Ethnische Gruppen ethnographische Regionen und Inseln


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In der Grundstruktur und in den Hauptzügen zeigt die Bauernkultur der Ungarn ein einheitliches Gepräge, ebenso wie auch ihre Sprache, deren Dialekte nicht so weit auseinandergehen, daß zwei Ungarn sich nicht verstehen könnten. Dessenungeachtet gibt es kleinere und größere Gruppen, Regionen oder von einem anderen Ethnikum umgebene Inseln, die von ihren näheren oder ferneren Brüdern mehr oder weniger unterschieden sind, was sich allerdings nie in der Gesamtheit der Kulturäußert, sondern lediglich in einzelnen Elementen, höchstens in Bündeln von Elementen. Als ethnische Gruppe stellt sich im Erscheinungsbild des Ungartums eine Insel dar, die sich von ihren Nachbarn durch charakteristische Züge absondert. Die Unterscheidungselemente entstehen und ändern sich ebenso wie auch der Gesamtkomplex der Bauernkultur nicht irgendeine erstarrte Einheit ist, sich vielmehr ständig erneuert und sich von Eigentümlichkeiten trennt, die aus bestimmten Gründen überflüssig geworden sind.

Die genetischen Wurzeln der ethnischen Gruppen lassen sich bis zur Zeit der Landnahme zurückverfolgen. Unter den acht Stämmen, die das Land erobert haben, dürften im Hinblick auf die Herkunft, die Kultur und auch auf die wirtschaftlichen Tätigkeiten Unterschiede bestanden haben, die allerdings in der Folgezeit zumeist verschwanden. Die mannigfachen Regionen des Karpatenbeckens, die Berge, das Flachland und das Sumpfland wirkten sich jedoch differenzierend auf die Lebensweise aus und formten die lokalen Kulturen. Die historischen Faktoren konnten die Unterschiede nur noch vermehren, so unter anderem die kleineren oder größeren Privilegien, die verschiedenen Gruppen und Gebieten während der Zeit des Feudalismus zugestanden wurden. Von Landesteil zu Landesteil dürften sich auch ökonomische und gesellschaftliche Unterschiede auf die Entstehung der ethnischen Gruppen ausgewirkt und bei ihnen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erweckt haben. In unmittelbarer Nachbarschaft von Rumänen, Südslawen und Slowaken lebend, übernahmen die Ungarn gewisse Eigenheiten und Kulturelemente von jenen, die ihre Absonderung stärker hervortreten ließen. Aus alldem ergibt sich unzweifelhaft, daß die ethnischen Gruppen, ethnographischen regionalen Einheiten und Inseln durch eine ältere oder jüngere historische Vergangenheit geformte Gebilde sind. Ihre Abgrenzung kann – unter Berücksichtigung der nachstehenden Aspekte – nur in den wesentlicheren Zügen erfolgen.

Im großen und ganzen geben die Einwohner eines Gebietes die {G-38.} Charakteristika ihrer ethnischen Gruppe, durch die sie sich von den Nachbarn unterscheiden, einheitlich an, und so verstehen sie sich auch von anderen ethnischen Einheiten abzugrenzen. Das läßt sich mit dem, was die anderen, die Repräsentanten der umliegenden Dörfer oder der angrenzenden ethnischen Gruppen über ihre Nachbarn sagen, gut vergleichen. Hinzuzunehmen ist, was von den Gliedern der betreffenden Gruppen aus irgendwelchen Gründen nicht erwähnt wird. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und dessen Erscheinungsformen, die eventuell als Endogamie oder in anderer Weise auftreten, müssen berücksichtigt werden.

Eine Bestimmung der charakteristischen kulturellen Züge der verschiedenen ethnischen Gruppen ist vor allem mit Hilfe des erschlossenen und ausgewerteten ethnographischen Materials möglich. Gleichzeitig werden Vergleiche mit der Umgebung und gegebenenfalls mit anderen ethnischen Einheiten angestellt, von denen ein Teil der Eigenheiten stammen könnte. Bei der Fixierung der Verbreitung der Elemente vermögen die Volkskundeatlanten und überhaupt kartographische Darstellungen der Phänomene sehr gute Dienste zu leisten.

Bei den ethnischen Gruppen dominiert die historisch bedingte Zusammengehörigkeit, die sich häufig auch über geographische und Verwaltungsgrenzen hinaus erstreckt. Bei den ethnographischen Regionen – wenn also die Bewohner eines Gebirges oder eines Moorlandes, einer Flußniederung oder eines Weinbaugebietes zusammengehören – wird der Grenzverlauf geographisch bestimmt. Bei der Fixierung der Sprach- oder ethnischen Insel ist die Sprache dominant, von der die betreffende Gruppe von allen Seiten umgeben wird. Obwohl die Abgrenzung jeweils andere Aspekte aufweist, wird die Differenzierung der Gruppe dennoch von einer spezifisch geprägten Kultur bestimmt. Wenn wir einmal die Benennung der Volksgruppe gebrauchen, ein andermal aber die regionale oder landschaftliche Bezeichnung, so ist trotzdem in beiden Fällen die ethnisch bestimmte und geprägte Zusammengehörigkeit der dort lebenden Menschen gemeint, eine Zusammengehörigkeit, die sich von der Art der Beschäftigung über die Trachten bis hin zum Brauchtum oder zur Volksdichtung in sehr mannigfachen Formen zeigen kann.

Wichtigstes kulturelles Bindeglied eines Volkes ist die Sprache, deren Bedeutung in unseren Tagen nur noch zunimmt. Neuere Forschungen zeigen, daß der Dialekt nicht in jeder Hinsicht zur Bestimmung der ethnischen Gruppen herangezogen werden kann. Die Grenzen der phonetischen und im allgemeinen der grammatischen Phänomene decken sich in den seltensten Fällen mit dem Territorium der ethnischen Gruppen. Wesentlich bessere Möglichkeiten bieten wortgeographische Forschungen. Allerdings kann hierbei nur selten mit gesicherten Ergebnissen gerechnet werden. Wenn wir also die wichtigsten ethnischen Gruppen, ethnographischen Regionen und Inseln des ungarischen Volkes umreißen wollen, so kann dies nur in großen Zügen geschehen.

Das Gebiet des Karpatenbeckens, in dem eine ungarischsprachige Bevölkerung lebt, läßt sich – wenn wir teils aus geographischen, teils aus historischen Überlegungen über die heute bestehenden politischen Grenzen hinausgehen – in vier große Regionen einteilen: Westungarn, {G-39.} ein von der Donau und der Drau begrenztes, fast quadratisches Gebiet, es grenzt an Österreich, in dessen östlichstem Teil (Burgenland) sich kleinere ungarische Siedlungen finden. Oberungarn umfaßt das nördliche Hügel- und Gebirgsland und reicht bis in die Slowakei. Die Große Ungarische Tiefebene erstreckt sich im mittleren Flachland des Karpatenbeckens und setzt sich im Süden in Jugoslawien fort. Die ungarischen ethnischen Gruppen Siebenbürgens (Rumänien) reichen stellenweise auch über den Kamm der Ostkarpaten hinaus. Diese geographische Gliederung werden wir in den nachfolgenden Kapiteln unseres Buches beibehalten.