäischen Instrumente auf diesem Gebiet. Im gleichen Museum erscheint auch die von Péter Gunst, spärer von N.-Kiss István redigierte „Bibliographia Historiae Rerum Rusticarum Internationalis“. Eine wichtige Quelle für die Kenntnis ungarischer Ethnographie wird auch das im Aufbau begriffene nationale Freilichtmuseum in Szentendre werden. Großes und schönes Aufsatzmaterial in westlichen Sprachen haben vor allem zwei Zeitschriften vermittelt: die seit 1950 erscheinenden, von Gyula Ortutay bis zu seinem Tode (1978) redigierten „Acta Ethnographica Academiae Scientiarum Hungaricae“, und das von Béla Gunda redigierte, in Debrecen publizierte Jahrbuch „Mûveltség és Hagyomány“ (seit 1960). Der 19. Band der Acta Ethnographica war Ortutay als internationale Festschrift zum 60. Geburtstag gewidmet; er wurde von Tibor Bodrogi redigiert (Budapest 1970). Bei „Mûveltség és Hagyomány“ war es Band 13./14, der unter dem Titel „Studia ethnographica et folkloristica in honorem Béla Gunda“ als Festschrift erschien (Debrecen 1971. Ediert von I. Szabadfalvi und Z. Ujváry). Béla Gunda war auch das vom dänischen Nationalmuseum 1973 in Kopenhagen herausgekommene Werk, „Land-Transport in Europa“, mit internationalen Beiträgen gewidmet.

Dies alles möchte die Leistung der ungarischen Volkskunde und ihre Wertschätzung, vor allem im Westen, in kurzen Zügen andeuten. Es verlockt, wenigstens in knappen Umrissen, die wesentlichen Buchpublikationen aufzuzeichnen, die Ungarns Volkskultur im Westen bekannt gemacht haben. Eine Vorbemerkung ist nötig: die zahlreichen Aufsätze in Zeitschriften werden nicht erwähnt; es werden nur Titel von Büchern in deutscher (und gelegentlich in englischer) Sprache; vereinzelt werden auch nichtungarische Autoren, die über Ungarn geschrieben haben, aufgeführt; einzelne Titel befassen sich mit Teilen von Ungarn, die heute nicht zu Ungarn gehören; ausnahmsweise werden auch Sammelschriften herangezogen.

Schon recht früh ist der Westen mit ungarischer Volkskultur, mit Glauben und Brauch bekannt geworden durch die Bücher von Heinrich von Wlislocki „Aus dem Volksleben der Magyaren“ (München 1893) und „Volksglaube und religiöser Brauch der Magyaren“ (Münster, Westfalen 1893). In dem damals außerordentlich bedeutsamen Werk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ befaßten sich die Bände 14–20 mit Ungarn; der 2. Band enthielt einen ausführlichen Beitrag von Alexander Baksay über „Ungarische Volksbräuche“. Als eines der besten Bücher galt lange Zeit „Volksbrauch der Ungarn“ von Károly Viski (Budapest 1932). Zwei Sammelwerke (mit internationalen Beiträgen) vermittelten ausgezeichnete Einblicke in die ungarische Hirtenkultur; es sind „Viehzucht und Hirtenleben in Ostmitteleuropa“, unter Mitwirkung von Márta Belényesy und Béla Gunda, redigiert von László Földes (Budapest 1961) und „Viehwirtschaft und Hirtenkultur“ (herausgegeben von László Földes (Budapest 1969). Über modernes Bauerntum orientieren am besten die drei Bände von Edit Fél und Tamás Hofer „Proper Peasants Traditional Life in a Hungarian Village“ (Chicago 1969), „Bäuerliche Denkweise in Wirtschaft und Haushalt“ (Göttingen 1972) und „Geräte der Átányer Bauern“ {G-7.} (Kopenhagen 1974); es handelt sich um eine der besten und ausführlichsten Dorfmonographien Europas; sie beschreiben das Leben im Dorf Átány. Neue Ansätze über das gesamtpannonische Gebiet bringt „Ethnographia Pannonica“, herausgegeben von Károly Gaál (Eisenstadt 1971).

Auch für die Volksdichtung haben wir ausgezeichnete Bücher in deutscher und englischer Sprache. Schon gleich zu Anfang unseres Jahrhunderts hat uns Elisabeth Sklarek in zwei Bänden „Ungarische Volksmärchen“ vermittelt (Leipzig 1901 und 1909). In der Reihe „Märchen der Weltliteratur“ brachte dann Ágnes Kovács nochmals „Ungarische Volksmärchen“ (Düsseldorf 1966). Ortutay hatte schon etwas früher seine „Ungarischen Volksmärchen“ publiziert (Berlin 1957, Stuttgart 1962, und englisch „Hungarian Folk Tales“, Budapest 1962). Als willkommene Ergänzung publizierte Károly Gaál „Die Volksmärchen der Magyaren im südlichen Burgenland“ (Berlin 1970). Interessante Ergebnisse brachten zwei tiefschürfende historische Arbeiten: Imre Katona „Historische Schichten der ungarischen Volksdichtung“ (Helsinki 1964, FFC 194) und Lajos Vargyas „Researches into the Mediaeval History of the Folk Ballad“ (Budapest 1967).

Daß uns vorzügliche ungarische Bücher Volkslied und Volksmusik nahegebracht haben, ist nur zu erwarten. Schon 1925 erschien „Das ungarische Volkslied“ von Béla Bartók (Budapest 1925). Ihm folgte „Die ungarische Volksmusik“ von Zoltán Kodály (Budapest 1956; englisch „Folk Music of Hungary“, Budapest 1960). Über „Hungarian Dances“ schrieb Károly Viski schon früher (Budapest 1937). Als erster Band der großangelegten Reihe „Handbuch der europäischen Volksmusikinstrumente“ erschien „Die Volksmusikinstrumente Ungarns“ von Bálint Sárosi (Leipzig 1967). Der gleiche Verfasser publizierte auch ein Buch über „Zigeunermusik“ (Budapest 1977).

Sehr gut ist der Westen auch über die reiche ungarische Volkskunst orientiert. Einen noch etwas zögernden Anfang hat eine der bekannten Studio-Ausgaben gemacht: Ch. Holme „Peasant Art in Austria and Hungary“ (London 1911). Die ungarische Akademie der Wissenschaften brachte schöne Volkskunsthefte unter dem Titel „Monumenta Hungariae Ethnologica“ heraus, so etwa Károly Viski „Tiszafüred Pottery“ (Budapest 1932) und László Madarassy „Trans-Danubian Mirror-Cases“ (Budapest 1932). In „Ethnographische Sammlungen des Ungarischen Nationalmuseums“ erschien Sigmund Bátky „Hirten-Schöpfkellen“ (Budapest 1928). Ein Jahr früher hatte István Györffy „Das Bauwesen der Hirten im ungarischen Tiefland“ veröffentlicht (Budapest 1927). Edit Fél schrieb ein kenntnisreiches Buch über „Ungarische Volksstickerei“ (Budapest 1961). Ihm folgte „Alte ungarische Stickerei“ von Mária Varjú-Ember (Budapest 1963). Das große, zweibändige Werk über „Ungarische Bauerntrachten (1820–1867)“ stammt von Mária Kresz (Budapest 1957). Erwähnt sei auch János Román „Die Töpferei von Sárospatak“ (Budapest 1955). Unter der Ägide von Gyula Ortutay brachte der Corvina Kiadó eine sehr gefällige, geschmackvoll publizierte Reihe kleiner Bändchen „Ungarische Volkskunst“ heraus; darin finden sich: György Domanovszky „Ungarische Bauerntöpferei“ (1968), Alice Gáborján „Ungarische Volkstrachten {G-8.} (1969), Klára K.-Csilléry „Ungarische Bauernmöbel“ (1972), János Manga „Ungarische Hirtenschnitzereien“ (1972), Tekla Dömötör „Ungarische Volksbräuche“ (1972). Dazu gibt es eine etwas frühere Serie des Corvina Kiadó über ungarische Volkskunst (sie ist titellos); darin erschien Edit Fél/Tamás Hofer „Husaren, Hirten, Heilige“. Noch früher hatte das „Museum für Völkerkunde“ in Budapest eine ebenfalls titellose Reihe publiziert: György Domanovszky „Ungarische Bauernmöbel“ und „Ungarische Töpferei“ (ohne Jahr). Das zusammenfassende Werk wurde dann von einem Team geschrieben: Edit Fél, Tamás Hofer, Klára K.-Csilléry „Ungarische Bauernkunst“ (Budapest 1958). Dieses erschien kürzlich in einer neugefaßten, erweiterten und mit prächtigen Abbildungen versehenen Form: Tamás Hofer und Edit Fél „Ungarische Volkskunst“ (Budapest 1978). Es soll auch noch ein schöner Beitrag zur volkstümlichen Ikonographie angeführt werden: „Biblia pauperum“. Faksimileausgabe des vierzigblättrigen Armenbibel-Blockbuches in der Bibliothek der Erzdiözese Esztergom (Text: Elisabeth Soltész; Budapest 1967).

Ausgezeichnetes hat Ungarn für die Kenntnis des Schamanismus geleistet. Vilmos Diószegi hat herausgegeben „Glaubenswelt und Folklore der sibirischen Völker“ (Budapest 1963); er hat verfaßt „Tracing Shamans in Siberia“ (Oosterhout 1968) ; aus seinem Nachlaß (herausgegeben unter seinem Namen, zusammen mit M. Hoppál) „Shamanism in Siberia“ (Budapest 1978).

Versuche, eine zusammenfassende Übersicht über die gesamtungarische (im damaligen politischen und geographischen Bestande) Volkskunde zu schreiben, finden sich in den dreißiger Jahren. Da ist das ungarische vierbändige Werk „A Magyarság Néprajza“ (1933–37); es wurde leider nie in eine westliche Sprache übersetzt. In den von Julius Farkas redigierten „Ungarischen Jahrbüchern“ gibt es einen Sammelband „Ungarische Volkskunde“, herausgegeben von Károly Viski (Band 18, 1939, Heft 2–4) ; darin findet sich ein Aufsatz von Gyula Ortutay: „Die Geschichte der ungarischen Volksdichtungssammlungen“. Ortutay hat dann 1963 seine „Kleine ungarische Volkskunde“ (Weimar 1963) geschrieben. Das Hauptgewicht liegt, seinem Interesse angepaßt, auf der Folklore. Schon durch die Zufügung des Wortes „klein“ zeigt er an, daß er eine größere ungarische Volkskunde plant und erhofft. Und nun liegt sie vor, in Zusammenarbeit mit einem Ethnologen. Es ist ein Glücksfall, daß zwei der besten europäischen Volkskundler sich zusammengetan haben, um ein derart hervorragendes nationales Werk zu schaffen. Man darf ruhig sagen, daß ihr Buch zu den eindeutig besten Werken einer nationalen Volkskunde gehört. Das Werk war dringend nötig nach den politischen, geographischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Es schildert mit einfühlsamer Behutsamkeit das Werden dieses neuen Ungarn, in dem noch manche alte Kräfte wirksam sind und das trotzdem bewußt seinen neuen Weg sucht. Es ist natürlich auch so, daß just diese beiden Verfasser ausgezeichnet zu ihrem Werk geeignet waren. Gyula Ortutay, der die fertige Publikation nicht mehr erleben durfte, ist der eigentliche Gestalter und Organisator der ungarischen Nachkriegs-Volkskundeforschung. Als solcher und als Neubegründer einer modernen {G-9.} Märchenforschung hatte er Weltruf. Wir haben schon einige seiner Publikationen in westlichen Sprachen (meist ist es englisch) erwähnt. Es kommen noch hinzu „Hungarian Peasant Life“ (Budapest 1948), „Hungarian Folklore. Essays“ (Budapest 1972) und die Herausgabe von Kongreßberichten „Congressus Internationalis Fenno-Ugristarum“, 1963; „Europa et Hungaria. Congressus ethnographicus“, 1965; „Congressus Quartus“, 1975). Was Ortutay für die Folklore bedeutete, das bedeutet Balassa für die Ethnographie und das Museumswesen. Er ist der stellvertretende Generaldirektor des Ungarischen Landwirtschaftsmuseums. Ihm haben viele ungarische Museen und die europäische Geräteforschung entscheidende Anregungen zu verdanken. Er hat 1964, zusammen mit Lajos Szolnoky, eine erste Zusammenstellung über die „Ethnographischen Sammlungen der Museen in Ungarn“ verfaßt. Er hat ein Sammelwerk „Ungarische Volkskunst“ (Budapest 1954) und ein weiteres Sammelwerk „Getreidebau in Ost- und Mitteleuropa“ (Budapest 1972) herausgegeben. Neuerdings beschäftigt er sich mit den mitwohnenden Minderheiten. Zu diesem Thema sind unter seiner Redaktion zwei „Beiträge zur Volkskunde der Ungardeutschen“ in deutscher Sprache erschienen (Budapest 1975 und 1979).

Es lag mir daran aufzuweisen, wie sehr Ungarn sich immer bemüht hat, die westlichen Länder über seine Volkskultur zu unterrichten und wieviel wir aus seinen Publikationen haben lernen können. Wir dürfen uns glücklich schätzen, diesen neuen Beitrag zur Volkskunde eines Landes zu erhalten, das in seiner ganzen Geschichte kulturell immer ein Vermittler zwischen Ost und West war. Ungarn war offen für Einflüsse von beiden Seiten, aber es hat auch an beide Seiten aus dem Reichtum seiner Volkskultur Anregungen ausstrahlen können.

Robert Wildhaber
Basel