16. Die Illustrationen der ältesten ungarischen Perikopenbücher. Teil I. 

Gutenberg Jahrbuch (Mainz) 1971 80–81.

Das Perikopenbuch, die Sammlung der Bibelabschnitte [Evangelien und Episteln] zum Vorlesen an bestimmten Feiertagen also, war unter dem Einfluß der Reformation auch in ungarischer Sprache sehr verbreitet. Ein deutliches Zeichen dafür sind die Ausgaben, die von der Mitte des 16. Jahrhunderts an gedruckt wurden. Von diesen Druckwerken in kleinem Format (ausschließlich in 8° und in 12°) sind heute neun Ausgaben aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannt.[1] Es ist hier zu erwähnen, daß lediglich zwei von ihnen[2] in einem kompletten Exemplar erhalten geblieben sind, alle anderen dagegen sich in einem mehr oder minder lückenhaften oder gar fragmentarischen Zustand befinden.

Die neun Ausgaben vor 1601 wurden in sieben verschiedenen Druckereien hergestellt. Wenn man bedenkt, daß in der Periode zwischen 1550 und 1600 allein elf Offizinen in Ungarn lateinische Lettern verwendeten, so kann man – abgesehen von der Möglichkeit des Auftauchens von weiteren, heute noch unbekannten Ausgaben – feststellen, daß damals die Mehrzahl der Druckereien Perikopenbücher in ungarischer Sprache herstellte. Damit ist ein eindeutiger Beweis erbracht für die große Nachfrage nach Publikationen solcher Art.

Auch im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts wurde mehr als ein Dutzend Ausgaben – nach dem heutigen Kenntnisstand[3] – von ungarischen Perikopenbüchern hergestellt. Von allen diesen, also von mehr als zwanzig Ausgaben, sind sechs mit zahlreichen kleinformatigen Holzschnitten verziert. Sie stammen aus vier Offizinen. Diese Illustrationen zum Neuen Testament gehören in allen Druckereien zu einer einzigen Serie, doch weichen diese Serien in den vier Werkstätten im Schnitt eindeutig voneinander ab.

Von den Illustrationen der ältesten ungarischen Perikopenbücher soll zunächst nur die älteste Serie eingehender untersucht werden. Es handelt sich hierbei um die Produktion der Druckerei von Kolozsvár (Klausenburg – heute Napoca-Cluj) in Siebenbürgen. Diese Offizin wurde im Jahre 1550 von Georg Hoffgreff gegründet, der seine fachlichen Kenntnisse in Nürnberg – wahrscheinlich bei Johann von Berg und Ulrich Neuber – erworben hat.

Das älteste ungarische Perikopenbuch wurde hier um 1550–1552, jedoch ohne Illustrationen hergestellt[4]. Da man auch von der chronologisch nächsten Ausgabe heute kein Exemplar mit Titelblatt kennt, ist es nur möglich, das Erscheinungsjahr zwischen 1559 und 1574 anzusetzen[5]. In diesem zweiten Perikopenbuch von Kolozsvár tauchen schon einige Holzschnitte auf. Diese Ausgabe ist aber nur in einem sehr lückenhaften Exemplar bekannt, in welchem allein acht Illustrationen aus dem Neuen Testament zu finden sind. Aus der Fachliteratur war eine dritte Ausgabe von Kolozsvár aus dem Jahre 1593 bekannt[6], doch tauchte das Unikat des vorigen Jahrhunderts aus Brassó (Kronstadt heute Braºov) in Siebenbürgen bald unter. Unlängst gelang es, ein vollständiges Exemplar der Ausgabe 1593 in Galaþi (Rumänien) zu entdecken. In diesem befinden sich nicht weniger als 45 verschiedene Holzschnitte derselben Illustrationsserie, von welcher man in dem früheren Perikopenbuch von Kolozsvár nur acht sehen konnte.

Jener Find bietet nun eine gute Chance, diese Holzschnitte etwas eingehender zu untersuchen und auszuwerten. Allein aufgrund der vorher bekannt gewesenen Bilder konnte Elisabeth Soltész seinerzeit einige Schlüsse ziehen. [7] So hatte sie festgestellt, daß die etwa 23x26 mm großen Illustrationen die Kopie der aus 233 Bildstöcken bestehenden großen Serie von

TABELLE

Blatt in Kolozsvár

Kurze Beschreibung des Bildes von Beham mit der biblischen Stelle

Geisberg-Nr

1. A1a

Die Verspottung Jesu (Mark. 15:17–19)

– 144

2. A2b

Der Einzug in Jerusalem (Matth. 21:1–9)

+ 77

3. A5b

Die Prophezeiung des Jüngsten Gerichtes (Mark. 13:24)

+ 142

4. A7b

Johannes der Täufer sendet seine Jünger aus dem Kerker zu Jesus (Matth. 11:2)

+ 46

5. A9b

Johannes der Täufer fordert die Pharisäer zur Bekehrung auf (Matth. 3:7–12)

+ 11

6. A11b

Die Geburt Jesu (Matth. 1:25)

– 3

7. B5b

Simeon nimmt das Jesukind auf den Arm (Luk. 2:25–32)

– 153

8. B9a

Der Traum von Josef über die Heimkehr (Matth. 2:19–20)

– 9

9. B11a

Der zwölfjährige Jesus in der Kirche (Luk. 2:46–47)

+ 155

10. C1b

Die Hochzeit von Kana (Joh. 2:1–10)

+ 188

11. C4a, L11 a, N4a

Die Anflehung von Jairus (Mark. 5:22–23)

– 131

12. C6b

Jesus schläft im Sturm (Matth. 8:23–24)

+ 36

13. C8a, D5a

Die Parabel vom Sämann (Luk. 8:5–15)

– 166

14. C11b

Die Anwerbung der Weinarbeiter (Matth. 20:1–7)

+ 73

15. D8b

Jesus trifft den Blindgeborenen (Joh. 9:1–5)

+ 196

16. D12a

Die Versuchung Jesu in der Heide (Matth. 4:1–4)

– 13

17. E2b

Jesus und das Weib von Kanaan (Matth. 15:22–28)

– 57

18. E4b

Die Heilung des blinden und stummen Besessenen (Matth. 12:22)

– 50

19. E8a, K6a

Die erste Brotvermehrung (Matth. 14:15–21 )

+ 53

20. F3a

Jesus erscheint Maria Magdalena (Joh. 20:14–17)

+ 212

21. F5b

Die Einladung der Gäste zur Hochzeit des Königssohnes (Matth. 22:1–5)

– 85

22. F10a, G1a, H8a

Der auferstehende Jesus erscheint seinen Jüngern (Matth. 29:17)

– 126

23. G3b, I8a

Das verlorene Lamm (Luk. 15:1–7)

+ 174

24. G6a, O1b

Jesus lehrt die Jünger das Beten (Luk. 11:1–13)

+ 170

25. G8a, L7b

Die Aussendung der zwölf Apostel (Matth. 10)

+ 45

26. G10b

Von der Erhörung des Gebets (Matth. 7:7–11 )

– 28

27. H1a

Jesus spricht zu den Jüngern von der Gefahr des Reichtums (Matth. 19:23–26)

–71

28. H3a

Jesus wählt seine Jünger aus (Mark. 3:14–19)

+ 130

29. H5b

Die Ankunft des Heiligen Geistes (Apostelgesch. 2:1–13)

? 216

30. H9b, K8a

Jesus warnt seine Jünger vor den falschen Propheten (Matth. 7:15)

– 29

31. H11b

Der Gesetzkundige fragt Jesus (Luk. 10:25–27)

– 168

32. I2b

Das Leben des reichen Mannes und des armen Lazarus (Luk. 16:19–21)

+ 178

33. I5b, N1a

Die Hochzeit des Königssohnes (Matth. 22:11–24)

– 86

34. I10b

Über die Verurteilung der Mitmenschen (Matth. 7:3–5)

+ 27

35. I12b

Jesus lehrt vom Boot aus (Matth. 13:1–2)

– 51

36. K3b

Die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe (Matth. 19:3–12)

+ 68

37. K10a, N6b

Der Reiche bezahlt die Weinarbeiter (Matth. 20:9–15)

+ 74

38. L1a

Die Vertreibung der Krämer aus dem Tempel (Matth. 21:12–13)

+ 78

39. L3b

Der Pharisäer und der Zöllner (Luk. 18:9–14)

– 181

40. L5b, M6b

Die Heilung des Lahmen (Matth. 9:2–7)

+ 38

41. M1b

Vertrauen auf die Fürsorge Gottes (Matth. 6:19–34)

+ 26

42. M5a

Die Auferweckung des Jünglings zu Naim (Luk. 7:12–15)

+ 161

43. M9a, N9b

Jesus und die Pharisäer (Matth. 12:2–8)

+ 47

44. M11a

Der geheilte Lahme trägt sein Bett (Mark. 2:10–12)

– 129

45. N11b

Die Auferweckung der Tochter des Jairus (Matth. 9:25)

– 42

Hans Sebald Beham sind. Das Original ist zum ersten Mal im Jahre 1526 veröffentlicht worden[8]. Hierbei diente diese Serie zur Illustration der deutschsprachigen Übersetzung des Neuen Testaments von Martin Luther, die in der Nürnberger Offizin von Hans Hergott erschienen ist. [9]

Die obige Tabelle der in diesem Beitrag abgebildeten 45 Holzschnitte des Perikopenbuches von Kolozsvár sagt – dem Original von Nürnberg gegenübergestellt – Folgendes aus:

Von den 45 Holzschnitten besitzen 24 identische, 20 seitenverkehrte Körperstellung; in einem Fall (Abb. 29) war es nicht möglich, die Stellung zu verifizieren. Dieser Umstand läßt darauf schließen, daß der Nachstecher nicht direkt oder nicht nur nach dem Original von Beham gearbeitet hat. Behams große Serie wurde nämlich rasch und oft nachgestochen.[10]

Wenn man die Komposition der Holzschnitte sowohl von Nürnberg als auch von Kolozsvár genauer betrachtet, so ist vor allem festzustellen, daß die identischen Züge weitaus überwiegen. Diese Behauptung trifft freilich immer auf die Gesamtkomposition der Bilder zu. Manchmal ist die Ähnlichkeit fast schon verblüffend. Der Nachstecher kopierte nicht selten auch im Fall des Spiegelbildes – sogar die kleinsten Einzelheiten, z. B. die Form des Ruders (Abb. 12), die Stiefel des Hl. Josefs (Abb. 8). So besteht also kein Zweifel, daß die Holzschnitte von Koloszvár die Kopien der Bilder von Beham sind.

Doch sind die Unterschiede zwischen beiden lllustrationsserien für uns wichtiger und interessanter. Natürlich ist es nicht notwendig, hier alle Abweichungen – wie bei einem Bilderrätsel – zu erkennen bzw. zu registrieren. Deswegen werden lediglich die typischen bzw. auffallendsten Unstimmigkeiten im Folgenden aufgeführt.

Der Nachstecher war bemüht, die – für ihn vielleicht zu komplizierten – Kompositionen zu vereinfachen. So ist das Fehlen von einer (Abb. 5, 35, 38, 42) oder von mehreren Personen (Abb. 25, 27, 30, 33, 43) nicht selten. Auch beim Glorienschein sind einige Unterschiede zu beobachten. Beham gab dem Jesuskind – wahrscheinlich aus Kompositionsgründen – nur eine einfache Glorie, die sonst bei ihm die Heiligen tragen. Der erwachsene Erlöser trägt dagegen stets (ausgenommen Geisberg-Nr 13) einen strahlenden Glorienschein. Der Nachstecher wollte konsequent sein, so erhielt der neugeborene Heiland von ihm schon Strahlen (Abb. 6). Der arme Lazarus (Abb. 32), ein Apostel im Boot (Abb. 12) und einmal Johannes der Täufer (Abb. 5) entbehren die einfache Glorie in Kolozsvár. Das läßt sich aber allein auf ein Versehen zurückführen. Auffallend und bedauernswert ist dagegen das Fehlen der ziehen den Vögel am Himmel über dem Sämann (Abb. 13), die das Bild von Beham so lebendig machten.

In einigen Fällen kann man Kompositionsvarianten in den zwei Holzschnittserien beobachten. So kniet der Hl. Josef im Original und steht in der Kopie (Abb. 6); der Hintergrund der heiligen Jungfrau ist einmal gestreift, einmal leer (Abb. 10); in der Mitte liegen einmal zwei flache Körbe und links ein hoher Korb, einmal allein in der Mitte drei flache Körbe (Abb. 29); die heilige Jungfrau Maria sitzt zuerst mit einem Apostel in der Mitte, dann kniet sie in der Gesellschaft von zwei Aposteln (Abb. 29); das Fenster im Hintergrund hat eine gotische Form bzw. ist einfach viereckig (Abb. 45) usw.

Am eindrücklichsten sind die neuen Elemente der Kopien. Dabei tauchen am häufigsten kleine Steine im Vordergrund auf: zuweilen nur ein Stein (Abb. 15, 30, 36) oder zwei (Abb. 28), meistens aber drei Steine (Abb. 14, 18, 21, 23, 31). Der Gedanke, daß es sich hierbei vielleicht um ein Stecherzeichen handeln könnte, liegt nahe. Auch ein Baum in der Mitte, als ein neues Kompositionselement, ist mehrmals zu finden (Abb. 36, 43). Darunter ist einmal ein Wappen, das in der Mitte den Buchstaben „E” trägt (Abb. 40) abgebildet, das andere Mal steht derselbe Buchstabe bei dem Baum ohne Wappen (Abb. 2). Dieser Buchstabe „E” taucht dann auf einem längeren Band nochmals auf, das – auch als neues Element – an der anderen Seite die Jahreszahl 1552 trägt (Abb. 1). Und es kann auch kaum Zweifel darüber bestehen, daß der Buchstabe „E” keineswegs zufällig in drei Holzschnitte als neues Element eingebracht wurde. Von der Komposition her gesehen ist auch interessant, daß der Nachstecher das Original von Beham nicht nur mit einem Baum, sondern auch durch eine Landschaft im Hintergrund (Abb. 24, 25, 30), manchmal sogar durch den Horizont (Abb. 31, 35) ergänzt hat. Auch einige weniger wichtige Abweichungen seien hier noch registriert: am Himmel fünf Sterne statt drei (Abb. 3) und sechs Vögel statt vier (Abb. 41) oder ein neuer, karierter Fußboden (Abb. 37) oder abweichende Kopfbedeckung (z. B. Abb. 13, 14, 37, 43, 45).


1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

Aus alldem geht hervor, daß der Kopist selbst ein begabter Künstler war, der viel Erfindungsgeist auf seine Arbeit verwandte. Doch hat er das Niveau von Beham nicht erreicht. Abgesehen von den schon erwähnten Vereinfachungen, ist das vor allem in den einzelnen Feinheiten zu beobachten. So sind z. B. die Gesichtszüge und die Gewandfalten oft auffallend grob und oberflächlich, die Gestalt der Personen wirkt nicht selten ziemlich ungeschickt, was vor allem bei sitzenden Figuren auffällt. Auch die Köpfe sind sehr oft anatomisch unrichtig mit dem Rumpf zusammengefügt.

Man kann annehmen, daß die Holzschnittserie von Kolozsvár mit den Illustrationen zum Neuen Testament als Kopie des Werkes von Beham – laut des Spruchbandes (Abb. 1) – im Jahre 1552 hergestellt wurde. Man weiß, daß Jakob Lucius der Ältere, der ab 1556 bis zu seinem Tod im Jahre 1597 als Drucker in Deutschland (Wittenberg, Rostock und Helmstedt) arbeitete, zuvor in Siebenbürgen als Buchillustrator tätig war. [11] Eben für die Offizin von Kolozsvár stellte er eine ganze Reihe von Holzschnitten her, doch kann man die von ihm als Monogramm benutzten Initialen I. L. C. T. , bzw. L. keineswegs mit dem Buchstaben > E < in Verbindung bringen. [12] So bleibt die Frage – bis auf weiteres – unbeantwortet: wo wurde und wer hat die Serie gezeichnet und gestochen?


[1] RMNy Nr. 91, 218, 337A, 486, 602, 630, 676, 721, 813.

[2] RMNy Nr. 630, 721.

[3] RMNy Nr. 900, 926, 942, 1070, 1096, 1102, 1145, 1151, 1152 (1), 1421, 1452, 1491, 1591.

[4] RMNy Nr. 91.

[5] RMNy Nr. 218.

[6] RMNy Nr. 721.

[7] Soltész Zoltánné: A magyarországi könyvdíszítés a XVI. században (Buchschmuck in Ungarn im XVI. Jahrhundert). Budapest 1961, 60, 135.

[8] Geisberg, Max: Die deutsche Buchillustration in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 2. Folge, 9. Heft. München 1932. Nr. 907–1139.

[9] Hollstein, F[riedrich] W[ilhelm] H[einrich]: German engravings etchings and woodcuts ca. 1400–1700. III. Amsterdam [195?]. 167 f.

[10] Wenn die Körperstellung im Original und in der Kopie gleich ist, steht ein „+” als Zeichen vor der Geisberg-Nr. bei spiegelbildlicher Darstellung ein „–” als Zeichen.

[11] Geisberg, Max: Die deutsche Buchillustration in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 2. Folge, 9. Heft. München 1932. Nr. 16.

[12] Fitz, Josef: Jakob Lucius der Ältere in Siebenbürgen. In: Gutenberg Jahrbuch 1959. 171–176.




TARTALOM KEZDÕLAP