{G-211.} Das Sammeln

Schon im Mittelalter maß man dem Wert des Sammelns im Vergleich zur produzierenden Tätigkeit nicht allzu viel Bedeutung bei, doch spielte das Sammeln als Nahrungsergänzung einst zweifellos eine Rolle. Der Mensch eignete sich einfach alles von der Natur an, was er gebrauchen konnte, ohne sich dabei um die Reproduktion oder den Schutz der Natur zu kümmern. Deshalb war das Sammeln nur in einem großen Gebiet nutzbringend. Daraus folgt, daß mit der Zunahme der Bevölkerung und der Umgestaltung der Landschaft in Kulturland die vorhandene Menge der Sammelobjekte ständig abnahm. Ganz verschwunden ist das Sammeln allerdings bis heute nicht, denn nach wie vor sammelt man Pilze, Heilpflanzen und auch Beeren (Himbeeren, Erdbeeren).

Welche Pflanzen wild gedeihen, hängt vom Boden und vom Klima ab. Die Beschaffenheit der Flora wiederum bestimmt die Art und Weise des Sammelns und die benötigten Hilfsmittel. Deshalb gab es in den Sumpfgegenden, in den Pußten der Großen Ungarischen Tiefebene und in den Wäldern des Berglandes jeweils andere Sammelformen.

Bis Mitte, stellenweise bis Ende des 19. Jahrhunderts war der mittlere Teil Ungarns ständiges Sumpfgebiet, das alljährlich von den Flüssen neu überschwemmt wurde. Es bot vielerlei Nahrung und zahlreiche Rohstoffe. Die Wassernuß (Trapa natans) gedeiht in flachen, schlammigen Gewässern. Man fischte sie in den ersten Herbsttagen vom Kahn aus, indem man ein Stück Pelz oder einen Lämmerschwanz hinter dem Kahn herzog, an dem die stachligen Früchte hängen blieben. In {G-212.} manchen Gegenden gab es so viele Wassernüsse, daß man sie mit dem Rechen an Land ziehen konnte. Die Wassernuß wurde gekocht und geschält. Das weiße mürbe Innere, das der Edelkastanie gleicht, hat man entweder so gegessen oder mit Mehl vermischt weiterverarbeitet. Aus dem Teig wurde oft auch Brot gebacken. Ein beliebtes Nahrungsmittel in der Tiefebene war das Süßgras (Glyceria), eine der Hirse ähnliche Pflanze. Früh am Morgen stellte man ein Sieb unter die Pflanze, schüttelte sie und sammelte so die Körner. Mit Vogeleiern verrührt entstand ein Teig, den man ausbacken konnte. Das mehlige Mark des breitblättrigen Rohrkolben (Typha latifolia) backten die Hirten am offenen Feuer. Daraus konnte man auch Pogatschen backen. Die Quellen erwähnen sie meist als Nahrung in Hungerszeiten.

Abb. 62. Wassernußschöpfen mit einem Pelzstück durch eine Wune an der Theiß, um 1920

Abb. 62. Wassernußschöpfen mit einem Pelzstück durch eine Wune an der Theiß, um 1920

Die wertvollste Pflanze der Sümpfe war das Schilf (Phragmites). Es wurde im Winter, wenn die Gewässer zugefroren waren, geschnitten, und zwar entweder mit einer langstieligen Sichel oder mit dem sogenannten Schieber (toló), einer dicken Klinge mit je einem Stiel an beiden Enden, die man vor sich durch das Röhricht schob. Aus dem geschnittenen Schilf wurden Garben gebunden, die man pyramidenförmig am Ufer oder auf einer kleinen Insel aufstellte. Die Halme lieferten Dachbedeckung, Wandbelag, Zäune, Windschutzmatten für die Unterstände des Viehs; man legte sie auch dem Kind als Unterlage in die Wiege oder kleidete das Grab damit aus als Schutz gegen das Grundwasser. So begleitete das Schilf die Menschen der Sumpfgebiete von der Wiege bis zum Grab.

Abb. 63. Wassernuß-Verkaufstisch auf dem Markt.

Abb. 63. Wassernuß-Verkaufstisch auf dem Markt.
Debrecen, Anfang 20. Jahrhundert.
a) Gefäß als Hohlmaß für Wassernüsse; b) Eine Art Messer (kákó) zum Abschneiden der Stachel von den gekochten Wassernüssen

Der Rohrkolben (Typha L.) wird im August geschnitten, entweder vom Kahn aus oder im Wasser watend, in ständigem Kampf mit den Blutegeln. Ist das Rohr am Ufer getrocknet, wird es in den Hof geschafft und nach entsprechender Vorbereitung zu Körben, Tragtaschen, Bienenkörben, Matten usw. verarbeitet. Lange gab es in Ungarn Dörfer, die sich durch Rohrflechten auszeichneten und ihre Waren auf weit entfernte Märkte brachten.

Der typische Vertreter der Sammler in den Sumpfgebieten der Tiefebene war der Kleinfischer (pákász). Sein ganzes Leben verbrachte er im Röhricht. Seine Hütte stand auf dem erhöhten Teil irgendeiner Insel. Nur selten hatte er eine Familie; ins Dorf ging er nur, wenn er Fisch, Wild oder Federn gegen andere Lebensmittel eintauschen wollte. Er sammelte Wassernüsse, Süßgras und Rohrkolben, fischte und fing Vögel mit der bloßen Hand oder mit einem Fanggerät. Er stöberte die Nester der Wasservögel auf, sammelte zu Tausenden ihre Eier und die bereits eßbaren Jungvögel. Für gutes Geld oder Nahrungsmittel verschaffte er den Burschen im Dorf die schönsten Vogelfedern, die diese sich an den Hut steckten. Die Menschen dieser spezifischen Lebensform sind mit der Trockenlegung der Sümpfe Ende des vorigen Jahrhunderts verschwunden.

Abb. 64. Schieber zum Schilfschneiden auf dem Eis.

Abb. 64. Schieber zum Schilfschneiden auf dem Eis.
Gárdony, Kom. Fejér, um 1950

Ein wichtiger Bereich des Sammelns waren die Heilpflanzen. „In Kräutern und Bäumen steckt Medizin“, heißt es in einem alten ungarischen Sprichwort. Tatsächlich war die Volksheilkunde sehr vielseitig, und oftmals verwendet man noch heute Heilpflanzen berechtigterweise als Medizin, so unter anderem die Kamille (Matricaria), die mit einem kammartigen Gerät gepflückt wurde, und die Preiselbeere {G-213.} (Vaccinium). Aus Lindenblüten wurde im Winter ein Hustentee gekocht. Die verschiedensten Wurzeln wurden getrocknet und für den Winter, die Zeit der Krankheiten, aufbewahrt. Die volkstümliche Verwendung der Heilpflanzen stimmte vielfach mit den Ratschlägen mittelalterlicher Medizinbücher überein. Das Wissen aus diesen Büchern sickerte langsam ins Volk und wurde Bestandteil seines Wissens.

Das eigentliche Sammelgebiet waren das Bergland und die Wälder. Einst hat man die Bäume einfach gerodet, ohne sich um ein Aufforsten zu kümmern. Die mächtigen Langhölzer wurden im Winter gefällt, teils an Ort und Stelle zersägt und ins Dorf geschafft, teils mit einem Eigentumssiegel versehen, ins Tal gerollt und von dort auf den Flüssen befördert. Am Ufer suchte sich jeder anhand des Siegels seine Stämme heraus. Sie wurden zu Flößen verbunden und in die Tiefebene gebracht.

97. Beim Weidenrutenspalten

97. Beim Weidenrutenspalten
Kiskunfélegyháza

Das Holz selbst wurde vielfältig verwendet. Im Wald brannte man Holzkohle oder Pottasche für die Glasherstellung. Holz war auch der {G-214.} Grundstoff für die Wagenschmiere. Andere schnitten die Rinde der Nadelbäume ein, befestigten ein Gefäß unter der Einschnittstelle und fingen darin das Harz auf. Im Frühling, wenn die Säfte stiegen, wurden die Bäume angezapft. Besonders begehrt war das süßliche Birkenwasser (nyírvíz), bei den Szeklern viricse, das man gären ließ. Es wurde noch im 18. und 19. Jahrhundert auf den Märkten in der Tiefebene angeboten.

Die Waldgebiete waren reich an Pilzen; an manchen Orten kannte man 30 bis 40 eßbare Pilzarten, die regelmäßig gesammelt wurden. Der Wald lieferte nicht nur Heizmaterial, man sammelte auch herabfallendes Laub, das eine vorzügliche Streu für das Vieh war und im Notfall sogar dem Futter beigemischt wurde, um die Tiere bis zum Frühling vor dem Verhungern zu bewahren. Vielerorts wurden die Bäume entrindet, und aus der Rinde fertigte man Gefäße, in denen Waldfrüchte gesammelt wurden. Buchenrinde und Bucheckern wurden getrocknet, gemahlen und in Notzeiten mit Mehl vermengt zu Brot ausgebacken.

Auch die Früchte der Bäume konnten mannigfach verwendet werden. Wildes Obst (Apfel, Birne) wurde getrocknet, mancherorts zu Essig oder erfrischenden Getränken verarbeitet. Aus Hagebutten, Himbeeren und Walderdbeeren kochte man Marmelade.

Die ökonomische Bedeutung des Sammelns war nicht groß, doch war die Sammeltätigkeit außerordentlich vielfältig und reichte zumeist weit in die Vergangenheit zurück. In den letzten zwei Jahrhunderten gewann das Sammeln vor allem dann an Bedeutung, wenn das Ackerland in Kriegszeiten verwüstet war oder lange Dürrezeiten die Ernte teilweise oder ganz vernichteten. In solchen Situationen hat man auf lange vergessene Formen des Sammelns wieder zurückgegriffen.