Ethnogenese und kultureller Stellenwert des ungarischen Volkes in Europa

Abb. 1. Die finnisch-ugrischen Völker und ihre Beziehungen zueinander

Abb. 1. Die finnisch-ugrischen Völker und ihre Beziehungen zueinander

Die Ungarn bilden zahlenmäßig die größte Gruppe der finno-ugrischen Sprachfamilie, gefolgt von. den Finnen, den in der Sowjetunion ansässigen Esten und anderen kleineren und größeren Volksgruppen. Den Zeugnissen der Sprachwissenschaft, Archäologie, Pflanzen- und Zoogeographie und sonstiger Wissenschaftszweige zufolge befand sich ihre Urheimat im westlichen Wolga-Kama-Gebiet, wo die finnougrischen Völker ungefähr bis zum 3. Jahrtausend v. Chr. nahe beieinander gelebt haben. Nach den Erkenntnissen der Archäologie und Sprachwissenschaft handelte es sich bei diesen ethnischen Gruppen um Fischer und Jäger, die bereits, bevor sich die Gruppen trennten, die Tierhaltung kannten und sich in Anfängen auch mit dem Ackerbau befaßten. In der Urheimat ließen sich die späteren Ungarn in der Nähe der Wogulen (Mansi) und Ostjaken (Chanti) nieder, gemeinsam mit ihnen bildeten sie den ugrischen Zweig. Doch wie sich aus dem ungarischen Wortschatz ableiten läßt, unterhielten sie auch Beziehungen zu den Permiern. Aus der materiellen Kultur der finno-ugrischen und ugrischen Periode ist fast überhaupt nichts erhalten geblieben. In dem einen oder anderen Gerät oder in Jagd- und Fischereibräuchen läßt sich irgendein Relikt erahnen. Dafür ist in der geistigen Kultur um so mehr Material aus dieser frühen Kulturschicht verborgen. In den Klage- und Zaubergesängen, in den Kinderspielen, im Geisterglauben {G-28.} und im Schamanismus tauchen Elemente auf, die bis in die Frühzeit der ethnischen Geschichte der Ungarn zurückverfolgt werden können.

Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. lösten sich die Ugrier (Wogulen, Ostjaken, Magyaren) langsam von der finnisch-permischen Gruppe (Finnen, Esten, Syrjänen [Komi], Wotjaken [Udmurten], Tscheremissen [Mari], Mordwinen, Lappen usw.). Die Magyaren (Ungarn) mögen sich um 1000–1500 v. Chr. von den späteren Ob-Ugriern (Wogulen, Ostjaken) getrennt haben. In diese Zeit fällt die sog. Ananino-Kultur, zu der vermutlich auch die Proto-Ungarn gehört haben, die bereits Erdwälle errichteten und aus Knochen gefertigte Werkzeuge in großer Zahl hinterließen. Die Ungarn verlagerten sich von der Wolga–Kama-Gegend in südsüdöstlicher Richtung, das heißt, aus der Waldzone in die Welt der Strauchsteppe.

Doch nicht nur die Landschaft um sie herum war anders, sie kamen auch mit anderen Völkerschaften, größtenteils Turkvölkern, in Berührung. Auf diese Weise eigneten die Ungarn sich die wichtigsten Kenntnisse in der Viehhaltung, der Schaf-, Rinder- und Pferdezucht, an. Sie betrieben eine nomadisierende Weidewirtschaft. Zu dieser Zeit wurden sie auch mit den Grundelementen der Bodenbearbeitung mittels des Pfluges vertraut, was gleichzeitig bereits eine teilweise Seßhaftwerdung vermuten läßt. Ihre Beziehungen zu den Turkvölkern scheinen derart eng gewesen zu sein, daß sie in byzantinischen Quellen anfangs als Türken bezeichnet werden. In anderen Schriftdenkmälern werden sie ebenfalls mit einem türkischen Wort – Onoguren („zehn Stämme“) – benannt. Hieraus leitet sich die Benennung der Ungarn in den meisten europäischen Sprachen ab: (h)ungarus, Ungar, vengri usw. Die Ungarn selbst gaben sich den ugrischen Stammesnamen magyer, aus dem Magyar(en) geworden ist.

Im Zuge ihrer Wanderungen nach Süden gelangten die Ungarn bis ins Vorland des Kaukasus, wo sie – zumindest vom 8. Jahrhundert an – in das Chanat der Chasaren eingegliedert wurden. Dieses Reich, das sich durch eine entwickelte Viehzucht, Garten- und Weinkultur sowie Ackerbau hervortat, zeigte bereits Merkmale eines frühfeudalen Staatswesens, woran auch die Magyaren Anteil hatten. Im 9. Jahrhundert zogen sieben ungarische Stämme westwärts und eroberten ein riesiges Gebiet, das sich bis zum Unterlauf der Donau erstreckte. Ihnen {G-29.} angeschlossen hatten sich auch die aufrührerischen Chabaren, ein Stamm der Chasaren. Zu dieser Zeit werden die ungarischen Stämme von den byzantinischen Quellen bereits als Magyaren erwähnt, die nicht nur nomadisierende Viehhaltung, sondern auch Ackerbau betreiben. Ihre mehr oder weniger ständigen Lager hatten sie hauptsächlich an Flußufern aufgeschlagen.

Spuren einer Berührung mit verschiedenen Turkvölkern lassen sich in den Eigenheiten der Viehhaltung, insbesondere der nomadisierenden Viehhaltung, im Ackerbau und im Weinbau nachweisen. An der Bekleidung und der Bauweise sind ebenso einige Züge erkennbar, die an diese Völker erinnern, wie auch bei der Hanfverarbeitung beziehungsweise den dazu verwendeten Arbeitsgeräten. Auf dem Gebiet der Folklore haben sich gleichfalls viele Elemente bis in unsere Tage erhalten, wenn sie auch oft durch andere Strukturen verdeckt werden. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Aneignung der Runenschrift und die volle Entfaltung des Schamanentums, das in der Gestalt des táltos (etwa: Zauberer) seine Personifizierung fand. Die pentatonischen Gesänge mit Quintenwechsel lassen sich über die Turkvölker bis nach Innerasien verfolgen, und beinahe ein Zehntel des ungarischen Volksliedguts ist von diesem Typ. Auch in den Hochzeits- und Bestattungsbräuchen stoßen wir auf Bestandteile, die auf diese Zeit hinweisen.

Auf südrussischem Territorium kamen die Ungarn erstmals mit verschiedenen ostslawischen Stämmen in Berührung, so mit den Sewerjanen und den Poljanen, von denen sie für die Chasaren Steuern eintrieben. Mit diesen Stämmen lebten sie im Kriegszustand, und die Gefangenen verkauften sie im Schwarzmeerhafen an byzantinische Händler. Doch ihre Beziehungen waren nicht nur kriegerischer Natur, es lassen sich auch Spuren friedlichen Zusammenlebens erkennen. Ihre früheren Kenntnisse über die Fischerei bereicherten sie auf diese Weise durch neue. So wurden sie insbesondere mit Geräten und Verfahren der Gemeinschaftsarbeit vertraut. Auch im Ackerbau erweiterten sie ihr Wissen. Aller Wahrscheinlichkeit nach übernahmen die Magyaren von den slawischen Stämmen auch den spurgerechten Karrenpflug. Verschiedene Elemente aus der Glaubenswelt wie beispielsweise die mit dem Hexenglauben zusammenhängenden Elemente dürften ebenfalls auf diese Zeit zurückgehen.

Die kriegerischen und nomadisierenden Gruppen der Ungarn fielen bereits von 862 n. Chr. ab in das Karpatenbecken ein und mischten sich in die Auseinandersetzungen der hier lebenden Völkerschaften ein, wobei sie bald die Partei der einen, bald der anderen ergriffen. In dieser Zeit zog der Stammesfürst der Ungarn mit ungefähr 20 000 Reitern ins Feld. Diese Zahl setzt als Basis vermutlich 100 000 Familien voraus, so daß die gesamte Volkszahl die Halbmillionengrenze erreicht oder überschritten haben dürfte.

Die Ungarn schlugen im Bündnis mit Byzanz die Bulgaren. Aus Rache dafür hetzten diese die von Osten herandrängenden Petschenegen auf die Ungarn, und das zu einer Zeit, da sich das ungarische Heer auf Streifzügen befand. Die verwüsteten Siedlungen und die begründete Furcht vor neuerlichen Angriffen ließ ihnen keine andere {G-30.} Wahl, als weiterzuziehen. So drang im Jahre 896 der gesamte Stammesverband in das Karpatenbecken ein, das er innerhalb weniger Jahre vollständig besetzen konnte.

Das Karpatenbecken war im Laufe der Geschichte die Heimat vieler Völker gewesen, deren Kultur in manchen Fällen von den Nachfolgern übernommen wurde. So geht auf die Kelten (4.–1. Jh. v. Chr.) der Gebrauch der Eisenwerkzeuge im größeren Ausmaß zurück. Die Kelten unterlagen später den Römern, die in Siebenbürgen (Provinz Dazien) und noch mehr im Gebiet südlich und westlich der Donau (Provinz Pannonien) eine Kultur zurückgelassen haben, von der gewisse Elemente selbst in den Jahrhunderten der Völkerwanderung nicht völlig verwischt wurden.

Im relativ dünn besiedelten Karpatenbecken fanden die Ungarn vielerlei Volksstämme vor. Einen Teil der mittleren Pußtagebiete und Siebenbürgens hielten die Bulgaren okkupiert, anderswo siedelten verschiedene slawische Völker inselartig: Mähren, Donauslowenen, Weißkroaten, Slowaken und andere. Seit der Zeit des Frankenreiches Karls des Großen waren im westlichen Grenzland Bayern ansässig. Allein das Goßmährische Reich, das sich im Osten bis zur Gran erstreckte, stand den Ungarn als starkes Staatengebilde im Weg, wurde aber von ihnen ebenfalls besiegt. Die unterworfenen Völker paßten sich den Ungarn an, doch lassen sich auch umgekehrte Tendenzen beobachten. Die ungarisch-slawischen Wechselbeziehungen bestanden fort und dauern bis zum heutigen Tage an.

Der Kontakt der Ungarn mit Europa war mehr als ein halbes Jahrhundert lang nur kriegerischer Art. Man unternahm Streifzüge, das heißt Beutezüge nach Westen. Unter Ausnutzung der Zerrissenheit des feudalen Westens und dessen ständiger Zwistigkeiten verbündeten die Ungarn sich bald mit dem einen, bald mit dem anderen Herrscher und überzogen die Länder mit Krieg, kämpften in Italien und Deutschland, tauchten auch in der Schweiz und in Frankreich auf und einmal sogar in Spanien. Derartige Feldzüge hatten vielerlei Vorzüge für die ungarischen Stammesfürsten nicht nur, weil sich ihre Truppen in den ständigen Manövern stets bewähren konnten, sondern auch, weil sie ihnen die nötige Ruhe im Innern des Landes verschafften, indem sie Angriffe aus dem Westen von den Landesgrenzen fernhielten und so ein Staatsaufbau organisiert werden konnte. Die Geschwindigkeit der ungarischen Reiterei, ihre furchterregenden Pfeile und ihre neue Kampfart verbreiteten in Europa allgemeinen Schrecken, bis sie 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg von den vereinigten deutschen Heeren unter Otto dem Großen eine entscheidende Niederlage erlitten. Im Verlauf ihrer Streifzüge gewannen die Ungarn Einblick in eine völlig andere und für sie neue Welt, erstmalig kamen sie mit der europäischen Kultur in Berührung.

Doch hätten all diese Einflüsse keine grundlegende Veränderung der bis dahin halb seßhaften und halb nomadisierenden Lebensweise herbeizuführen vermocht. Ausschlaggebend wirkten die zuerst von Byzanz ausgehenden Christianisierungsbestrebungen. Stephan I. entschloß sich für das römische Christentum, er ließ sich taufen und veranlaßte – teilweise unter Zwang – das gesamte ungarische Volk zu {G-31.} diesem Schritt. Dadurch wirkte Stephan I. erfolgreich jenem Auflösungsprozeß entgegen, von dem viele Völker der Völkerwanderungszeit im Karpatenbecken betroffen gewesen waren und der zu ihrem Untergang geführt hatte. Die Ungarn konnten ihre Eigenstaatlichkeit, ihre eigene Sprache bewahren, wenn auch ein großer Teil der eigenständigen Kultur, der Glaubenswelt und des Brauchtums verloren ging beziehungsweise sich veränderte und mit anderen Kulturelementen verschmolz.

Im Grunde hat sich das Christentum durch slawische Vermittlung bei den Ungarn durchgesetzt, was gleichzeitig mit einer Fülle von neuen Wörtern, Begriffen, Gegenständen und Phänomenen verbunden war. Daher kommt es, daß die meisten mit dem religiösen Leben verbundenen Wörter im Ungarischen slawischen Ursprungs sind. Slawen halfen auch bei der Errichtung des neuen feudalen Staates und vermittelten den Ungarn die entsprechenden Begriffe und ihre Benennungen. Hinsichtlich der Volkskunde ist jedoch der slawische Einfluß auf dem Gebiet der Landwirtschaft von größerer Bedeutung. Im System der Feldwirtschaft, doch auch in der Art und Weise der Bestellung und der Ernteeinbringung traten nachhaltige Veränderungen ein. Insbesondere die Einführung des Gemüseanbaus in Gärten kann den mit den Ungarn zusammen lebenden slawischen Völkern zugeschrieben werden. Die Bezeichnungen der verbreitetsten Gemüsesorten wie zum Beispiel bab (Bohnen), cékla (rote Beete), mák (Mohn), retek (Rettich), ugorka (Gurken) sind direkt aus dem Slawischen übernommen worden. Der sich aus den engen Beziehungen ergebende slawische Einfluß läßt sich auch im Handwerk und Gewerbe, in der Familie, in den verwandtschaftlichen Verflechtungen, im Haus, in der Wohnung, bei der Ernährung, der Bekleidung und auf zahlreichen anderen Gebieten nachweisen. Selbstverständlich kann hier immer nur von wechselseitigen Einflüssen gesprochen werden. So werden im Slowakischen zum Beispiel etwa 1000 Wörter ungarischer Herkunft verwendet, was zum Teil mit dem Aufkommen neuer Begriffe und Kenntnisse zusammenhängt.

Die Anfänge der Berührung mit den Deutschen in den westlichen Grenzmarken fallen bereits in die Zeit der ungarischen Landnahme. Diese Beziehungen wurden besonders unter der Regierung Stephans I. fester, der mit einer bayerischen Prinzessin verheiratet war und bayerisch-österreichische Ritter, Priester und Bürger ins Land holte. Im 12. und 13. Jahrhundert wanderten Bauern und Handwerker in wesentlich größerer Zahl ein, deren Nachkommen noch heute zum Teil noch in der Zips (Tschechoslowakei) und in Siebenbürgen (Rumänien) leben. Der hiermit verbundene Einfluß machte sich vor allem im Stadtleben, in den Zünften und im Handwerk bemerkbar, doch drang der eine oder andere Gegenstand und Begriff auch bis in die bäuerliche Kultur vor, zum Beispiel tönköly (Dinkel), bükköny (Wicke), csûr (Scheune), istálló (Stall), major (Meierhof), puttony (Butte) usw., was auf eine Entwicklung zu intensiverer Bewirtschaftung schließen läßt.

Abb. 2. Osteuropa im 9. Jahrhundert und die früheren Siedlungsgebiete der Ungarn

Abb. 2. Osteuropa im 9. Jahrhundert und die früheren Siedlungsgebiete der Ungarn

Frühzeitig ergaben sich auch Beziehungen zu den Italienern, doch kommt diesen Kontakten im Vergleich zu den slawisch-deutschen {G-32.} wesentlich geringere Bedeutung zu. Vor allem in der städtischen Kultur hinterließen bestimmte Fachausdrücke der Schiffahrt wie sajka (Nachen), bárka (Barke), gálya (Galeere) und des Handels wie piac (Markt) einige Spuren. Durch die Bauten (Kirchen, Burgen und Schlösser) der in Ungarn arbeitenden italienischen Meister kam es zu einer Vermittlung der großen europäischen Stilrichtungen, was sich allmählich auch auf die Bauernarchitektur auswirkte. Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert setzte eine bedeutende französisch-wallonische Siedlungswelle ein. Neben Priestern und Mönchen kamen auch Bauern, deren Einfluß sich beispielsweise im Weinanbau gut nachweisen läßt.

Slawischer, deutscher, italienischer, französischer und sonstiger westlicher Einfluß ist nicht nur in der materiellen Kultur, sondern auch in der Folklore rekonstruierbar. Die großen kulturellen Umwälzungen erreichten zuerst die herrschenden Klassen, bevor sie sich nach und nach auch bei der Bauernschaft bemerkbar machten. Als einer der Vermittler der neuen Kultur trat die Kirche auf, die die Ungarn durch ihre Heiligen und die an sie geknüpften Legenden sowie durch das Brauchtum an den religiösen Festtagen mit einer neuen Geisteskultur bekannt machte. Spielleute verbreiteten am Hof des Königs und der Aristokratie die westlichen Heldengesänge, während die einstigen heidnischen Sänger auf den Wirkungsbereich im Volk zurückgedrängt und {G-33.} im übrigen samt der Erinnerung an die alte Glaubenswelt von den Priestern unbarmherzig bekämpft wurden.

Zu dieser Zeit setzte nach und nach der Differenzierungsprozeß der epischen Kunstgattungen ein. Neben den Heldengesängen gewannen die Legenden, Sagen und Balladen eine immer größere Bedeutung. Eine frühe Kulturschicht der Legenden, Sagen und Balladen gelangte vermutlich mit den wallonisch-französischen Siedlern ins Karpatenbecken.

Obwohl das ungarische Bauerntum vieles von seiner geistigen Kultur aus der früheren Zeit bewahrte, schlug es doch allmählich den mitteleuropäischen Weg ein. Wiederholte heidnische Aufstände zeigen zwar, daß diese Umwälzung nicht ohne Reibungen vor sich ging. Doch die große wirtschaftliche und die darauffolgende geistige Wandlung ließen sich nicht mehr aufhalten. Bedeutsam für den Verlauf dieser Entwicklung war auch die Tatsache, daß die politischen Beziehungen zum Osten merklich abflauten. Die Arpaden (bis 1301) unterhielten zwar noch – hauptsächlich verwandtschaftliche – Beziehungen zu Kiew und so auch zur byzantinischen Ostkirche, doch ein die große Masse des Volkes berührender wirtschaftlicher und kultureller Einfluß ergab sich daraus nicht.

Zwischen 1241 und 1242 verwüsteten die Mongolen einen bedeutenden Teil des Landes. In dieser Zeit kamen die nomadischen Kumanen und nach ihnen die Jazygen in die zur extensiven Viehhaltung geeigneten ebenen Landstriche Mittelungarns. Ihr Erscheinen führte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu einem Wiederaufleben alter heidnischer Traditionen, zumal auch einige Könige (Ladislaus IV. der Kumane) den Bräuchen der Ahnen huldigten. Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte fügten sich die Kumanen und Jazygen allerdings in die höhere Entwicklungsstufe der Ungarn ein, lediglich einige ihrer Wörter und Gegenstände wurden von der ungarischen Sprache und Kultur übernommen, so z. B. buzogány (Streitkolben), csõdör (Hengst), komondor (Komondor = ungarischer Schäferhund), kobak (Schädel), balta (Beil), csákány (Spitzhacke) usw.

Die Mehrheit der Ungarn, das arbeitende Volk, gliederte sich bereits im Mittelalter in zahlreiche Schichten, die mehr oder weniger voneinander getrennt waren. Die Lage und die Lebensumstände der unfreien Bauern, der Erb- oder freien Fronbauern, der Freigelassenen und der Handwerker änderten sich in den verschiedenen historischen Phasen. Die unfreien Bauern hatten dem Feudalherrn den Neunten und der Kirche den Zehnten von den Erträgen ihres Landes in Naturalien zu zahlen. Außerdem hatten sie Frondienst zu leisten sowie fallweise Geld und Geschenke zu geben. Besonders die Höhe der letzteren Abgaben war Schwankungen unterworfen, je nachdem, was der Feudalherr brauchte. Im allgemeinen kann festgestellt werden, daß sich die Lage der Bauern gegen Ende des Mittelalters zusehends verschlechterte. Infolgedessen vermehrten sich die lokalen Bauernunruhen und Aufstände.

Im Jahre 1514 kam es zum großen Bauernkrieg unter Dózsas Führung. Nach seiner grausamen Niederschlagung wurden die Rechte der Bauern weitgehend eingeschränkt, es wurde über sie die unauflösliche {G-34.} Leibeigenschaft verhängt. Die Bauern verloren das Recht der freien Wohnsitzwahl, und die zu leistende Fronarbeit wurde auf wöchentlich ein bis zwei, oftmals sogar noch mehr Tage erhöht. Diese Entwicklung vollzog sich zu einem Zeitpunkt, als die türkische Expansion das Land immer stärker bedrohte. 1526 fügten die Türken den Ungarn in der Schlacht bei Mohács eine vernichtende Niederlage zu, König Ludwig II. fiel auf dem Schlachtfeld. Damit setzte die Dreiteilung des Landes ein: Mittel- und Südungarn wurde von den Türken besetzt, die nördlichen und östlichen Gebiete fielen den Habsburgern zu, während in Siebenbürgen ein von den Türken mehr oder weniger anerkanntes selbständiges Fürstentum entstand.

Obwohl diese Periode nahezu anderthalb Jahrhunderte, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts andauerte und die schwerste Zeit in der Geschichte Ungarns war, hörte die kulturelle Entwicklung dennoch nicht ganz auf. Von den großen Kunst- und Geistesströmungen waren Renaissance und Humanismus in Ungarn schon im 15. Jahrhundert auf fruchtbaren Boden gefallen, es folgte die Reformation und das Aufkommen des Buchdrucks, auch Schulen wurden in wachsender Zahl gegründet. Die Bauern hatten in den von den Türken besetzten Gebieten am meisten zu leiden. Überhöhte Steuern, Raub, Plünderungen und Brandschatzungen waren an der Tagesordnung. Dessenungeachtet entwickelte sich die bäuerliche Kultur auch in dieser Zeit weiter. Die Dreigliederung des Hauses (Stube, Küche, Kammer) setzte sich mehr und mehr durch, einige Möbelstücke von neuartiger Form und Bestimmung kamen damals auf. In den von den Türken verschonten Marktflecken erblühte das Gewerbe. Dort wurden sogar von den Türken übernommene Kleidungsstücke, etwa kalpag (Kalpak = Lammfellmütze), csizma (Schaftstiefel), papucs (Pantoffeln), dolmány (Dolman = Männerrock der alttürkischen Tracht) hergestellt und neue Speisen wie tarhonya (getrocknete Mehlspeise) ausprobiert. Ein großer Teil der Kulturgüter osmanisch-türkischer Herkunft erreichte die Ungarn durch südslawische Vermittlung.

Die Bauernkultur Siebenbürgens ist ein Produkt wechselseitigen Einflusses der miteinander oder nebeneinander lebenden Ungarn, Rumänen und Siebenbürger Sachsen. Ein wenig vereinfacht stellt sich die Situation so dar, daß die Ungarn Ackerbau betrieben, die Rumänen Viehzucht und die Sachsen das Handwerk, wobei sie sich gegenseitig mit ihren Produkten belieferten. Die vielseitige Entfaltung der Renaissance, der Import türkischer Handwerkserzeugnisse und der damit verbundene Einfluß auf die Volkskultur lassen sich gut zurückverfolgen.

Die Siedlungsdichte nahm im nördlichen Landesteil Ungarns, der von den Habsburgern regiert wurde, zu, da die Feudalherren aus dem Süden, oft auch ihre Leibeigenen, in großer Zahl hierher flüchteten. Allerdings entgingen auch sie nicht den Plünderungen, die hier die kaiserlichen Söldner – nicht milder als die Türken – betrieben. In der Kultur war hier der deutsche Einfluß stärker spürbar, doch wurde die Bauernschaft davon weniger betroffen.

Kaum war das türkische Joch gegen Ende des 17. Jahrhunderts abgeschüttelt, griffen die Ungarn bereits wieder zu den Waffen, um sich von der Unterdrückung durch die verhaßten Habsburger zu befreien. {G-35.} Der Freiheitskampf unter Ferenc Rákóczi II. dauerte von 1703 bis 1711. Nachdem er niedergeschlagen war, verteilten die Habsburger die fruchtbarsten Gebiete des ausgeplünderten und entvölkerten Landes an die österreichisch-deutschen Gutsherren, die sich im Krieg Verdienste erworben hatten. In dieser Zeit setzte eine Wanderung aus dem Norden nach Süden ein, wobei ungarische Volksgruppen, die einst vor den Türken nach Nordungarn geflüchtet waren, in die Ungarische Tiefebene zogen; hier ließen sich auch Slowaken nieder. Doch die deutschen Ansiedlungen – in erster Linie in Westungarn, aber auch in verschiedenen Teilen der Tiefebene und Oberungarns – lagen zahlenmäßig wesentlich höher. So machten die Ungarn am Ende des 18. Jahrhunderts kaum 50 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes aus. All dies wirkte sich neuerlich auf die ungarische Bauernkultur aus, allerdings in geringerem Umfang, da die meist isoliert siedelnden Nationalitäten entweder von den Ungarn absorbiert wurden oder wesentliche Elemente ihrer Kultur übernahmen.

Im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten folgte eine relativ friedliche Ära, die eine gewisse Konsolidierung der Bauernschaft mit sich brachte, obwohl die Belastungen wuchsen. Außer den Naturalabgaben mußten die Bauern jährlich 52 Tage mit ihrem Gespann oder 102 Tage zu Fuß Frondienst leisten, Fuhrdienste zogen sich oft über mehrere Tage hin. Auch strukturell hatte sich die Landwirtschaft verändert, die extensive Viehhaltung war im Rückgang begriffen, der Ackerbau nahm an Bedeutung zu, neue Pflanzen (Kartoffeln, Mais, Paprika, Tabak) fanden großräumige Verbreitung. Das Haus und die Inneneinrichtung hatten sich weiter entwickelt, verschiedene Elemente der Volkstracht, die bis zum heutigen Tage fortleben, traten damals neu auf. In dieser Zeit erhält das ungarische Volkslied neuen Stils seine Form, und es entstehen die charakteristischsten Tänze. Gegen Ende der Epoche, die 1848 mit der Aufhebung der Leibeigenschaft abgeschlossen wird, treten jene Züge der ungarischen Bauernkultur in den Vordergrund, die sich mit Hilfe der musealen Sammlungen und aufgrund persönlicher Erinnerungen wissenschaftlich noch unmittelbar studieren lassen.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts werden die Unterschiede im Landbesitz der Bauern immer sichtbarer, wobei sich auch der Einfluß des Frühkapitalismus bemerkbar macht. Es läßt sich eine ständig wachsende Diskrepanz zwischen den 20 bis 50 ha besitzenden reichen und den sich auf 1 bis 5 Hektar abplagenden landarmen Bauern beobachten. Viele der Kleinbauern gaben auf und vermehrten so das Heer der besitzlosen Agrarproletarier und der auf feudalem Großgrundbesitz arbeitenden Knechte und Mägde. Schichten bilden sich auch im Lager des Agrarproletariats heraus: Gesinde, Erdarbeiter, Landarbeiter der Melonen- und der Tabakplantagen, deren Kultur jeweils bestimmte, nur für diese Schichten charakteristische Elemente enthält. Trotz allem fällt in diese Periode die Blütezeit der ungarischen Volkskunst. Die Trachten, Webarbeiten und Stickereien werden mannigfaltiger, wobei auch industriell gefertigte neue Stoffe eine große Rolle spielen. Die kunstvollsten Töpfererzeugnisse und bemalten Möbelstücke stammen aus dieser Periode, die etwa {G-36.} bis zum Ersten Weltkrieg andauert. Die bäuerlichen Traditionen wurden im allgemeinen zuerst von den Reichsten und von den Ärmsten aufgegeben. Die reichen Bauern wollten dadurch ihre Angleichung an die herrschende Klasse vorantreiben, während die Armen meist durch materielle Not dazu gezwungen waren und der Bruch mit den Traditionen sich bei ihnen aus der grundlegenden Veränderung ihrer Lebensumstände ergab.

1920, nach dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, wurden die auf dem Territorium Ungarns lebenden Nationalitäten im Sinne des Friedensvertrages größtenteils an eigene autonome Staaten angeschlossen. Innerhalb den damals entstandenen Grenzen des heutigen Ungarn leben 10,5 Millionen Menschen, von denen 95 Prozent ungarisch als Muttersprache sprechen. In größerer Zahl leben Deutsche, Slowaken, Südslawen und Rumänen als nationale Minderheiten in Ungarn.

In den Jahren nach 1945 bemühte sich das ungarische Volk, die schweren Kriegsschäden zu beseitigen. Seit 1948/49 wird am Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur gearbeitet. 1961 – ein bedeutsames Datum für das Leben im Dorf – wurde, ausgehend von zahlreichen vorangegangenen Musterbeispielen, der Weg zur kollektiven Bewirtschaftung allgemein beschritten. Die zurückliegenden 15 Jahre zeigen, daß diese Umwälzung auf dem Lande eine vergleichbare Schicksalswende in der Entwicklung der Bauernschaft darstellt, wie sie erfolgt war, als aus den Fischern und Jägern nomadische Hirten geworden waren, oder als sich Lebensweise und Kultur nach der Ansiedlung im Karpatenbecken grundlegend gewandelt hatten, oder als der Bauer von den Fronlasten und der Leibeigenschaft befreit worden war. Arbeitscharakter, -organisation und -einteilung haben sich grundlegend verändert. Als Folge davon trat beispielsweise ein entscheidender Wandel in der Familienorganisation ein. Die Wirtschaftsgebäude des Einzelbauern verschwinden nach und nach neben den neuen Wohnhäusern, da sie immer weniger gebraucht werden. Als Folge der gewandelten Lebensweise – beeinflußt von Schule und Massenmedien – entsteht eine neue Kultur, eine Kultur, die alles Erhaltenswerte bewahren und ihm seinen festen Platz im kulturellen Gesamtkomplex zuweisen will. In diesem Sinne konzentriert sich die vorliegende Darstellung vorwiegend auf die Vergangenheit. Diese Vergangenheit wird von der Ethnographie als einer geschichtswissenschaftlichen Disziplin erforscht, dargelegt und gewertet.

Außer den rund 10 Millionen Ungarn, die in ihrem Lande ansässig sind, leben etwa 5 Millionen außerhalb der Landesgrenzen: in der Tschechoslowakei 604 000 (1981), in Jugoslawien 520 938, in Rumänien 1 811 983, in der Sowjetunion 164 960 (nach Daten aus den Jahren 1967/68) und in Österreich ungefähr 50 000. Die Zahl der Ungarn, die sich in den USA niedergelassen haben, beträgt rund 1 Million, und die der in verschiedenen anderen Teilen der Welt verstreut lebenden Ungarn kann mit 500 000 angenommen werden. Das Interesse der Volkskundeforschung an den außerhalb der Landesgrenzen, jedoch in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet lebenden Ungarn ist nicht nur wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke von Bedeutung, sondern auch, weil {G-37.} sie infolge ihres gesonderten Daseins manches von ihren alten kulturellen Zügen bewahrt haben.

Dieser kurze Abriß sollte dem Leser einen Einblick in die großen Schicksalswenden im Verlauf der ungarischen Geschichte, in den ein Jahrtausend währenden Entstehungsprozeß der ungarischen Kultur gewähren. Solche Kenntnisse sind unerläßlich, wenn man die auf östlichen Grundlagen beruhende, in Mitteleuropa geformte und mit der universalen europäischen Entwicklung verbundene ungarische Volkskultur verstehen will.