II.

Chaloupeckys Begründung des historischen Rechtes der tschechoslowakischen Nation auf Oberungarn beruht auf Hypothesen, die aus der böhmischen Fachliteratur wohlbekannt sind. Seiner Meinung nach umfasste Swatopluks sogenanntes Grossmähren samt dem heutigen Böhmen und Mähren auch die nördlich der Donau und westlich der Mátra gelegenen Teile Ungarns. Die Bewohner Grossmährens waren „Tschecho-Slowaken”, deren Nachkommen die Böhmen und Slowaken sind. Als die Ungarn in das Land einzogen, besetzten sie es nur bis zur Donau, und erst St. Stefan rückte die Grenzen bis zum Tátragebirge hinaus, das aber „keine natürlichen Grenzen” bildet.

Im Gegensatz zu diesen Theorien lehrt die ungarische Geschichtswissenschaft, dass die im achten und neunten Jahrhundert stellenweise nach Nordwestungarn und Pannonien eingewanderten Slowenen landwirtschaftliche Knechte der damals hier herrschenden hunnisch-türkischen Avaren gewesen waren, wie dies auch aus den Quellen ersichtlich ist. Nach dem Sturz des Avarenreiches gelangten sie unter die Herrschaft der Franken, die bis zur Donau vordrangen und auch das heutige Böhmen und Mähren beherrschten. Diese Slowenen lebten ohne jegliche politische Organisation in Sippen gegliedert und fristeten ein primitives Hirten- und Ackerbauerdasein. Die Franken waren nicht imstande, das ganze neuerworbene Land zu organisieren, und die slowenischen Geschlechter standen in der Mitte des neunten Jahrhunderts nur mehr rechtlich unter fränkischen Oberherrschaft befreite, bekehrten sich auch die Slowenen der Gegend von Neutra zum christlichen Glauben. Doch wurde ihr Häuptling, Pribina, in der Mitte des neunten Jahrhunderts durch Moimirs Nachfolger von Neutra vertrieben und die slowenischen Einwohner des Vág und Neutratales gerieten unter die Herrschaft Rastislaws und später Swatopluks. Der fliehende Pribina wurde mit fränkischer Hilfe unter Frankenherrschaft Häuptling derjenigen slowenischen Geschlechter, die sich südlich und westlich des Platten-sees von Fünfkirchen und Zalavár bis Pettau erstreckten. Pribina und sein Sohn Kozel, nachdem sie ihr Volk in die christliche Kirche eingeführt hatten, herrschten friedlich bis zur Landnahme der Ungarn. Dann aber fiel sowohl Kozels als auch Brazlaws kleines slowenisches Fürstentum, das in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts zwischen Drau und Save unter fränkischer Oberherrschaft zustande gekommen war, den ungarischen Angriffen zum Opfer. All dies wird von den Quellen des neunten und zehnten Jahrhunderts und besonders von Conversio Bagoariorum bestätigt. Von der grössten Ausdehnung vom sogenannten Grossmähren nach Süden und Osten hin haben wir keine bestimmten Daten. Es ist möglich, dass das Reich sich in der Blütezeit Swatopluks südlich bis zur Donau und im Donautal weiter nach Osten erstreckte. Darauf scheinen die gleichzeitigen Quellen hinzuweisen, die die Nachbarschaft Bulgariens und Mährens erwähnen, da das Reich der balkanischen Bulgaren in jener Zeit auch die grosse ungarische Ebene umfasste. Mährens Verfall aber begann gleich nach Swatopluks Tode und hauptsächlich nach den fränkischungarischen vereinten Angriffen im Jahre 894. In der Zeit der ungarischen Landnahme sind östlich vom Urwalde von Zólyom und südlich der Modor-Neutra-Linie keine Spuren ihrer Herrschaft zu finden.

Beide Donauufer von Waitzen und Gran bis Pressburg und die kleine ungarische Ebene, eingeschlossen die Komitate Nógrád, Esztergom, Hont, Bars, Komárom, Gyõr, Pozsony und Süd-Nyitra, sowie das Nyitra- und Zsitvatal hinauf bis zu den in der Gegend von Nyitra beginnenden slawischen Ansiedlungen wurden um 896–902 von einem ungarischen Stamm angesiedelt, der nach Sitte der türkischen Reitervölker beide Ufer des grossen Flusses besetzte. Die Slowenen des oberen Nyitra- und Vágtales gerieten also bald unter ungarische Herrschaft. Die Fürsten dieses Stammes, Zoárd (Salard) und Lél, waren samt Bogát und Bulcsu, die Fürsten des anderen westlichen Stammes waren, die Anführer der Feldzüge in Italien und Deutschland im Jahre 921 und 955. Ihre Namen sind aus zahlreichen ausländischen Quellen des zehnten Jahrhunderts bekannt. Die Erinnerung an diese ungarische Ansiedlung und an die Namen der Anführer ist auch noch aus den rein ungarischen Ortsnamen dieser Gegend – zum Beispiel Bars, Lél, Huba, Megyer, Farkasd, Kér usw. – ersichtlich.

Die Mährer Swatopluks und die mit ihnen eng werwandten Slowenen im Neutra- und Vágtal waren nicht Böhmen. Die Böhmen waren Feinde Grossmährens und Swatopluks, gegen den sie auch die Hilfe Arnulfs, des Frankenkaisers, erbaten. Nebst den Franken und Ungarn waren auch sie an dem Umsturz des Swatopluk-Staates beteiligt, dessen westlich von der Morva gelegner Teil – das eigentliche Mähren – im zehnten Jahrhundert unter ihre Herrschaft gelangte. Seit dieser Zeit grenzte Ungarn an Böhmen; diese Nachbarschaft ist es, die unseren Chroniken Anonymus Belae regis notarius, der an der Wende des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts lebte, veranlasste in der Gegend von Zobor und Neutra auch Böhmen auftreten zu lassen, da zu seiner Zeit Mähren in böhmischem Besitze war. Aber selbst Anonymus unterscheidet scharf zwischen „Boemi et Sclavi”, den Führer selbst bezeichnet er als Böhmen. Unter Sclavi meinen die ungarländischen Quellen des elften bis dreizehnten Jahrhunderts immer Slowenen, die ungarisch „tót” genannt werden. Auch wurden nicht nur die heutigen Slowaken, sondern auch die Slowenen Transdanubiens und des westlich der Drau-Save gelegenen Gebietes, als „tót" bezeichnet. Selbst der ungarische Name Sloweniens ist „Tótország”. Nie wurden die Böhmen, Kroaten, Serben und Ruthenen von den ungarländischen lateinischen Quellen und dem ungarischen Volke Sclavi und tót bezeichnet; sie sind immer mit ihrem individuellen Volksnamen Boemi-cseh, chroati-horvát usw. benannt. Mit den Bezeichnungen Boemi et Sclavi unterscheidet Anonymus bewusst die Böhmen von der slowenischen Bevölkerung dieser Gegend. Wir müssen indessen hervorheben, dass die gemeinsame Quelle des Anonymus und anderer Chronisten aus den 11. Jahrhundert noch nichts von Böhmen wusste. Dieselbe Unterscheidung finden wir bei Anonymus auch andernorts. So bezeichnet er die in der Gegend der Theiss lebenden, ethnisch noch nicht miteinander verschmolzenen beiden Elemente der balkanischen Bulgaren, die herrschenden hunnisch-türkischen Bulgeren und die unterworfenen Slowenen als Bulgari et Sclavi. In Transdanubien gebraucht er die Namen Pannonii et Sclavi und Romani et Romanorum pastores; er bezeichnet mit Pannonii und Romani die Franken, mit Sclavi und Romanorum pastores die Slowenen. Mit bewunderungswürdiger Folgerung aus dem zwiefachen Gebrauche dieser Namen sagt Chaloupecky, dass alle diese Völker „tschecho-slowakischer” Nationalität waren, und er siebt auch in der Unterscheidung der Ungarn und der ihnen sich anschliessenden verwandten Székler – Ungari et Siculi – sowie in der Bavari et Alemanni nur eine „stilistische Wendung”!

Die friedlichen, Ackerbau und Viehzucht treibenden Slowenen wurden von den Ungarn nicht misshandelt, nur ihrer Herrschaft unterworfen und mit landwirtschaftlichen Abgaben belastet.

Die unter die Herrschaft und den Schutz der Ungarn gelangten Slowenen des Neutra- und des Vágtales sind der Kern der heutigen Slowaken. In der Ausbildung ihres Ethnikums und ihrer Sprache spielen aber auch die stellenweise eingewanderten Weissen Kroaten und Polen, sowie die in ihre Mitte eingedrungenen Ungarn und Deutschen eine grosse Rolle. Die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzten Slowaken, denen Böhmen höchstens im fünfzehnten Jahrhundert sporadisch aus den hussitischen Emigranten sich assimilierten, nahmen unter ungarischen Schutze an der grossen Kulturarbeit Kolonisation im dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert teil. Sie bevölkerten den Urwald von Zólyom mit ungarischen und deutschen Ansiedlern und drangen bis zum mordöstlichen Oberlande hinauf. Die Slowenen Pannoniens und der Theissgegend verschmolzen bald mit den Ungarn und übernahmen auch die Sprache der Eroberer, die sie mit einigen Worten ihrer eigenen Sprache bereicherten.