Die historischen Schichten der Volkstracht

Über die älteste Periode der ungarischen Volkstracht wissen wir kaum etwas. Die wenigen auf finno-ugrischen und ugrischen Ursprung zurückgehenden Wörter wie öv (Gürtel), szíj (Riemen), szalag (Band) usw. verraten nur wenig über das Wesen der Kleidung. Wörter aus späterer Zeit, die sich durch Kontakte mit den Bulgarotürken verbreitet haben, geben etwas mehr Aufschluß, so etwa saru (Sandale), csat (Schnalle), ködmön (Pelzjacke), köpönyeg (Umhang), szirony (Lederfaden), bársony (Samt), gyöngy (Perle), gyûrû (Ring) usw., und hierzu gehört auch das ungarische Wort bagaria (Juchten), das auf den Namen der Bulgarotürken hinweist, wenn es eventuell auch später und auf anderem Wege in die ungarische Sprache gelangt ist.

Über die Volkstracht der Ungarn zur Zeit ihres Einzuges ins Karpatenbecken geben uns zum Teil archäologische Funde, zum Teil spätere Darstellungen einige Aufklärung. Die Frauen trugen Hosen, die denen {G-345.} der Männer glichen; darauf weist auch die allein gebräuchliche Sattelform hin, die uns aus jener Zeit bekannt ist und auf der man nur in Hosen sitzen konnte. Das Hemd der Frauen war hochgeschlossen und gerade geschnitten; darüber trugen sie den Umhang, der in der Taille mit einem Gürtel zusammengehalten wurde. Die Ärmel waren so lang, daß auch die Hände verdeckt waren. Auf dem Kopf trugen die Frauen einen Jungfernkranz (párta) beziehungsweise eine spitze Haube, und ihre Füße steckten in Stiefeln aus weichem Leder oder in Filzschuhen, die bis zu den Waden reichten. Die Kleidung der Männer stimmte im großen und ganzen mit der der Frauen überein. Ein wichtiges Element ihrer Kleidung war der Gürtel, denn daran hingen das Schwert, der Köcher mit den Pfeilen und andere kleine Gebrauchsgegenstände. Ihre Köpfe waren meistens bis auf 2 oder 3 Haarbüschel kahl geschoren, wie es der orientalischen Sitte entsprach.

Nachdem die Ungarn im Karpatenbecken seßhaft geworden waren, erhielt die ungarische Tracht vor allem durch den ständigen Kontakt mit slawischen Völkern zahlreiche neue Elemente, wovon auch der ungarische Wortschatz zeugt: ruha (Kleid), gúnya (Kluft, Gewand), kabát (Mantel), csuha (Kutte), nadrág (Hose), palást (Überwurf), szoknya Rock), harisnya (Strumpf), kapca (Fußlappen), posztó (Tuch) usw. Eine Gruppe allgemein gebrauchter Fachwörter aus dem Bereich der Bekleidung, wie zum Beispiel suba (Schafpelz), köntös (Gewand), atlasz Atlas), tafota (Taft) usw., zeigt, daß die Ungarn im Mittelalter auch westlichen Einflüssen unterlagen. Durch dic Tracht der Petschenegen, Jazygen und Kumanen – Turkvölker, die im 13. Jahrhundert mit einer letzten Welle mittelalterlicher Migrationen nach Ungarn kamen – wurden der ungarischen Kleidung zweifellos erneut orientalische Züge verliehen.

All das beweist, daß sich in der ungarischen Kleidung des Mittelalters alte und neue Elemente vermischten. In jener Zeit entstanden einige ungarische Kleidungsstücke, von denen ausländische Zeitgenossen annahmen, sie seien orientalischen Ursprungs: unter anderem der Schafpelz (suba), der von den Adligen und den Bauern gleichermaßen getragen wurde und sich nur in der Verarbeitung, der Art des Leders und der Verzierung unterschied. Die erste Aufzeichnung darüber stammt aus dem Jahre 1290, doch ist es auch möglich, daß diese Kleidungsstücke den Ungarn schon vor ihrem Einzug in das Karpatenbecken bekannt waren. Im Mittelalter wurden sie auch von den Königen getragen; es ist bekannt, daß König Matthias (1458–1490) an das Gefolge des böhmischen Königs Wladislaw hundert Schafpelze als Geschenk verteilen ließ. Ähnlich können wir auch andere Lederbekleidung und Pelzjacken bis ins Mittelalter zurückverfolgen, so die aus Filz gefertigten Mützen (süveg) der Ungarn, die wir aus archäologischen Funden kennen.

Im 16. und 17. Jahrhundert übten die türkischen Eroberer einen starken Einfluß auf die Kleidung der ungarischen Adligen und Bauern aus, der sich sogar auf Gebiete auswirkte, die nicht unmittelbar unter türkischer Herrschaft standen (z. B. Siebenbürgen, Nordungarn). Das Bemühen um einen einfachen, geraden Schnitt der Kleidungsstücke und betonte Farbenfreudigkeit, ja sogar die Verbreitung von {G-346.} neuen Stoffarten waren die letzten größeren orientalischen Impulse, die in der ungarischen Volkstracht ihre Spuren hinterließen. Das zeigen auch einige mehr oder weniger allgemein verbreitete ungarische Wörter an wie aba (Tuch), dolmány (Dolman), kalpag (Kalpak), kaftán (Kaftan), papucs (Pantoffel), csizma (Schaftstiefel) usw., wenn auch einige davon durch südslawische Vermittlung zu den Ungarn kamen.

In den folgenden Jahrhunderten verstärkte sich infolge der politischen Situation der deutsche Einfluß, wovon ungarische Wörter zeugen wie kalap (Hut), kanavász (Kanevas), karton (Kattun), galand (Band), pántlika (Bändchen), lajbi (Leibchen), pruszlik (Bruststück, Mieder), zeke (Joppe) usw. Der deutsche Einfluß äußerte sich gleichzeitig auch in der Verbreitung von Manufakturerzeugnissen. Der Kontakt zu slawischen Völkern zeigt sich vor allem bei den Bauern, und er brachte hier zahlreiche Wechselwirkungen hervor. Die ungarische Sprache wurde in jener Zeit durch Wörter wie gatya (weite weiße leinene Bauernhose), sapka (Kappe, Mütze), karima (Krempe), pelenka (Windel) usw. bereichert. Im nordöstlichen Teil der Großen Ungarischen Tiefebene setzte sich im 17. Jahrhundert allgemein das langwollige grobe Zeug (guba) durch und verbreitete sich von der Gegend um Ungvár und Munkács bis nach Debrecen, wo laut Aufzeichnungen Rutheninnen (aus den Ostkarpaten) die neue Webtechnik einführten.

Die ungarischen Volkstrachten nahmen natürlich nicht nur fremde Einflüsse auf, sondern sie machten in den einzelnen Landstrichen auch eigene spontane Entwicklungen durch. Im übrigen hatte umgekehrt die ungarische Tracht bedeutenden Einfluß auf die Nachbarvölker wie Rumänen, Slowaken, Serben und Kroaten. Einzelne ungarische Kleidungsstücke verbreiteten sich auch bis zu den Deutschen, Polen und Ukrainern, worauf an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden soll.