I.

In der Prager Presse übt W. Chaloupecky Kritik an dem Werk von J. Karácsonyi „Das historische Recht der ungarischen Nation auf die territoriale Integrität”, worin er das historische Recht der tschechoslowakischen Nation auf Oberungarn zu beweisen sucht. Den Auffassungen und Hypothesen Karácsonyis widersprechend, erklärt er der ganzen ungarischen Wissenschaft den Krieg, die seiner Meinung nach nur chauvinistische politische Ziele erstrebt.

Der sich hinter die Maske des methodischen Gelehrten verbergende tschechoslowakische Politiker befindet sich in einem grossen Irrtum, in dem er für Karácsonyis Auffassungsweise und Voraussetzungen die ganze ungarische Geschichtswissenschaft verantwortlich macht. Obwohl wir der jahrzehntelangen, erfolgreichen Arbeit und den Verdiensten unseres ausgezeichneten Gelehrten alle Anerkennung zollen, müssen wir dennoch feststellen, dass seine Auffassungsweise sich nicht in jedem Detail mit dem Standpunkte der gesamten ungarischen Geschichtswissenschaft deckt.

Karácsonyi und auch Chaloupecky suchen die historischen Rechtsgrundlagen zum Besitz des Landes in der Anciennität der Niederlassung. Aber aus der Anciennität allein, sei sie eine noch so starke Stütze des auch sonst klaren, historischen Rechtes einer Nation, lässt sich noch kein Rechtstitel auf den Besitz ableiten. Das historische Recht der englischen oder spanischen Nation auf das Gebiet ihres Landes können die auch heute noch dort wohnenden Überreste der keltischen Urbevölkerung nicht streitig machen. Ähnlicherweise würde, wenn die pannonischen Slawen tastsächlich die Ahnen der heutigen Böhmen wären, wie es die böhmischen Chauvinisten behaupten, dies allein ihnen noch kein Recht auf das Land verleihen. Auch hat es die ungarische ihnen noch kein Recht auf das Land verleihen. Auch hat es die ungarische Nation nicht nötig, ihre Anciennität so stark zu betonen, weil eben ihr historisches Recht auf viel festeren Grundlagen ruht.

Die Ungarn zogen am Ende des neunten Jahrhunderts nach Westen unter dem starken Drucke asiatisch-türkischer Völker. Herausgerissen aus der damals in Osteuropa dominierenden eigentümlichen türkischen Kultursphäre verliessen sie ihre chasarischen, bulgarischen und iranischen Nachbarn und siedelten sich in Ungarn an, wo noch Traditionen der römischen und fränkischen Kultur zu finden waren. Unter Leitung des ersten Ungarkönigs Stefans des Heiligen schlossen sie sich dem westlichen, lateinisch-germanischen Kulturkreise an und machten sich die Lehren der römischen Kirche und die Traditionen des Frankenreiches zu eigen. Dies waren die Grundpfeiler zur Organisation eines auch geographisch einheitlichen Landes. Die politische, religiöse, kulturelle und wirtschaftliche Einheit dieses Landes hat die ungarische Nation geschaffen und aufrechterhalten, und das Fehlen der völligen ethnischen Einheit kann an dem ungarischen, d. h. magyarischen Charakter des Reiches und des Staates nicht ändern. Die ungarische Nation besass zweimal – im Anfang des dreizehnten und des sechzehnten Jahrhunderts – alle Vorbedingungen zur Bildung einer ethnischen Einheit, doch haben erst die Tataren, dann die Türken gerade die rein ungarischen Gegenden und deren Bevölkerung fast völlig vernichtet. Um diese Territorien, deren Einwohner in den Kämpfen um den Westen zugrunde gegangen waren, zu beleben, boten wir den Schutz suchenden fremden Einwanderern gastfreundlich Asyl. Mit allen staatsbürgerlichen Rechten versehen und der ungarischen Kultur teilhaftig geworden, ändern diese Nationalitäten doch nichts an dem nationalungarischen Charakter des Landes und des Staates.

Seit Stefan dem Heiligen (997–1038) ist Ungarn die letzte Station des lateinischen Christentums, wie auch jeglicher politischen, religiösen, kulturellen und wissenschaftlichen Bewegung des Westens; die letzten Wellen dieser Bewegungen brachen sich au Ungarns östlicher Grenze. Die ungarische Nation samt den ihr schicksalsverwandten Kroaten und Polen hat von jeher die Zivilisation des Westens gegenüber der Welt des Ostens verbreitet, und verteidigt. Während unsere glücklicheren Nachbarn – auch die Böhmen, die unter deutschem und österreichischem Schutz den stärkenden Einfluss der deutschen Macht, des deutschen Geistes und der deutschen Kultur genossen – ungestört ihre eigene wirtschaftliche und geistige Kultur aufbauen konnten, standen die Ungarn, Polen und Kroaten in fortwährendem Kampfe mit dem Osten. Und dieser Kampf ging nicht um dynastische Interessen oder imperialistische Machtbestrebungen. Die Kämpfe, die die Ungarn mit den Petschenegen, Kumanen, Tataren, Türken, Byzantinern, Serben, Rumänen und anderen östlichen Völkern ausfochten, sowie ihre nach dem Balkan, der Moldau und Galizien gerichteten expansiven Bestrebungen sind nur die natürlichen Kämpfe des Westens gegen den Osten. Die von den Árpáden konstruierte und von Ludwig Anjou dem Grossen durchgeführte Konzeption eines grossungarischen Reiches, das die südlichen, östlichen und nordöstlichen Provinzen umfasste, war der grösste Sieg der westlichen Zivilisation. In dieser Zeit erstreckten sich ihre Grenzen am weitesten nach Osten hin. Ungarns Verstümmelung 1541 und 1918 ist gleichbedeutend mit der Niederlage der westlichen Kultur, mit dem Vordringen des Ostens, d. h. damals der türkischen, heute der an byzantinischen Brüsten grossgezogenen rumänischen und serbischen Macht. Es ist der grosse historische Irrtum, die Sünde aller westlichen Kulturvölker, dass sie, von ihrem zeitweiligen Machtzuwachs irregeführt, dem Osten den Weg zum Herzen Europas freigegeben haben.

Die ungarische Geschichtswissenschaft sieht in der Übernahme und der Entwicklung der westlichen Kultur in ungarisch-nationaler Richtung, in der Verbreitung und Verteidigung der westlichen Zivilisation den geschichtlichen Beruf der ungarischen Nation. Die historische Grundlage zum Recht auf das Territorium unseres Landes erblicken wir demnach nicht in der Anciennität der Niederlassung, sondern in der ehrlichen Erfüllung unserer geschichtlichen Kulturmission. Dieses auf festen Grundlagen ruhende historische Recht können weder die gastfreundlich aufgenommenen Nationalitäten, noch die eventuellen Nachkommen der Ureinwohner streitig machen.