20. Die Illustrationen der ältesten ungarischen Perikopenbücher V. (Wien–Leutschau)

Gutenberg Jahrbuch 1983. 186–194.

Mit diesem fünften Teil wird die Untersuchung über die Illustrationen der gedruckten Perikopenbücher in ungarischer Sprache der ersten Periode 1550–1650 beendet. Die älteste Ausgabe erschien im Jahre 1550 in der wichtigsten Stadt von Siebenbürgen, in Kolozsvár (Klausenburg – Cluj-Napoca/R). In meinem ersten Aufsatz konnte ich diese genaue Jahresangabe noch nicht machen,[1] da das Werk damals lediglich in einem ziemlich lückenhaften Exemplar ohne Titelblatt bekannt war. Im letzten Jahr gelang es mir jedoch, in der ehemaligen Reichsstadtbibliothek von Lindau (Bodensee) ein vollständiges Exemplar zu ermitteln, das die Jahreszahl 1550 trägt.

In den vier vorangegangenen Beiträgen wurden die kleinformatigen Illustrationen zum Neuen Testament der Perikopenbücher in ungarischer Sprache aus den folgenden Offizinen beschrieben: diejenige der Familie Heltai[2] und Hoffhalter,[3] die Druckerei von Joannes Manlius[4] und die der Familie Klöss[5]. Nun bleiben noch zwei Gruppen übrig aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die von Wien und die von Leutschau (Lõcse – Levoca CS).

Die außerordentliche Wichtigkeit der Wiener Offizinen für Ungarn im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts konnte man aus meinem letzten Beitrag[6] bereits ersehen. Aber auch in den späteren Perioden stellten die Wiener Typographen mehrere Bücher in ungarischer Sprache her. Unter anderen wurden dort auch solche Perikopenbücher gedruckt. Die älteste Ausgabe aus dem Jahre 1573 habe ich unlängst in der Universitätsbibliothek von München gefunden.

Diese zwei Beispiele aus Lindau und aus München unterstützen schon die Beobachtung, daß verhältnismäßig viele Ausgaben von Gebrauchsliteratur (Gebetbücher, Gesangbücher usw.) der vergangenen Jahrhunderte in ungarischer Sprache – besonders in vollständigen Exemplaren – vor allem in den Sammlungen außerhalb des Karpaten-Beckens erhalten geblieben sind. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Bücher in einer ganz unverständlichen Sprache wurden überhaupt nicht benutzt. (Hungarica sunt, non leguntur!) Dagegen wurden diese Bücher in Ungarn wortwörtlich „verbraucht” und die defekten Bände dann einfach weggeworfen. Deswegen hat eine bibliographische „Jagd” nach alten Druckwerken in ungarischer Sprache außerhalb Ungarns nicht selten Erfolg!

Bei den alten Wiener Perikopenbüchern in ungarischer Sprache beschränken wir uns auf die Ausgaben mit Illustrationen, die zu unserem jetzigen Thema gehören. Es sind nur zwei Ausgaben bekannt, alle beide aus dem Jahr 1616[7]. Obwohl die Titelblätter grundverschieden sind, handelt es sich dabei nur um eine Variante, weil lediglich der ersten Bogen neu gesetzt wurde. Die Illustrationen kommen nur in dem weiteren Teil des Bandes vor, so kann man die Wiener Perikopenbücher bzw. ihre Illustrationen hier zusammen behandeln.

Das Buch trägt ein unvollständiges Impresssum (Wien 1616) ohne Druckernamen. Aufgrund der typographischen Ausstattung kann man feststellen, daß es aus der Offizin von Matthäus Formica stammt, dessen Presse von 1615 bis 1639 tätig war[8]. Es enthält insgesamt nur neun Illustrationen zum Neuen Testament, die zu verschiedenen Serien gehören. Acht Holzschnitte haben die Größe 43–53 mm (Abb. 2–9), ein einziger weicht mit 62x52 von den anderen ab (Abb. 1). Alle Illustrationen kommen im Band nur einmal vor:

Abb.

Kurze Beschreibung der Bilder

Seite

1.

Die Verkündigung der Geburt Jesu / Anuntiatio /

R1b

2.

Die Geburt Jesu

C5a

3.

Die Beschneidung Jesu

E1b

4.

Die Heiligen drei Könige begrüßen Jesu

E3a

5.

Der auferstehende Jesus mit der Wache

I2b

6.

Die Ausgießung des Heiligen Geistes

L26

7.

Der Kalvarienberg

P8a

8.

Simeon nimmt das Jesukind auf den Arm

Q6a

9.

Maria bei Elisabeth

S4b

Bei der genaueren Untersuchung kann man sofort sehen, daß der Holzschnitt mit der Golgothaszene (Abb. 7) von den acht Bildern derselben Größe aus einer anderen Serie stammt. Das läßt sich allein schon durch die Einfassung feststellen: der Rand besteht hier statt aus einer aus zwei Linien.

Die Wiener Holzschnitte sind alle nicht nur ihren Maßen nach größer als die in den Druckereien von Ungarn verwendeten, vielmehr liegt auch ihr künstlerisches Niveau wesentlich höher. Auch in ikonographischer Hinsicht ist die Komposition sichtbar jünger. Als Folge der Reformation tragen z. B. die Jünger Jesu keinen Heiligenschein mehr, der bei Maria und auch bei Elisabeth noch zu sehen ist. Das Bild mit dem Kalvarienberg (Abb. 7) weicht auch hier von den sieben anderen ab. Jesus, Maria und Johannes tragen hier alle einen plattenförmigen Heiligenschein, im Gegensatz zu den anderen Holzschnitten in derselben Größe, wo die Glorie aus einem Bündel mit linienartigen Strahlen besteht. Mit Hilfe dieser Kriterien kann man auch eine verfeinerte Differenzierung innerhalb der Holzschnittserie vornehmen. Der Heiligenschein bei der Illustration von der Auferstehung Jesu (Abb. 5) weicht von den anderen ab: die Gloriole bei Jesus besteht unmittelbar bei dem Kopf aus einem leeren Feld, und die längeren Strahlen fangen so erst nach einer gewissen Entfernung an.

Bei der Untersuchung der Illustrationen ungarischer Perikopenbücher kann man also feststellen, daß die in Wien hergestellten Ausgaben von den in Ungarn gedruckten auch bei den Holzschnitten stark abweichen.

Die letzte Offizin in Ungarn, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Perikopenbücher mit kleinen Holzschnitten als Illustration aus dem Neuen Testament herstellte, war die Druckerei der Familie Brewer in Leutschau. Diese Werkstatt war zwischen 1625 und 1739 tätig[9] und gehörte etwa bis 1670 zu den leistungsfähigsten Pressen, die damals in Ungarn arbeiteten. Ihre Konkurrenten befanden sich in zwei weiteren bedeutenden Druckorten: Bartfeld (Bártfa–Bardejov CS) und Kaschau (Kassa – Košice CS). Die Stadt Leutschau war damals ein wichtiges Handels– und Verkehrszentrum OberUngarns, wo in den Städten das deutschsprachige Bürgertum überwog, also auch in der Stadt Leutschau.

Natürlich produzierten die dortigen Offizinen viele Druckwerke auch in ungarischer Sprache. So wurden ungarische Perikopenbücher nicht nur in Bartfeld[10], sondern auch in Leutschau gedruckt. Die erste heute bekannte Ausgabe der Druckerei von Laurenz Brewer stammt aus dem Jahre 1634[11]. Das nächste Perikopenbuch in der Chronologie von Leutschau trägt die Jahreszahl 1642. – Nach den obigen Ausführungen wird es die Leser dieses Artikels kaum überraschen, daß das bisher einzige Exemplar davon unlängst von mir in der Staats– und Stadtbibliothek Augsburg entdeckt worden ist.

In den beiden Ausgaben sind wiederum Holzschnitte in einem kleinen Format vorhanden, die zur Illustration des Neuen Testaments dienen konnten. Davon sind 48 (Abb. 10–38, 40–58) in der früheren Ausgabe zu finden, die alle auch in der späteren zu sehen sind, wobei noch ein 49. Holzschnitt (Abb. 39) auftaucht. Obwohl alle Illustrationen eine Serie bilden, ist ihre Größe nicht ganz einheitlich: ihre Höhe schwankt zwischen 25 und 29 und ihre Breite von 28 bis 33 mm. Die Bilder sind in den zwei verschiedenen Ausgaben an folgenden Stellen zu finden:

Abb.

Kurze Beschreibung des Bildes

1634

1642

10.

Der Einzug in Jerusalem

A3a

A3a, I8a

11.

Die Prophezeiung des Jüngsten Gerichtes

A6a, Z6b

A6a, Aa6b

12.

Johannes der Täufer sendet seine Jünger aus dem Kerker zu Jesu

A8b

A8b

13.

Johannes der Täufert tauft Jesus

B3a

B3a

14.

Die Hirten begrüßen Jesus

B5b

B5b

15.

Simeon nimmt das Jesuskind auf den Arm

C6a

C6a

16.

Die Beschneidung Jesu

D1b

D1b

17.

Die Heiligen drei Könige begrüßen Jesus

D3b

D3b

18.

Der zwölfjährige Jesus in der Kirche

D6b

D6b

19.

Die Hochzeit von Kana

E2a

E2a

20.

Die Heilung des Aussätzigen

E4b

E4b

21.

Jesus schläft im Sturm

E7b

E7b

22.

Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen

F2a

F2a

23.

Die Anwerbung der Weinarbeiter

F5b

F5b

24.

Das Gleichnis vom Sämann

G1b

G1b

25.

Jesus lehrt seine Jünger

G8b, O7b

G5b, N4b

26.

Die Versuchung Jesu in der Wüste

G8b

G8b

27.

Jesus und das Weib von Kanaan

H3b

H3b

28.

Die Heilung des stummen Besessenen

H6a

H6a

29.

Die erste Brotvermehrung

I1b, S56

I1b, S5a

30.

Die Leute wollen Jesus im Tempel steinigen

I5a

I5a

31.

Der auferstehende Jesus mit der Wache

I8a, L5b

L5b

32.

Der ungläubige Thomas

M7a

M7a

33.

Der gute Hirt

N2a

N2a

34.

Die Verklärung Jesu

N4b, O2a

O2a

35.

Jesus lehrt drei Jünger

N6a

N7a

36.

Die Himmelfahrt Jesu

O5a

O5a

37.

 Das Gleichnis vom verdorrten Feigenbaum

S3a, X3b

O7b, S3a,Y3b

38.

Die Ausgießung des Heiligen Geistes

P2a

P2a

39.

Das Gleichnis von der Tür der Schafhürde

P6b

40.

Jesus und Nikodemus

Q1a

Q1a

41.

Der reiche Mann und der arme Lazarus

Q5a

Q5a

42.

Das Gleichnis von der königlichen Hochzeit

Q8a, X8b

Q8a, Y8b

43.

Das verlorene Schaf

R2b

R2b

44.

Über die Verurteilung der Mitmenschen

R5b

R5a

45.

Der wunderbare Fischfang

R8a

R8a

46.

Der Zinsgroschen vom Steuerzahlen

S7b, Z1b

S7b, Aa1a

47.

Der reiche Mann und sein Verwalter

T3a, Y6a

T3a, Z6b

48.

Tempelreinigung

T5a

T6a

49.

Der Pharisäer und der Zöllner

V1a

V1a

50.

Die Heilung des Taubstummen

V3a

V3a

51.

Der barmherzige Samariter

V5b

V5b

52.

Jesus und die zehn Aussätzigen

W1a

X1a

53.

Man kann nicht gleichzeitig zweibHerren dienen

W4a

X3b

54.

Jesus in Naim

W7a

X7a

55.

Die Heilung des Wassersüchtigen

X1a

Y1a

56.

Der geheilte Lahme trägt sein Bett

X6a

Y6a

57.

Der Hauptmann von Kapernaum

Y3b

Z3b

58.

Die Auferweckung der Tochter des Jairus

Z4a

Aa4a

Die Holzschnitte in Leutschau sind also mit 25–29x28–33 mm etwas größer als die in den vier früheren Aufsätzen vorgeführten[12], doch ist der Einfluß der großen Illustrationsserie von Hans Sebald Beham zum Neuen Testament[13] auch hier eindeutig zu erkennen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann man leicht eine Konkordanz zwischen den Holzschnitten von Brewer und denen von Beham zusammenstellen:

Abbildung

von Brewer           10        11        12        13

von Geisberg        77        142     46        12 usw.

Wie die anderen in Holz geschnittenen Illustrationen der Druckerei von Leutschau könnte auch diese Serie aus einer anderen Stadt erworben worden sein. Diese Behauptung kann man einerseits durch stilistische Merkmale und andererseits durch die Abnutzungserscheinungen der Bildstöcke überzeugend belegen. Die Linienführung der Holzschnitte ist sehr ausgeprägt: Die Illustrationen stammen von derselben Hand. Der Schnitzer der 12 Holzstöcke war freilich kein Künstler, denn die Figuren wirken oftmals ziemlich unbeholfen. Von dieser Hand sind indessen keine weiteren Bilder aus der Offizin der Familie Brewer bekannt.

Auf ganz primitive Weise wurde die Verstärkung der wahrscheinlich schon stark abgenutzten und nicht ganz frischen Holzstöcke durchgeführt: die viel gebrauchten und dadurch gesprungenen Holzblöcke wurden einfach durchgenagelt. Dieses Verfahren kann man an den Abzügen gut beobachten: die Spuren der Nägel sind durch einen schwarzen Punkt klar zu erkennen. Davon findet man in den einzelnen Bildern bis zu vier Stück, die oft sogar die Komposition stören können. Diese Verstärkung wurde ganz rücksichtslos durchgeführt. Besonders an den Stellen, wo die Spuren nicht im Leerraum zu sehen sind, dürften die etwas erhöhten Nägel auf der Illustration – durch die Abschwächung der Linien in der Umgebung-ganz auffallend sein.[14]

Diese Holzschnittserie ist in Leutschau allein aus den erwähnten Ausgaben des ungarischen Perikopenbuches bekannt. Ein einziges Bild davon (Abb. 23) kommt noch einmal um 1710 in einer Ausgabe des ungarischen immerwährenden Bauernkalenders „Cisio” der Offizin Brewer zum Vorschein[15], und zwar an Stelle des inzwischen offensichtlich zerstörten Symbols vom Herbst.

Zusammenfassend kann man sagen, daß die Nachstiche der großen Illustrationsserie zum Neuen Testament von Beham auch in Ungarn zwischen der Mitte des 16. und 17. Jahrhunderts in fünf Offizinen benutzt wurden. Diese auch in anderen Ländern äußerst verbreiteten Bilder waren zur Illustration der Perikopenbücher geeignet, weil der Text hier allein aus dem Neuen Testament stammt. Höchstwahrscheinlich wurden alle fünf Serien, die in Ungarn gebraucht wurden, außerhalb des Landes hergestellt, doch weiß man bis heute nicht genau, wo. Vielleicht kann man mit Hilfe dieser Veröffentlichungen auf die Spur ihres Wanderweges kommen.



[1] Gutenberg Jahrbuch 1979. 283.

[2] Gutenberg Jahrbuch 1979. 283–290.

[3] Gutenberg Jahrbuch 1980. 246–257.

[4] Gutenberg Jahrbuch 1981. 229–233.

[5] Gutenberg Jahrbuch 1982. 236–240.

[6] Gutenberg Jahrbuch 1982. 236.

[7] RMNy Nr. 1102, 1145.

[8] Lang, Helmut W.: Die Buchdrucker des 15. bis 17. Jahrhunderts in Österreich. Baden-Baden 1972. 58.

[9] Gutenberg Jahrbuch 1927. 91–95.

[10] Gutenberg Jahrbuch 1982. 236–240.

[11] RMNy Nr. 1591.

[12] Heltai 23x26, Hoffhalter 27x27, Manlius 27x27 und Klöss 24–25x29 mm.

[13] Geisberg, Max: Die deutsche Buchillustration in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 2. Folge, 9. Heft. München 1932. Nr. 907–1139.

[14] Abb. 12. oben in der Richtung der Ecken.

[15] Az Országos Széchényi Könyvtár Évkönyve (Jahrbuch der Ungarischen Nationalbibliothek Széchényi) 1974–1975. 345.




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