Westungarn (Transdanubien)

Im Zentrum des eher hügeligen als gebirgigen Westungarn erstreckt sich der größte See Ungarns, der siebzig Kilometer lange Plattensee (Balaton). In der Bauernkultur dieser Region wurden die meisten keltisch-römischen Traditionen bewahrt, die von den eingewanderten Ungarn ebenso aufgenommen wurden wie kroatisch-slowenische und in bestimmten westlichen Gebieten deutsche Elemente. Dieses letztere Phänomen wurde auch durch die Naturgegebenheiten begünstigt, da sich der westliche Landstrich gewissermaßen an das Alpenland anschließt, dessen Einfluß läßt sich gleichermaßen in der Wirtschaft und Architektur nachweisen.

Göcsej. Die Landschaft im Südwestwinkel des Landes umfaßt ein ziemlich großes Territorium. Der Boden der Hügellandschaft läßt sich nur schwer kultivieren. (Darauf deutet vielleicht auch der ungarische Name hin.) Die Haupterwerbsquellen der Bevölkerung sind Viehhaltung und Pflanzenbau (insbesondere Buchweizen- und Weinbau). Ein Teil der Dörfer wurde auf Rodungsland angesiedelt. Eine solche Häusergruppe wird szeg (etwa: Weiler) genannt, was auch in den Namen mancher Dörfer einging (z. B. Kustánszeg). Die Familien gingen früher nicht auseinander, sondern sie lebten in der typischen Form der Großfamilie auf einem Grundstück oder nahe beieinander. Es kann vorkommen, daß das Wohnhaus und die Wirtschaftsgebäude den kleinen Hof, der nach vorn durch einen Zaun und ein Tor abgeschlossen wird, U-förmig umgrenzen. Häuser dieser Art sind erst in jüngster Zeit aus dem Dorfbild verschwunden. Das „Regölés“ (Aufsagen von Segenswünschen mit Zauberformeln), ein an den Weihnachtsfestkreis anknüpfender und heidnische Elemente bewahrender Brauch, wird bis in die Gegenwart hinein gepflegt. Die 18 Dörfer der benachbarten Landschaft Hetés, südwestlich von Göcsej, weisen unter ähnlichen geographischen Gegebenheiten eine der Göcsejer nahestehende Kultur auf.

Der südliche Teil der Landschaft Õrség in der Niederung der kleinen Flüsse Zala und Kerka umfaßt 18 Dörfer. Die Bewohner dieser Gegend sind Nachkommen der mittelalterlichen Grenzwachen, wie das auch in der Namensgebung Õrség (deutsch: die Wart) anklingt. Sie siedelten mitten im Wald. Ihre für jede Familie separat entstandenen szer (etwa: Gehöfte) wuchsen zu Weilern und kleinen Dörfern heran, die ihre Eigenheiten größtenteils bis zum heutigen Tage beibehalten haben. Eine solche kleine Siedlung erhält den Namen der Familie, woran die {G-40.} Bezeichnung szer angehängt wird, also: Kovács-szer, Szabó-szer usw. In der Vergangenheit diente ihnen in dieser zur Alpenregion gehörenden Landschaft vorwiegend die Viehzucht als Existenzgrundlage, der Feldbau brachte auf dem kargen Boden nur bescheidene Erträge. Die zwischen Feldern, Obstplantagen und Weideland verstreuten Siedlungen verleihen der Landschaft heute etwas Anziehendes. Im Pinkatal, im benachbarten österreichischen Burgenland, liegen einige ungarische Ansiedlungen der Region Felsõõrség (Oberwart), wozu die Dörfer Felsõõr (Oberwart), Alsóõr (Unterwart), Õrisziget (Siget i. d. Wart) und Jobbágyi (Jabing) gehören. Felsõõrség war die am weitesten westlich gelegene ungarische Siedlung. Im Mittelalter sollte sie die Grenze gegen Angriffe aus dem Westen schützen. Im Sprachgebrauch und im Brauchtum hat diese Gruppe viel Archaisches bewahrt, im übrigen aber kommt der deutsche Einfluß stärker zur Geltung.

Die Hanság (Wasen-Sumpfmoor) war eine sumpfige, flache Landschaft (was sich auch aus dem ungarischen Namen herauslesen läßt). Neben der Viehhaltung bestand die Haupttätigkeit der Einwohner in der Schilfverarbeitung (Heimarbeit) und im Torfstechen. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde ein großer Teil der Sümpfe trockengelegt, und die anschließende landwirtschaftliche Nutzung entwickelte sich in sehr günstiger Weise. Die letzten Sumpfgebiete wurden in der Gegenwart entwässert.

Rábaköz (Raabinsel) heißt das Flachland zwischen den Flüssen Rába (Raab) und Rábca (Rabnitz). Der für diese Gegend bestimmende und zentral gelegene Marktflecken Kapuvár (Torburg) dürfte das „Tor“ des hier verlaufenden Verteidigungssystems gewesen sein, wie es sich auch aus dem Namen ableiten läßt. Auf den berühmten Märkten der Gegend wechselten Vieh und landwirtschaftliche Produkte in großen Mengen den Besitzer. Von den angrenzenden Landstrichen unterscheidet sich dieses Gebiet durch die Bauweise, die auserlesenen weißen Stickereien und die prächtige Volkstracht einiger Dörfer.

Am rechten Raabufer ziehen sich zwei Gebirgszüge hin, der Kemeneshát (Kemenesrücken) und nördlich davon der Sokoró. Die Bewohner von Kemenesalja (am Fuße des Kemenes) und die Bewohner von Sokoróalja (am Fuße des Sokoró) unterschieden sich durch ihre einstige Tracht und ihr Brauchtum von den Nachbarn. Zu ihren Eigenheiten bekennen sie sich auch heute noch mit Stolz.

Die Bewohner von Szigetköz (Inselland) leben auf der vom Hauptarm der Donau und vom Mosoner (Wieselburger) Donauarm eingeschlossenen Insel. Auf ihren bewässerten Weiden und Wiesen hielten sie zahlreiches Vieh, das ihnen als Lebensunterhalt diente. Das Wasser spielte im Leben dieser Menschen eine bestimmende Rolle; sie hatten oft unter Überschwemmungen zu leiden, doch das Wasser brachte ihnen auch die Fische und machte die Wiesen fruchtbar.

An dieser Stelle wollen wir jetzt über die Donau setzen, wo wir auf eine der größten ethnischen Gruppen der Ungarn im zur Slowakei gehörenden Csallóköz (auf der Großen Schütt) stoßen. Früher wurde diese Gegend Aranykert (Goldener Garten) genannt, da in mühseliger Arbeit aus dem Flußsand der Donau Gold gewaschen wurde. Die zahlreichen fließenden und toten Arme der Donau zerstückelten {G-41.} die Gemarkung der Dörfer, doch boten sie gleichzeitig den Fischern und Viehhaltern Existenzmöglichkeiten. Die häufigen Überschwemmungen richteten allerdings viel Schaden an. Früher war ein Teil der Bevölkerung, vor allem in Komárom (Komorn) und Umgebung, auch in der Schiffahrt beschäftigt. Mit Getreide beladene Galeeren fuhren bis zum Schwarzen Meer und während der Türkenherrschaft sogar bis nach Istanbul. Nach Wien wurde Fisch geliefert.

Nordnordöstlich von Csallóköz liegt Mátyusföld (Mattesland), dem der im 14. Jahrhundert lebende mächtige Grundherr Máté Csák seinen Namen lieh. Die folkloristischen Traditionen dieser Gegend haben auch heute noch Bestand. Vor allem die Kinderspiele sind bekannt.

Noch weiter nördlich leben die Ungarn der Zobor-Gegend, in dem nördlichsten zusammenhängenden ungarischen Siedlungsgebiet. Hier haben sich viele archaische Merkmale erhalten, von denen in erster Linie die Sitten und Gebräuche, Volkslieder und Balladen bekannt sind.

9. Dorfpartie

9. Dorfpartie
Szigliget, Kom. Veszprém

10. Blockbaukeller

10. Blockbaukeller
Csurgó-Nagymartoner Weinberg, Kom. Somogy

{G-42.} Nun wollen wir wieder an das rechtsseitige Donauufer zurückkehren, wo sich der Bakony (Bakonywald) erhebt, in dessen nach Süden sich ausdehnenden Tälern kleine Ansiedlungen liegen. Ein großer Teil der Dörfer wird seit der Arpadenzeit ständig bewohnt. Das Leben wurde hier – besonders in der Vergangenheit – durch den Wald bestimmt. Die Schweinehirten des Bakonywaldes werden in den Urkunden bereits vom 13. Jahrhundert an erwähnt. Wie jedes inmitten von Wäldern lebende Volk brachten es auch die Bewohner des Bakonywaldes zur Meisterschaft in der Holzbearbeitung. Ackerbau- und Haushaltsgeräte stellten sie in solchen Mengen her, daß sie damit die Märkte im ganzen Land aufsuchen und beliefern konnten. Der sich ausbreitende Ackerbau bedingte einen Rückgang des Waldbestandes und drängte ebenso die Viehhaltung und die Holzbearbeitung in den Hintergrund.

Die dicht besiedelten Dörfer der Gegend Balatonfelvidék (Plattensee-Oberland) reichen bis hin zum Seeufer. Die Landschaft hat mediterranen Charakter, und auf dem vulkanischen Boden der Berghänge gedeiht ausgezeichneter Wein. Einst lebte ein großer Teil der Bevölkerung vom Fischfang. Die Bauweise der steinernen dörflichen Häuser mit ihren historisch geprägten Laubengängen war weitverbreitet.

{G-43.} Wenn wir über den Plattensee übersetzen, gelangen wir nach Somogy. Den an das Südufer des Balaton stoßenden Teil dieses weit ausgedehnten Landes nennt man Külsõ-Somogy (Außeres Somogy) und den sich zur Drau hin erstreckenden Teil Belsõ-Somogy (Inneres Somogy). Die Lebensweise der Bevölkerung wurde früher von der Viehhaltung bestimmt. Der einst ausgedehnte Wald ermöglichte Eichelmast und Holzverarbeitung. Doch auch hier mußten die Waldflächen dem Ackerbau Platz machen. In der südlich von Kaposvár liegenden Landschaft Zselicség entstanden unter der Hand der Schweinehirten die schönsten Schnitzarbeiten. Die reiche und vielfältige. Volkstracht, die weißen und bunten Stickereien dieser Gegend sind weithin bekannt. Die bislang von der Landwirtschaft lebenden Bauerndörfer verbürgerlichten relativ rasch.

11. Haus auf dem Weinberg

11. Haus auf dem Weinberg
Nagykutas, Kom. Zala

Die Siedlungen des Landstrichs Ormánság finden wir im Südwesten des Bezirks Baranya, zwischen den Flüssen Drau und Okor. Aus dem einst sumpfigen Gelände erhebt sich nur hin und wieder ein Landrücken. Darauf geht auch der Name dieses Landstriches zurück (Ormány = {G-44.} Rüssel). Wegen des Wassers wurden die Häuser auf riesigen Holzschwellen errichtet, die Wände bestanden aus einem Heckengeflecht mit Lehmbewurf. Ihren Lebensunterhalt verdienten sich die Bewohner durch Fischfang und Viehhaltung, in der späteren Entwicklung vorwiegend durch Ackerbau. In der Waldgegend betrieb man Eichelmast, während auf dem Wiesenland die berühmten Gestüte entstanden. Unter den Gewerbezweigen des 18. und 19. Jahrhunderts ist die Pottaschegewinnung zu erwähnen, die zur Vernichtung der Wälder führte. Die charakteristische Tracht erinnert an die der Südslawen. Die einst allgemein übliche weiße Trauerfarbe wurde lange beibehalten. Die sich rasch verbürgerlichende, wohlhabende Bauernschaft war bestrebt, die Zerstückelung des Grundbesitzes durch die Einkindehe zu verhindern.

Ein Großteil der ungarischen Dörfer im Drávaszög (Drauwinkel) liegt bereits auf dem Hoheitsgebiet Jugoslawiens, ebenso wie die vier ungarischen Dörfer Slawoniens: Kórógy, Szentlászló, Haraszti und das zur Gegend von Eszék (Esseg) gehörende Rétfalu. Inselartig in der südslawischen Umgebung lebend, unterhielten die Bewohner früher auch mit dem ungarischen Baranya Heiratskontakte. In der Vergangenheit lebten sie vom Fischfang, der Jagd und der Viehhaltung. Der Ackerbau hat erst im letzten Jahrhundert an Raum gewonnen. Durch die archaischen Elemente ihrer Tracht, der Bräuche, der Sprache und der Volkspoesie unterscheiden sie sich von den weiter nördlich gelegenen Dörfern.

Die Ausdehnung des sich unweit der Donau, im Bezirk Tolna erstreckenden Sárköz läßt sich schwer bestimmen. Den Kern dieses Landstrichs bilden fünf Gemeinden (Öcsény, Decs, Sárpilis, Alsónyék, Báta). Einzelne Elemente ihrer Kultur treffen wir allerdings auch im Bezirk Baranya an, sogar in Slawonien. Einige Dörfer am linksseitigen Donauufer schließen sich an (Érsekcsanád, Szeremle). Das einst vorwiegend vom Wasser bestimmte Leben der Bewohner wurde nach den Hochwasserschutzmaßnahmen des vergangenen Jahrhunderts durch die Ackerbautätigkeit abgelöst. Die althergebrachten hausgewebten Stoffe, die weißen Stickereien auf schwarzem Grund, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durch größeren Wohlstand zur Blüte gelangte farbige, reiche Volkstracht und die folkloristischen Traditionen wirkten sich auch auf die benachbarten Gruppen aus.

Von den zahlreichen kleineren oder größeren ethnischen Gruppen und ethnographischen Regionen Westungarns soll noch das Mezõföld mit seinem überwiegenden Flachlandgepräge erwähnt werden, das sich südlich vom Velencesee zwischen Sárvíz und Donau und weiter zwischen Sió und Donau hinzieht. Die großen Dörfer verbürgerlichten, während das auf den früheren Großgütern lebende Gesinde eine charakteristische, individuelle und an folkloristischen Traditionen reiche Kultur entwickelte.