Überblick über Geschichte und heutige Organisation der ungarischen Volkskunde

Ethnographische Aufzeichnungen und Daten finden sich bereits in ungarischen Chroniken und Urkunden aus dem Mittelalter. Schon Anonymus (12. Jahrhundert), der seine Ausbildung an französischen Universitäten absolviert hat, erwähnt „die falschen Märchen und geschwätzigen Spielmannsgesänge“ der Bauern. Der gelehrte Geschichtsschreiber verachtete diese Dinge zwar, machte aber absichtlich oder unabsichtlich dennoch Gebrauch von ihnen. Vom 11. Jahrhundert an deuten geographische Bezeichnungen in den Urkunden des öfteren auf den Teufel, auf Hexen und heidnische Opferstätten hin. In den Chroniken und der religiösen Literatur sind viele ethnographische Bezüge überliefert. Verschiedene Details helfen uns in der Forschung weiter, wenn auch die Anfänge der ungarischen Volkskunde keineswegs hier zu suchen sind. Vielmehr müssen wir in diesem Zusammenhang auf Mátyás Bél (1684 bis 1749) verweisen, der zwischen 1735 und 1742 sein Werk „Notitia Hungariae novae historico-geographica“ veröffentlichte, in dessen fünfeinhalb Bänden er bereits bewußt um eine genaue und authentische Beschreibung des dörflichen Lebens der elf behandelten Komitate bemüht ist. Die beobachteten ethnographischen Phänomene vergleicht er mit den entsprechenden Erscheinungen bei den mit den Ungarn zusammen lebenden Nationalitäten. Oftmals gibt er Hinweise auf regionale Abweichungen und ethnische Gruppen. So dürfen wir Mátyás Bél mit Recht als den Vorläufer der beschreibenden und vergleichenden Volkskunde in Ungarn ansehen. Die Tatsache, daß er seine Arbeiten in lateinischer Sprache abfaßte und ein großer Teil seines Werkes unveröffentlicht blieb, verminderte die Verbreitung und die Wirkung des Autors beträchtlich.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist ein merkliches Anwachsen ethnographischer Publikationen zu verzeichnen. Dem Schaffen des Szarvaser evangelisch-lutherischen Geistlichen Samuel Tessedik (1742 bis 1820) gebührt hierbei besondere Beachtung. Hervorzuheben ist vor allem sein Werk A paraszt ember Magyarországon, mitsoda és mi lehetne (Der Bauer in Ungarn, was er ist und was er sein könnte… Pécs 1786). Als erster weist er auf die Bedeutung der nichtmateriellen Kultur des Bauerntums hin, auf seine soziale Schichtung und die Eigenarten seiner Lebensweise. Mit Akribie beschreibt er die schwere Lage der Bauern, ihre wirtschaftliche Rückständigkeit und ihren Aberglauben. Um dem abzuhelfen, unterweist Tessedik in seiner Landwirtschaftsschule die Dorfjugend in praktischen Kenntnissen. Gergely Berzeviczy (1763 bis 1822) setzte sich ebenfalls intensiv mit der Bauernfrage auseinander und machte in diesem Zusammenhang auf die kulturellen und ökonomischen Bezüge aufmerksam. Als Kardinalproblem betrachtet er die möglichst schnelle Beseitigung der Verelendung der Leibeigenen und die Anhebung des Bildungsniveaus.

Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts galt das Interesse der Historiker und Sprachwissenschaftler immer häufiger der Erschließung der {G-16.} nationalen Traditionen, was naturgemäß zu einer immer größeren Anhäufung ethnographischer Kenntnisse führte. In beinahe jeder Nummer der umfangreichen und niveauvollen Zeitschrift Tudományos Gyûjtemény (Wissenschaftliche Sammlung; 1817–1841) wurden auch ethnographische Studien publiziert. Hier erschien 1822 die Studie Ethnográphiai értekezés Magyarországról (Ethnographische Dissertation über Ungarn) von János Csaplovics (1780–1847). Ziel seiner Abhandlung war die umfassende Darstellung der in Ungarn nebeneinander lebenden Völker, die sich trotz der Gemeinsamkeiten einige ethnische Besonderheiten bewahrt hatten. Csaplovics formulierte als erster: „Ungarn ist Europa im kleinen, das heißt, nahezu sämtliche Fragen der Volkskunde Europas lassen sich in Ungarn untersuchen.“ In seiner größeren deutschsprachigen Arbeit „Gemälde aus Ungern“ (Pest 1822) gelang ihm, sein Vorhaben weitgehend zu realisieren.

Nach zahlreichen Anläufen setzte ab 1841 eine systematische Sammeltätigkeit und Aufarbeitung der Volksdichtung ein. Anstoß hierzu hatte eine Ausschreibung der literarischen Kisfaludy-Gesellschaft zum Sammeln von Volksliedern gegeben. In der Nachfolge Herders und der Brüder Grimm veröffentlichte János Erdélyi (1814–1868) zwischen 1846 und 1848 Népdalok és mondák (Volkslieder und Sagen) in drei Bänden, worin er eine Auswahl aus eigenen und dem Material seiner korrespondierenden Mitarbeiter gab. Zur gleichen Zeit schloß auch der unitarische Bischof Siebenbürgens, János Kriza (1811–1875), sein Manuskript Vadrózsák (Heckenrosen) ab, das allerdings wegen Publikationsschwierigkeiten erst 1863 erscheinen konnte. 1872 wurde mit der Herausgabe des vierzehnbändigen Werkes Magyar Népköltési Gyûjtemény (Sammlung der Ungarischen Volksdichtung) begonnen, dessen letzter Band im Jahre 1924 erschien. Als aktivster und erfolgreichster Erforscher ungarischer Folklore um die Jahrhundertwende muß Lajos Kálmány (1852–1919) angesehen werden. Sein Werk, bestehend aus sieben Büchern und zahlreichen Einzelstudien, stellt auch heute noch eine unentbehrliche Wissensquelle dar, insbesondere für die Forscher, die sich mit dem Süden der Ungarischen Tiefebene befassen.

Vereinzelt lassen sich Untersuchungen und Aufzeichnungen von Glaubensvorstellungen bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen, doch eine planmäßige Sammeltätigkeit verbindet sich erst mit dem Namen Arnold Ipolyi (1823–1886), der den Versuch einer Rekonstruktion der Religion der alten Ungarn unternahm: Magyar Mythologia (Ungarische Mythologie), Pest 1854. Wenn auch seine Forschungsergebnisse und -methoden größtenteils überholt sind, so gebührt ihm doch zweifelsohne das Verdienst, eine bis zum heutigen Tage wirksame Richtung der Volkskundeforschung angebahnt zu haben.

Mit der materiellen Kultur befaßte sich die Wissenschaft wesentlich später als mit der Folklore, auch kam die Forschungstätigkeit erheblich langsamer in Gang. Zwar wurde 1872 im Ungarischen Nationalmuseum eine Volkskundeabteilung eingerichtet, doch fristete diese über zwei Jahrzehnte ein mehr als kümmerliches Dasein. Eine echte Entwicklung dieser Abteilung ist erst von 1896 an zu verzeichnen, als anläßlich der Millenniumsfeier der ungarischen Landnahme ein Freilichtmuseum {G-17.} – bestehend aus 24 Höfen, einer Kirche und einem Gesindehaus, die das gesamte Land. repräsentieren sollten – eröffnet wurde. 12 Höfe zeigten die Magyaren und 12 die Nationalitäten Ungarns. Nach dem Abbau des Freilichtmuseums wurden die Einrichtungsstücke in die Sammlungen des Volkskundemuseums aufgenommen.

Otto Herman (1835–1914) gab 1887 das bis heute als Beispiel dienende, monumentale zweibändige Werk A magyar halászat könyve (Das Buch der ungarischen Fischerei) heraus. János Jankós (1868–1902) vergleichende und einen Einblick in die Urgeschichte gebende Arbeit A magyar halászat eredete (Herkunft der magyarischen Fischerei, 1900) ist als Weiterführung des erstgenannten Werkes anzusehen.

Im Jahre 1889 konstituierte sich die Ungarische Ethnographische Gesellschaft (Magyar Néprajzi Társaság), die bis auf den heutigen Tag das universellste gesellschaftliche Organ der ungarischen Volkskunde geblieben ist. Ethnographia, die zentrale Zeitschrift dieser Gesellschaft, erscheint seit 1890 ohne Unterbrechung. Hieran schlossen sich von 1900 an die Anzeiger des Ethnographischen Museums (Néprajzi Múzeum Értesítõje) an, deren Herausgabe zwar während der beiden Weltkriege zeitweise eingestellt werden mußte, die aber seit 1954 als Jahrbuch wieder erscheinen. Diese beiden Standardpublikationen bringen sowohl prinzipielle Studien als auch Berichte über die Forschungsergebnisse von Bodenuntersuchungen. Bereits im 1. Jahrgang der Zeitschrift Ethnographia erschien Lajos Katonas (1862–1910) Studie „Ethnographia, ethnologia, folklore“ (Ethnographie, Ethnologie und Folklore), die – zu ihrer Zeit mit Anspruch auf europäischen Rang gewissermaßen den Ausgangspunkt der prinzipiellen und theoretischen Forschungstätigkeit der ungarischen Volkskunde darstellt.

Durch den Ersten Weltkrieg und die sich daran anschließenden Schwierigkeiten wurde die Entwicklung der ungarischen Ethnographie gehemmt und um Jahre zurückgeworfen. Besonders hinderlich für eine rasche Entfaltung erwies sich die Tatsache, daß der Wissenschaftszweig lange Zeit keinen Lehrstuhl an einer Universität hatte. Im Jahre 1929 erhielt Sándor Solymossy (1864–1945) endlich an der Universität von Szeged ein Lehramt. 1934 folgte die Berufung István Györffys (1884–1939) zum Professor für Ethnographie an die Budapester Universität. Während in Szeged in erster Linie über Folklore gelesen wurde, galt das Budapester Hauptaugenmerk der materiellen Kultur.

Das herausragendste Ereignis zwischen den beiden Weltkriegen war zweifelsohne die Entstehung der vierbändigen Monographie A Magyarság Néprajza (Volkskunde des Ungartums). Es war die Arbeit eines fähigen Autorenkollektivs (1933–1937), die bis heute die einzige und vollständigste Zusammenfassung der ungarischen Volkskunde bietet, obgleich die Zeit in mancherlei Beziehung nicht spurlos an ihr vorübergegangen ist. Die ersten beiden Bände der Volkskunde des Ungartums befassen sich mit der materiellen Kultur, die beiden letzten mit der Folklore.

Das an Traditionen reiche Sammeln und Aufarbeiten des Volksmusikgutes ist mit der Volkskunde eng verbunden. Die Anfänge der Sammeltätigkeit reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, doch der eigentliche Aufschwung dieser Bewegung setzt mit {G-18.} dem Schaffen Béla Vikárs (1859–1945) ein, der 1895 damit begann, die Lieder mit Hilfe eines Phonographen aufzuzeichnen. Ihm folgten Béla Bartók (1881–1945) und Zoltán Kodály (1882–1967), die aber nicht nur durch ihre Volksliedsammlungen und deren wissenschaftliche Aufarbeitung Weltruhm erlangten, sondern vielmehr durch ihre auf die Volksmusik aufbauenden Kompositionen und nicht zuletzt auch durch die Einbeziehung der Volksmusik in die Nationalkultur.

Vor dem Zweiten Weltkrieg gab Gyula Ortutay (1910–1978) der Volksmärchenforschung eine neue Richtung, die die Schaffensweise begabter Erzählerpersönlichkeiten und das Sammeln ihres vollständigen Repertoires in den Vordergrund stellte. Der Initiative Ortutays ist auch die Edition Új Magyar Népköltési Gyûjtemény (Neue Sammlung der Ungarischen Volksdichtung) zu verdanken. Seit 1940 sind von dieser wichtigen Reihe bereits 16 Bände erschienen.

Nach der Befreiung des Landes (1945) wurde die Reorganisation der ungarischen Ethnographie rasch in Angriff genommen. Die Arbeit begann mit der Überprüfung und Bewertung der bisherigen Forschungsergebnisse; im Anschluß daran wurden die zukünftigen Aufgaben unseres Wissenschaftszweiges abgesteckt. Das Ziel der Bestandsaufnahme sollte mit dem Werk A Magyar Népkutatás Kézikönyve (Handbuch der Ungarischen Volksforschung, 1947–1948) verwirklicht werden.

Es ist bedauerlich, daß die einzelnen Broschüren, die jeweils die Ergebnisse eines Teilgebietes zusammenfaßten, nicht weiter erschienen sind und der ausgezeichneten Initiative keine weiteren Erfolge beschieden werden.

Zu den bedeutendsten Ergebnissen der neuen Epoche zählt die Schaffung von zwei Lehrstühlen für Ethnographie an der Budapester Universität und je eines Lehrstuhls in Debrecen und Szeged. Auf diese Weise ist die Nachwuchsfrage zufriedenstellend gelöst worden. 1950 wurde unter der Leitung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in allen volkskundlichen Bereichen mit dem systematischen Sammeln und Aufarbeiten begonnen. Die Ergebnisse dieser Aktivitäten sind dem Ausland über die seit 1950 in deutscher, englischer, französischer und russischer Sprache erscheinende Zeitschrift Acta Ethnographica zugänglich.

Vor der Befreiung hatte die ungarische Ethnographie insgesamt 20 bis 22 hauptamtliche Mitarbeiter. Heute beläuft sich ihre Zahl auf 150. Da die Forscher an verschiedenen Stellen arbeiten, ist eine Koordinierung erforderlich. Diese Aufgabe wird vom Ethnographischen Hauptausschuß der Ungarischen Akademie der Wissenschaften wahrgenommen. Die Mitglieder dieses Ausschusses, die gleichzeitig auch eine der ethnographischen Institutionen vertreten, gehören zur ersten Forschergarnitur.

1. Freilichtmuseum in Zalaegerszeg

1. Freilichtmuseum in Zalaegerszeg

Von den Institutionen ist das Ethnographische Forschungsinstitut direkt der Ungarischen Akademie der Wissenschaften angeschlossen. Dieses Institut verfügt über zirka 30 wissenschaftliche Mitarbeiter. Organisatorisch gliedert es sich in drei Abteilungen, von denen die „Abteilung für Geistige Kultur“ sowohl in der Aufgabenstellung als auch von der Belegschaftsstärke her die größte Bedeutung hat. In diesem Sinn soll die Institutsarbeit auch in Zukunft weiterentwickelt werden. Die „Abteilung {G-19.} für Materielle Kultur“ verfügt nur über wenige Mitarbeiter, dennoch wird auch hier an einigen wichtigen Forschungsthemen (z. B. am Volkskundeatlas) gearbeitet. Der jüngste volkskundliche Forschungszweig ist in der „Abteilung für Gesellschaftliche Kultur“ untergebracht. Diese Abteilung, deren Forschungsgegenstand innerhalb der ungarischen Volkskunde bisher die relativ geringste Berücksichtigung fand, entwickelt sich gut.

2. Freilichtmuseum in Zalaegerszeg

2. Freilichtmuseum in Zalaegerszeg

In der ältesten und größten ethnographischen Institution, dem Ethnographischen Museum, sind annähernd 200 000 Ausstellungsstücke inventarisiert. Von der Ungarischen Abteilung des Museums wird das ungarische Volkskundematerial gesammelt, magaziniert und aufgearbeitet, daneben auch das Material der mit den Ungarn zusammen lebenden oder ihnen benachbarten Völker. Die Internationale Abteilung sammelt auf allen Gebieten, die nicht in den Bereich der erstgenannten Sektion gehören. Besonders bedeutend ist ihre finno-ugrische, ozeanische und afrikanische Kollektion. In der Ethnologischen Dokumentation sind Aufzeichnungen über die Exponate zu finden, Manuskripte über Sammlungen bei Geländeuntersuchungen und der Nachlaß von besonders verdienten Ethnologen. Die Zahl der vorhandenen Zeichnungen und Fotos läßt sich nur in Hunderttausenden angeben. Den wissenschaftsgeschichtlichen {G-20.} Dokumenten dieser Abteilung kommt in der Volkskundeforschung Ungarns die größte Bedeutung zu. In der Volksmusiksammlung werden vom Ende des vorigen Jahrhunderts an die Phonographenwalzen und in der Folgezeit Schallplatten, Tonbänder und deren Abschriften aufbewahrt. Das umfangreiche Notenmaterial von Béla Vikár, Béla Bartók, Zoltán Kodály und László Lajtha (1892–1963) stellt einen unschätzbaren Wert dar. Ergänzt wird dieses Material durch eine Sammlung von Volksmusikinstrumenten. Die Bibliothek, deren Bestände nahezu 80 000 Bände umfassen, arbeitet als öffentliche Fachbibliothek.

Unter den Provinzmuseen haben 27 ethnographische Sammlungen, jeweils einen Bestand von mehr als 5000 Ausstellungsstücken; fünf von diesen besitzen mehr als 10 000 und drei rund 20 000 Exponate. Zu den Sammlungen gehören auch Manuskript-, Foto- und Bilddokumentationen. Die Sammeltätigkeit und wissenschaftliche Arbeit der Provinzmuseen wird – in großen Zügen – vom Budapester Ethnographischen Museum angeleitet. In den Provinzmuseen arbeiten annähernd 50 Diplomethnologen.

In der Reihe der Volkskundemuseen müssen auch die Freilichtmuseen erwähnt werden. In Anlehnung an das große schwedische Beispiel werden sie in Ungarn auch oft Skansen (1891) genannt. Zwischen den beiden Weltkriegen erlaubten die beschränkten materiellen Mittel lediglich die Aufstellung von einzelnen Häusern. Nach der Befreiung war endlich, in den sechziger Jahren, die Situation zum Bau derartiger Museen reif geworden. Seit 1966 werden in Tihany am Balaton (Plattensee) {G-21.} auf zwei Grundstücken an der ursprünglichen Stelle ein Fischer- und ein Kätnerhaus gezeigt. 1967 wurde das Zalaegerszeger Freilichtmuseum eröffnet. Hier repräsentieren insgesamt 35 Gebäude, darunter 7 Wohnhäuser, die Bauernarchitektur Südwestungarns. 1973 wurde das Dorfmuseum der Landschaft Vas in Szombathely seiner Bestimmung übergeben, in dem 7 vollständige Höfe aus Westungarn mit insgesamt 25 Gebäuden straßenartig angeordnet sind. Im Osten des Landes, unweit von Nyíregyháza, lassen einige Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude schon das hier geplante Sóstóer Dorfmuseum erkennen. Außerdem werden in den verschiedensten Landesteilen einige charakteristische Bauernhäuser an Ort und Stelle vor dem Verfall bewahrt, sie sind meist als Heimatmuseen eingerichtet.

3. Dorfmuseum der Landschaft Vas

3. Dorfmuseum der Landschaft Vas
Szombathely

4. Ungarisches Freilichtmuseum, Szentendre

4. Ungarisches Freilichtmuseum, Szentendre
Landschaft Szatmár

{G-22.} Nördlich von Budapest, am Stadtrand von Szentendre, entsteht das zentrale Ungarische Freilichtmuseum, dessen erster Teilabschnitt bereits im Herbst 1973 für die Öffentlichkeit freigegeben wurde. Es handelt sich um ein großes Unternehmen für das innerhalb von zehn Jahren die Aufstellung von 53 Wohnhäusern, 58 Wirtschaftsgebäuden und 74 sonstigen Gebäuden geplant ist. Die repräsentativen Gebäude wurden aus ganz Ungarn ausgewählt. Außer der traditionellen bäuerlichen Einrichtung werden in ihnen 24 Berufe des Handwerks und des Kleingewerbes mit insgesamt 35 vollständigen Werkstatteinrichtungen Platz finden.

Die umfassende Bestandsaufnahme eines volkskundlichen Sachgebietes ist nur durchführbar, wenn eine einschlägige Dokumentation möglichst lückenlos zur Verfügung steht. Es lohnt sich, einige diesbezügliche Projekte zu erwähnen, da sie eine gute Übersicht über die Hauptforschungsrichtungen der ungarischen Ethnographie geben.

Das Historische Archiv für Volkskunde sammelt die ethnographischen Daten aus unveröffentlichten und veröffentlichten Urkunden, Handschriften und Glossarien aus der Zeit vor 1526. Die Mehrzahl der Daten bezieht sich auf die materielle Kultur. Anhand dieses Materials lassen sich Fragen nach der Siedlung, der Wohnung, der Möblierung, der Ernährung, den Trachten, dem Verkehr und dem Handel im mittelalterlichen Ungarn anschaulich beantworten.

Das Historische Archiv für landwirtschaftliche Arbeitsgeräte erfaßt die {G-23.} Beschreibung und das Fotomaterial von archäologischen, historischen und ethnographischen Gegenständen, es enthält Bilddarstellungen mit Hinweis auf die Arbeitsprozesse, bei denen die Geräte verwandt worden sind. Die Zahl der wissenschaftlich aufgearbeiteten Arbeitsgeräte beträgt annähernd 100 000.

1959 wurde an 240 ungarischen Forschungspunkten mit den Arbeiten am Ungarischen Volkskundeatlas (Magyar Néprajzi Atlasz) begonnen. Außerdem wurden in der Tschechoslowakei in 24 und in Jugoslawien in 22 Dörfern Sammlungen durchgeführt. Die abschließenden redaktionellen Arbeiten an den Karten sind im Gange, und die ersten Probekarten verlassen in Kürze die Druckerei. Das Material für einen Volkskundeatlas der einzelnen Regionen und Komitate wird von den Provinzmuseen gesammelt und zur Herausgabe vorbereitet (Kom. Szolnok, Baranya usw.)

5. Ungarisches Freilichtmuseum, Szentendre

5. Ungarisches Freilichtmuseum, Szentendre
Bauernhof von Kispalád und Botpalád

Das größte gemeinsame Unternehmen der ungarischen Folkloreforschung ist der Ungarische Volksmärchenkatalog (Magyar Népmese {G-24.} Katalógus). Die Mitarbeiter dieses Projekts haben bereits sämtliche im Druck erschienenen Märchen erfaßt und die wichtigsten handschriftlichen Sammlungen aufgearbeitet. Außerdem betreiben sie weitere Forschungen im ungarischen Sprachraum. Das äußerst umfangreiche Material ist soweit bearbeitet, daß die Forschungsergebnisse demnächst veröffentlicht werden können. Unlängst wurde mit den Arbeiten am Ungarischen Sagenkatalog Magyar Monda Katalógus begonnen. Die im Druck erschienenen Sagen sind zum großen Teil bereits registriert, die Aufarbeitung der handschriftlichen Quellen ist in Angriff genommen worden.

Der Katalog der Volksliedtexte Népdalszövegek Katalógusa, der sowohl die publizierten Texte als auch die handschriftlichen Quellen umfaßt, kann als nahezu vollständig bezeichnet werden. Das systematisierte Material ist derart umfangreich, daß an eine Veröffentlichung vorläufig nicht gedacht werden kann. So stehen die Texte der Forschung nur im Manuskript zur Verfügung. Das Corpus musicae popularis hungaricae (Magyar Népzene Tára) erstreckt sich gleichermaßen auf früher und in jüngster Zeit aufgezeichnete Melodien und Texte. Einige stattliche Bände des Archivs sind bereits in mehreren Sprachen publiziert worden. Die Edition weiterer Bände wird gegenwärtig vorbereitet.

6. Ungarisches Freilichtmuseum, Szentendre

6. Ungarisches Freilichtmuseum, Szentendre
Wohnhaus von Kispalád

7. Palotzenhaus

7. Palotzenhaus
Palotzenmuseum, Balassagyarmat

{G-25.} Selbstverständlich haben wir damit noch keineswegs alle zentralen Projekte der ungarischen Volkskunde aufgeführt. Hierher gehören auch jene Unternehmen, die mit der Ethnographie nur teilweise oder indirekt zu tun haben. Erwähnt werden soll zunächst die bedeutendste derartige Sammlung, das Archiv für Schamanismus. Hier finden sich Fotos, Beschreibungen und Zeichnungen von Requisiten und Handlungen des eurasischen Schamanismus, ferner veröffentlichte und im Manuskript vorhandene Sammlungen, Aufzeichnungen und Tonbänder, deren Originale in den Museen und Forschungsstätten Eurasiens aufbewahrt werden.

Ergänzt wurde der Bestand durch den unlängst verstorbenen Begründer des Archivs, Vilmos Diószegi (1923–1972), der die Ergebnisse seiner breitangelegten Sammeltätigkeit in der Sowjetunion eingebracht hat.

Erwähnt seien noch zwei große Projekte der ungarischen Ethnographie, die direkt oder indirekt jeden Wissenschaftler angehen: Das Lexikon für Ungarische Volkskunde (Magyar Néprajzi Lexikon) erscheint voraussichtlich in fünf Bänden und gibt in alphabetischer Anordnung eine Definition der ethnographischen Grundbegriffe sowie eine Beschreibung der volkskundlichen Gegenstände und Phänomene. Der Text wird reich illustriert. Die Artikel liegen bereits vor und werden gegenwärtig redaktionell bearbeitet. Das Werk wird in absehbarer {G-26.} Zeit vom Verlag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben.

Der Ethnographische Hauptausschuß der Ungarischen Akademie der Wissenschaften hat die Vorbereitung und Herausgabe einer neuen Zusammenfassung der Magyar Néprajz (Ungarischen Volkskunde) in sechs Bänden beschlossen. Der erste Band vermittelt einen historischen Überblick, behandelt die ungarische Ethnogenese und untersucht die historische Schichtung der ungarischen Bauernkultur in den verschiedenen Epochen. Zwei Bände befassen sich mit der materiellen Kultur, zwei weitere mit der geistigen, und ein Band ist der sozialen Kultur vorbehalten. Mit den vorbereitenden Arbeiten zu diesem Werk wurde bereits begonnen.

8. Ethnographisches Freilichtmuseum, Tihany,

8. Ethnographisches Freilichtmuseum, Tihany,
Hauseingang

Als Publikationsorgane stehen den Vertretern der ungarischen Ethnographie neben den erwähnten Zeitschriften Ethnographia, Acta Ethnographica, Néprajzi Értesítõ (Anzeiger des Ethnographischen Museums) auch verschiedene Jahrbücher zur Verfügung. So gibt das Forschungsinstitut {G-27.} für Volkskunde seit 1966 jährlich ein Periodicum Népi kultúra – Népi társadalom (Volkskultur – Volksgesellschaft) heraus, in dem in erster Linie die Beiträge der Institutsmitarbeiter veröffentlicht werden. Das Ethnographische Institut der Debrecener Universität publiziert seit 1960 das Jahrbuch Mûveltség és Hagyomány (Bildung und Tradition). Die Bände enthalten zumeist mehrere kleine Studien, von Fall zu Fall aber auch eine einzige umfassendere Abhandlung. Vorrangige Aufgabe der periodischen Veröffentlichung Néprajzi Közlemények (Ethnographische Mitteilungen) ist die Publikation von gesammeltem handschriftlichem Material. Außerdem werden auch wissenschaftliche Arbeiten ediert, die mitunter sogar ganze Bände füllen. Néprajzi Hírek (Ethnographische Nachrichten) werden von der Ungarischen Ethnographischen Gesellschaft jährlich sechsmal herausgegeben. Sie berichten über die neuesten Ereignisse in der Volkskundeforschung. Im sechsten Heft erscheint jährlich eine möglichst vollständige Bibliographie ungarischer volkskundlicher Werke des vorausgegangenen Jahres.

In beachtlicher Zahl finden sich außerdem auch ethnographische Aufsätze in den Jahrbüchern der ungarischen Museen (jährlich an die 20). Des weiteren ist die Volkskunde fester Bestandteil verschiedener anderer Publikationen der Museen.

Die umfangreicheren Arbeiten werden von den Verlagen in Buchform herausgebracht. Die meisten ethnographischen Werke gibt der Verlag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften heraus; neben den ungarischen Ausgaben erscheinen manche auch fremdsprachig. Einen erheblichen Beitrag zur Verbreitung und Popularisierung der Forschungsergebnisse der ungarischen Ethnographie im fremdsprachigen Raum leistete der Corvina Kiadó.