{G-329.} Die Volkstrachten


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Volkstrachten werden durch außerordentlich viele Einflüsse – und vielleicht etwas schneller als die übrigen Erzeugnisse der bäuerlichen Kultur – gestaltet und verändert. In den letzten zwei Jahrhunderten machten sie einen besonders raschen Wandel durch, vor allem, da sich zu den früher überwiegend häuslich hergestellten Materialien immer mehr Manufaktur- und Fabrikerzeugnisse gesellten.

Im Mittelalter und den darauffolgenden Jahrhunderten fertigten die Bauern das Material ihrer Kleidung vorwiegend selbst. Aus Hanf und Flachs spannen und webten die Frauen das Leinenzeug, und auch Wolle konnten sie zumeist selbst verarbeiten. Die Bauern waren sogar in den einfachsten Formen der Lederbereitung bewandert, obwohl sie auf diesem Gebiet schon seit den ältesten Zeiten größtenteils von ländlichen und städtischen Spezialisten versorgt wurden, wobei zwischen der Lederbereitung durch den Gerber und der Lederverarbeitung durch den Kürschner, Schuhmacher und Stiefelmacher unterschieden werden muß. Die Wollverarbeitung gehörte lange Zeit überwiegend zum Hauswerk; allerdings haben sich zahlreiche Kleidermacherspezialisten (ungarischer Schneider, der nur Männerkleider nach ungarischem Schnitt anfertigte, Szûr- (Mantel-) Schneider, Walker, Knopfmacher, Hutmacher) verhältnismäßig schnell verselbständigt. Bei den Bauern hielt sich die Leinenherstellung am längsten, bis in unsere Zeit, obwohl die Bedeutung der kleingewerblichen Erzeugnisse (der Leineweber) vom Ende des 18. Jahrhunderts an zugenommen hat. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Verwendung von Fabrikerzeugnissen in den ungarischen Volkstrachten immer häufiger. Die breiteren Stoffe brachten im Schnitt und die reicheren Farben in der Erscheinung große Veränderungen mit sich. Damit begann für reichlich ein halbes Jahrhundert eine Blütezeit der ungarischen Volkstrachten; sie dauerte von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, in den Randgebieten sogar noch länger.

Bei der Gestaltung der Volkstrachten ist die Tradition als wichtiger Faktor besonders zu unterstreichen. Das äußert sich in gesellschaftlicher Beziehung darin, daß die Tracht einzelner bäuerlicher Schichten von ungeschriebenen Gesetzen bestimmt wird, die bindend sind. Ebenso schreibt die Tradition die Normen für die Kleidung der einzelnen Altersstufen vor, wobei auch die Stellung innerhalb der Familie starken Einfluß ausübt. So ändert sich die Tracht des Mädchens, wenn es heiratet, wenn die junge Frau ihr erstes Kind zur Welt bringt, und mit dem ersten Enkelkind muß dann endgültig die Kleidung der alten Frauen getragen werden. Die Tradition bestimmt auch die Tracht für besondere Anlässe (zum Beispiel Taufe, Hochzeit, Beerdigung usw.).

In die Gestaltung der Volkstracht mischten sich verschiedene Behörden ein, so wie auch die Kirche bestimmte Schranken setzte. Die Komitatsbehörden verboten zum Beispiel besonders teure und stark verzierte Hüte, Szûrmäntel und reich bestickte Ködmön (Pelzjacken), {G-330.} vor allem, wenn sie die Kleidung des Adels nachahmten oder gar mit dieser übereinstimmten. Derartige Einmischungen wurden stets damit begründet, das arme Volk solle davor bewahrt werden, sich durch übertrieben teure Kleidungsstücke zu ruinieren oder das notwendige Geld für derartige Kleidung auf unerlaubte Weise zu erwerben. In Wirklichkeit wollte man verhindern, daß sich die Kleidung des Volkes der der Herren anpaßte. Die Kirche bekämpfte die übermäßig verzierte Kleidung, weil sie sie für unvereinbar mit der christlichen Demut hielt. Als eine der letzten großen Demonstrationen kirchlicher Bevormundung in Kleidungsfragen ließ der katholische Pfarrer von Mezõkövesd 1924 Glasflitter und Goldspitzen, die auf den Volkstrachten überhandgenommen hatten, von den Kleidern reißen und feierlich verbrennen. Für die Zukunft verbot er ihre Verwendung und untersagte auch den Gebrauch reinseidenen Garns.

Die herrschaftliche Kleidung, die sich entsprechend ihrem Charakter schneller als die Volkstrachten veränderte, beeinflußte die bäuerliche Kleidung trotz aller Verbote. Da die adligen Kreise viele Kontakte zum Ausland hatten und ihre Kleidung vor allem von der Mode des Westens bestimmt wurde, erreichten auf diesem Wege, wenn auch mit einiger Verspätung, viele Modeneuheiten auch die ungarischen Bauern. Die Beeinflussung war jedoch insofern eine wechselseitige, als zu gewissen Zeiten der ungarische Adel als Protest gegen die Unterdrückung durch die Habsburger mit der ungarischen Nationaltracht demonstrierte und Kleidungsstücke der Bauern trug beziehungsweise einzelne Züge der bäuerlichen Kleidung adaptierte.

Die Volkstrachten wurden durch viele Umstände beeinflußt, deren Auswirkungen im einzelnen nur aus den letzten hundert Jahren bekannt sind. Deshalb beziehen sich die folgenden Ausführungen hauptsächlich auf diese Zeit.