{G-45.} Oberungarn

Die große ethnische Gruppe des Felföld (Oberungarn) stellen die Palotzen (palóc). In den verschiedenen slawischen Sprachen bedeutet ihr Name soviel wie Kumane, was vielleicht einen Hinweis auf ihre Herkunft geben könnte, doch ist es wahrscheinlicher, daß lediglich ihre Umgebung sie für Kumanen hielt. Spuren von Beziehungen zum Kumanentum lassen sich in den Traditionen heute kaum feststellen. Die Siedlungen der Palotzen finden sich von der Gran (Garam) östlich bis hinein ins Zentrum des Bezirks Borsod, stellenweise sogar darüber hinaus. Im Norden leben bis zur Sprachgrenze überall Palotzen. Im Silden läßt sich deren Siedlungsgrenze noch schwerer ziehen, weil die geburtenfreudige Bevölkerung nach der Vertreibung der Türken stellenweise sogar bis ins südliche Tiefland vordrang.

Abb. 3. Ungarische ethnische Gruppen und ethnographische Gebiete im Karpatenbecken

Abb. 3. Ungarische ethnische Gruppen und ethnographische Gebiete im Karpatenbecken

12. Katholische Kirche

12. Katholische Kirche
Hollókõ, Kom. Nógrád

Da die Palotzen über ein außergewöhnlich großes Territorium verbreitet sind, müssen zahlreiche Untergruppen unterschieden werden. Generell spricht man von West- und Ostpalotzen. Unter den Westpalotzen unterscheidet man die Palotzen aus dem Bezirk Hont von denen aus dem Bezirk Nógrád. Einige Dörfer des Medvesalja-Gebiets sondern sich von ihrer Umgebung ebenso ab wie die Ansiedlungen aus der Galga, deren Stickerei und Volkstracht, Lieder und Tänze weithin bekannt sind. Die kleineren oder größeren Gruppen der Ostpalotzen sind durch die verschiedenen geographischen Einheiten geprägt. Die Bewohner des Landstrichs Erdõhát – südlich der Flüsse Sajó und Rima –, die Barkós, stehen den Palotzen derart nahe, daß verschiedentlich angenommen wird, sie bildeten einen Teil jener Volksgruppe. Hegyhát ist ein von den Bächen Sajó, Bán und Hangony {G-46.} eingeschlossenes hügliges Gebiet, während Homok einen Teil des Tarna-Flußtals einnimmt.

Zwischen den einzelnen Gruppen der Palotzen bestehen trotz der Abweichungen viele gemeinsame Züge, durch die sie miteinander verbunden sind. Das Typische ihres über große Gebiete verbreiteten Dialekts wird häufig als grundlegendes Bestimmungsmerkmal bewertet. Der Verband der Großfamilie hat lange Bestand gehabt. In der Viehhaltung spielte die ziemlich homogene Schafzucht eine besonders große Rolle, wodurch sich Beziehungen zu Siebenbürgen und zur Slowakei herstellen lassen. Auch in der Art des Hausbaus, der hausgewebten Stoffe, der Trachten und der Volksdichtung verbinden die Palotzen viele gemeinsame Züge. In der nördlichen Zone dieser Gruppe läßt sich – besonders in den Bräuchen und im Glauben, beispielsweise beim „Winteraustreiben“ (Kiszehajtás) – slowakischer Einfluß nachweisen.

Das Cserehát-Gebiet faßt die Dörfer zwischen den Flüssen Bódva und {G-47.} Hernád (Kundert) zusammen. An die südlichen und östlichen Hänge des Zempléner Gebirges lehnen sich die Dörfer und Marktflecken des Tokaj-Hegyalja (der Tokajer Weinberge). Ihr Leben wurde in der Vergangenheit und wird auch in der Gegenwart durch den berühmten Weinanbau bestimmt. Bedingt durch den Weinhandel lebten hier griechische, serbische, russische, polnische, slowakische und deutsche Händler, was in der Kultur, insbesondere in Zusammenhang mit dem Weinanbau, dem Wein und einzelnen Gewerbezweigen bis zum heutigen Tage spürbar ist. Nördlich von Tokaj-Hegyalja werden 15 Dörfer der Landschaft Hegyköz von Bergen eingeschlossen. Die Einwohner dieser Gegend lebten von Waldarbeit, Viehhaltung und Obstanbau.

An der Grenze zwischen Oberungarn und der Tiefebene leben die Matyó in einem Landstrich, der bereits Flachlandgepräge zeigt und sich alles in allem auf ein großes und ein kleineres Dorf (Mezõkövesd, Szentistván) beschränkt. Die römisch-katholische Religionszugehörigkeit der Bevölkerung spielte in der Entwicklung ihrer Kultur eine große Rolle. Nicht ohne Stolz bekennen sie sich dazu, daß ihr Name auf eine Diminutivform von Mátyás (Matthias) zurückgeht, das heißt auf den Namen des großen ungarischen Königs Matthias (15. Jh.). Die Matyó waren Ackerbauern und Viehzüchter, doch eingeengt zwischen Latifundien waren sie von der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts an gezwungen, ihr Brot in den verschiedenen Landesteilen als Landarbeiter zu verdienen, das heißt, sich jährlich für 4 bis 6 Monate auf fremden Gütern zu verdingen. Die gemeinsame Siedlung, die Geschlechtersiedlung, und die Organisation der Großfamilie lassen sich bis in die jüngste Zeit gut nachweisen. Nach 1850 entwickelten die Matyó einen außergewöhnlich farbigen, reichen Stil in Stickerei und Volkstracht. Die materielle Kultur der Matyó erinnert vor allem an die Tiefebene, während ihre geistigen Traditionen den Palotzen näherstehen.