{G-207.} Der Einfluß der historischen Baustile auf die Bauernarchitektur

Die Entwicklung der ungarischen Bauernhäuser und landwirtschaftlichen Bauten wurde vor allem durch die ökonomischen und sozialen Bedingungen, die Naturgegebenheiten, die Bodenverhältnisse und die Traditionen bestimmt, verändert und landschaftlich variiert. Hinzu kommen noch Einflüsse der Wohnkultur benachbarter oder mit den Ungarn zusammen lebender Völker. In der ungarischen Bauernarchitektur erscheinen aber auch – meist in übertragener Form – die großen historischen Baustile; sie gelangten als verspätete Nachahmung der Kirchen, Burgen, Schlösser und Herrenhäuser zu den Bauern.

Die einzelnen Stilelemente, die sich organisch in die Gesamtheit der Bauernarchitektur einfügten, sind besonders an den Randgebieten des Sprachraums zu finden, denn diese Gebiete waren isoliert und konnten solche Einflüsse besser bewahren; außerdem sind die Türken im 16./17. Jahrhundert nicht bis in diese Gegenden vorgestoßen, und ein großer Teil der alten Gebäude blieb daher erhalten. In den Randgebieten findet man die schönsten Holzbauten: Häuser, Türme, Glockenstühle sowie die in Form und Verzierung meisterhaften Szeklertore und die schönsten Giebelwände. All das läßt sich nur schwer – in seiner Gesamtheit eigentlich überhaupt nicht – mit irgendeiner historischen Stilperiode in Verbindung bringen, denn es erscheint stets umgestaltet, angepaßt an die Gesamtkomposition. Trotzdem wollen wir einige Beispiele genauer untersuchen.

Gotische Formtradition bewahren die Glockenstühle und Kirchtürme, besonders deren vier Fialen, in Siebenbürgen und am oberen Lauf der Theiß (Tiszahát), wobei die Balkone eher an Renaissancevorbilder erinnern. Auch einzelne Züge der Zimmermannstechnik beim Szeklertor lassen sich bis zur Gotik zurückverfolgen.

Die Renaissance übte besonders in Siebenbürgen eine nachhaltige, selbst nach Jahrhunderten noch fruchtbare Wirkung auf die dekorative Volkskunst aus. Die bemalten Holzdecken und die Brüstungen in den Kirchen sind direkte Nachbildungen blumenreicher Renaissance-Innenarchitektur. Sie stammen zwar von der Hand meist namentlich bekannter städtischer oder ländlicher Meister, doch ist ihr befruchtender Einfluß auf die dekorative Volkskunst unverkennbar. Die Ofen- und Kaminkacheln der Bauern weisen, selbst wenn sie erst im 18. oder 19. Jahrhundert gebrannt worden sind, Stilmerkmale der Gotik und der Renaissance auf. Dasselbe gilt für die Holzschnitzarbeit des Szeklertores und seine seit dem 18. Jahrhundert übliche Bemalung, die ihre Wurzeln in der blumenreichen Renaissance Siebenbürgens hat. Die Bögen der Laubengänge vor den westungarischen Bauernhäusern sind die getreuen Abbilder der nach italienischen Vorbildern ausgestalteten Loggien der Schlösser und Herrenhäuser.

Die klassizistische Architektur schuf besonders in der Tiefebene eine Reihe von Schlössern und Herrenhäusern. Deshalb war ihr Einfluß auf die Bauernarchitektur hier auch am stärksten. Die Laubengänge der Bauernhäuser wurden von Säulen in bauernklassizistischem Stil getragen. Anderenorts lösten sich die Laubengänge von der Häuserfront, und in gewissem Maße veränderte sich auch der Grundriß. Klassizistische Züge zeigen außerdem die mannigfaltigen Stuckverzierungen an den Hausgiebeln.

{G-208.} All diese mehr oder weniger bedeutsamen Elemente verschmolzen in der ungarischen Bauernarchitektur zu einer Einheit, wobei ältere und jüngere Elemente sich eng miteinander verbanden. Lehmwände oder Feuerherdtypen, die ohne weiteres bis in die Jungsteinzeit zurückverfolgt werden können, erscheinen in ein und demselben Bau in bestem Einklang mit Barock- oder Renaissance-Elementen als Beweis für die schöpferischen Fähigkeiten der ungarischen Bauern, die – wenn auch in jeweils anderer Form – in jeder Bauernkultur nachzuweisen sind.