{G-11.} Vorwort

Ende des 9. Jahrhunderts n. Chr. ließen sich die Ungarn, deren Herkunft auf finno-ugrischen Ursprung zurückgeht, im Karpatenbecken nieder. Die von Steppenmerkmalen geprägte, mit Elementen der Turkvölker durchsetzte Kultur der Magyaren wurde durch die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Mitteleuropas, durch die Christianisierung und durch zahlreiche Nachbarvölker beeinflußt. So läßt sich behaupten, daß sich in Ungarn Europa im kleinen widerspiegelt. In der bäuerlichen Kultur sind hier östliche und westliche Traditionen verschmolzen und bilden eine interessante, in ihrer Art einmalige Einheit. Im vorliegenden Buch sind wir bemüht, beides, die Zwiespältigkeit und die Einheit, von möglichst vielen Seiten zu beleuchten.

Jedes Buch wird für einen bestimmten Leserkreis geschrieben, und je vielschichtiger dieser gedacht ist, desto schwieriger ist die Aufgabe des Autors, und um so größer seine Verantwortung. Es gilt, wissenschaftliche Informationen und neue Erkenntnisse in einer Form darzubieten, die sowohl den Forscher wie auch das interessierte breite Lesepublikum befriedigt. Wir wollen über den neuesten wissenschaftlichen Stand in der Erforschung der kulturellen Überlieferungen des ungarischen Volkes informieren, die wichtigsten Lebensbereiche umfassend darstellen und zugleich auch romantische Vorstellungen korrigieren, die mit dem Volk der Ungarn noch heute oft verbunden werden.

Wenn auch die an ein Buch geknüpften Erwartungen des Wissenschaftlers und des an der Materie interessierten Lesers verschieden sind, so hoffen wir doch, einen allerseits befriedigenden Kompromiß erreichen zu können. Aus diesem Grunde zielt unsere Konzeption darauf ab, eine allgemeine Zusammenfassung zu bringen, ohne sich in minutiöse und für das Gesamtverständnis nicht unbedingt notwendige Detaildarstellungen zu verlieren. Den Forscher soll die Bibliographie im Anhang entschädigen, die ihm die Quellen angibt, aus denen er weitere Einzelheiten erfahren kann. Dagegen dürften die zahlreichen Zeichnungen, Karten und Fotos, durch die der Text verständlicher und zugleich interessanter wird, uneingeschränkte Zustimmung finden. Auf viele Fragen unseres Wissenschaftszweiges gibt es keine eindeutigen Antworten, sie bilden eher ein ständiges Diskussionsobjekt, vor allem, weil die ständig wachsende Zahl neuer Funde immer neue Probleme aufwirft. Deshalb wollen wir uns an die zwar neuesten, jedoch im großen und ganzen bereits entschiedenen – oder zumindest von uns als entschieden angesehenen – Forschungsergebnisse halten.

In der vorliegenden Arbeit soll ein skizzenhafter Überblick über das gesamte Kulturgut des ungarischen Volkes gegeben werden, das sowohl die soziale und materielle als auch die geistige Kultur umfaßt. Träger und Gestalter dieser Kultur war jahrhundertelang vor allem die Bauernschaft, die von ihrer Entstehung im Mittelalter angefangen, gleichermaßen auf dem materiellen wie auf dem nichtmateriellen Sektor weitgehend zu einer autarken Lebensform gezwungen war. So entstand {G-12.} eine Kultur, die durch wesentlich archaischere und universellere Züge geprägt wurde als die der herrschenden Schicht. Mit Recht können wir die bäuerliche Kultur als Gemeingut ansehen, zumal sie von den breitesten Volksschichten durch Tradierung bewahrt und so für die Nachwelt erhalten wurde.

Trotzdem lassen sich auch in dieser dörflichen Kultur Entwicklungs- und Veränderungstendenzen verfolgen. Die erhalten gebliebenen Relikte, die historischen und ethnischen Merkmale aus der ungarischen Frühzeit finden sich in der materiellen Kultur weniger, dafür um so mehr in der nichtmateriellen. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen wirkten sich auf die Lebensweise der Bauern bald langsam, bald aber auch so schnell aus, daß man den Prozeß nur schwierig verfolgen kann, und sie erzwangen wohl oder übel eine Anpassung. So entwickelte sich die Bauernkultur scheinbar ohne äußeres Zutun, in Wirklichkeit aber unter dem Zwang äußerer Faktoren.

Die Herren und die Klasse der Bauern lebten selbst innerhalb einer Siedlung lediglich nebeneinander. Das Herrenhaus, in dem bäuerliche Bedienstete arbeiteten, diente beim Bau der Leibeigenenhäuser in vereinfachter Ausführung als Muster. Die Stilelemente der herrschaftlichen Inneneinrichtung gelangten oft in die Häuser der Dorfbewohner, und zwar durch den Handwerker, der auch für den Herrn arbeitete. So erreichten die großen europäsichen kulturellen und künstlerischen Strömungen durch verschiedene Kanäle – oft mit einer Verspätung von Jahrhunderten und stark filtriert – auch den ungarischen Bauern.

Besondere Beachtung gebührt den verschiedensten Wechselwirkungen, die sich aus den Kontakten und dem Zusammenleben mit den Nachbarvölkern ergaben. Die Übernahme von fremden Kulturelementen erfolgte unter übereinstimmenden oder ähnlichen äußeren Umständen meist komplikationslos.

Um alle Zusammenhänge der ethnographischen Wirklichkeit zu entwirren und begreifbar zu machen, kann die von der Gegenwart ausgehende Volkskunde auch die historischen Phänomene nicht unbeachtet lassen. Wo sich hierzu eine Möglichkeit bietet, sollte man die schriftlichen Quellen, bildlichen Darstellungen und gegenständlichen Funde berücksichtigen, da sich die Entwicklungsgeschichte oder gar der Ursprung eines Geräts, eines Arbeitsverfahrens oder einer Form der Volksdichtung so oftmals feststellen lassen. Zahlreiche Fälle sind bekannt, wo die ethnographische Forschung unmittelbar an wissenschaftliche Ergebnisse der Archäologie anknüpfen kann.

Die Bauernschaft kann bereits im Mittelalter nicht als geschlossene Einheit angesehen werden. Die mehr oder weniger wohlhabenden Schichten unterschieden sich von den besitzlosen Knechten. Auch stachen sie deutlich von den Handwerkern des Dorfes ab. Die Unterschiede bildeten sich in den letzten zweihundert Jahren immer stärker heraus, insbesondere im wirtschaftlichen Sektor. Der Unterschied im kulturellen Niveau zwischen der dünnen Schicht der Wohlhabenden, den landarmen Bauern, den Agrarproletariern und dem vom Leben hin und her geworfenen Gesinde der Großgrundbesitzer trat immer stärker zutage. Die ungarische Ethnographie betrachtet es als wichtige {G-13.} Aufgabe, diese Differenzierung der Bauernkultur in ihrer Entwicklung sichtbar zu machen. Auch wir wollen darauf, sooft sich dazu eine Gelegenheit ergibt, hinweisen.

Die bäuerliche Kultur an sich hat also ebenfalls kein einheitliches Gepräge, und ihre Träger sowie die Kräfte, die sie weiterentwickelten, standen in bezug auf ihre Fähigkeiten auf recht verschiedenem Niveau. Begabte Erzähler und Sänger variieren nicht nur, sondern schaffen im Geist der Tradition auch Neues. In der Vergangenheit haben sich geschickte Weberinnen und Stickerinnen ebenso einen Ruf erworben wie jene Hirten, zu denen man wegen einer Ringpeitsche oder einer prächtigen Schnitzerei von weither gewandert kam. Die meistens in der Anonymität verborgen gebliebenen Neuerer verbesserten die Geräte des Feldbaus und entwickelten die Produktionsverfahren weiter. Die hervorragenden Erzähler und Sänger waren im Dorf allgemein bekannt, man rechnete mit ihnen ebenso wie mit den großen Brautführern, die in einer Person erstrangige Organisatoren, Verseschmiede und Tänzer sein mußten. Die Bauernschaft erweckte nur aus größerer Distanz den Anschein eines einheitlichen Blocks. Tatsächlich gliederte sie sich in Schichten. Allerdings haben ihre herausragenden Vertreter unter bestimmten Voraussetzungen auf dem einen oder anderen Gebiet der bäuerlichen Kultur Leistungen vollbracht, die in den Gesamtkomplex integriert werden konnten.

Eine Darstellung dieses komplizierten Prozesses ist nur durch eine Gliederung der Volkskultur in Teilgebiete unter Zugrundelegung systematischer Aspekte möglich. Wir wollen nach der Methode unseres Wissenschaftszweiges vorgehen, die zur Erleichterung der Forschungsarbeit die materielle Kultur von der geistigen Kultur trennt. Dem setzen wir noch ein Kapitel voran, das auf einige Phänomene der sozialen Kultur hinweist beziehungsweise die zwischenmenschlichen und die Beziehungen zur Gesellschaft analysiert. Die Abgrenzung und Systematisierung dient lediglich der größeren Übersichtlichkeit. Die Phänomene tauchen in der Realität – in Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen – meist miteinander verbunden auf. Derselbe Mensch, der hinterm Pflug ging, war vielleicht ein ausgezeichneter Sänger oder Erzähler, ein anderes Mal fungierte er als Leichenbitter und veranstaltete das Begräbnis oder hatte gerade eine Schnittertruppe anzuheuern. Der Vollzug dieser Synthese bleibt dem Leser überlassen, wobei die Autoren lediglich Hilfe leisten wollen.

Dieser Absicht dient auch die in die Einführung aufgenommene fragmentarische Geschichte der ungarischen Volkskunde, die über die Forschungsrichtungen in Vergangenheit und Gegenwart sowie über einige Grundzüge der heutigen Organisation und der gegenwärtigen Aktivitäten informieren soll. Die ungarische Bauernkultur ist mit der Geschichte des gesamten Volkes und der Nation aufs engste verknüpft. Die übersichtliche Darstellung der historischen Bezüge nach ethnographischen Gesichtspunkten wird dem Leser helfen, weitere Kenntnisse in den so gewonnenen Rahmen richtig einzuordnen. Dem gleichen Ziel dient eine kurze Rundreise durch den ungarischen Sprachraum. Auf diese Weise können wir den Leser mit den wichtigsten ethnischen Gruppen und volkskundlichen Regionen bekanntmachen, die sich mehr {G-14.} oder weniger bedeutend voneinander unterscheiden. Nachdem wir die ungarische Ethnographie in ihren Hauptzügen vorgestellt haben, zeigen wir schließlich auf, in welchem Umfang Elemente und Werte der Bauernkultur in die entstehende sozialistische Kultur integriert werden.

Iván Balassa