Prinzipelle Fragen der Volksdichtung

Als Volksdichtung bezeichnet man im allgemeinen Erzeugnisse der Dichtkunst, die in den breiten Massen des werktätigen Volkes entstanden sind oder sich dort verbreitet haben und allgemein bekannt sind. Anders ausgedrückt bedeutet dies zugleich, daß die Volksdichtung eine eigentümliche Erscheinungsform dessen ist, was wir Literatur nennen. Die Gesamtheit dieser Erzeugnisse wird mit einem internationalen Fachausdruck auch Folklore genannt. Das Wort selbst sollte ursprünglich die „Volkskenntnis“, das Wissen des Volkes, die Gesamtheit dessen, „was das Volk weiß“, bezeichnen. Später begann man unter Folklore den Zweig der Wissenschaft zu verstehen, der sich mit den verschiedenen Hervorbringungen des geistigen Volkslebens (Volksdichtung, Volksmusik, volkstümliche Ornamentik, Brauchtum, Glaubenswelt usw.) beschäftigt. In diesem Sinne kann die Erforschung der Volksdichtung als ein Zweig der Folklore betrachtet werden.

Wenn hier von Volksdichtung gesprochen wird, so muß betont werden, daß das Wort „Volk“ im Sinne von „Werktätigen“ gebraucht wird, also nicht nur die Bauernschaft darunter verstanden wird, wie es die Verfasser der meisten früheren Werke über die Volksdichtung getan haben. Auch die Werktätigen der Industrie, die Arbeiter, haben ihre eigene Volksdichtung. Die Folklore der Industriearbeiter und die der Landarbeiter berühren sich übrigens in mannigfaltiger Weise, was außer durch den gemeinsamen Kampf gegen die Ausbeutung auch dadurch erklärt werden kann, daß bis auf den heutigen Tag ein bedeutender Teil der industriellen Arbeiter der Bauernschaft entstammt und die Lieder und Legenden des Landes auch unter den neuen Arbeitsverhältnissen beibehalten hat. Die traditionellen Formen und Inhalte dieser Lieder und Legenden lassen ihre Spuren auch in der städtischen Volksdichtung erkennen.

Ein bedeutender Teil der heute allgemein bekannten Zeugnisse der ungarischen Volksdichtung ist im Kreis des werktätigen Landvolkes entstanden. Die Tradition der alten Volksdichtung hat sich in Ungarn besonders bei den Agrarproletariern, den Kleinststellenbesitzern und den Mittelbauern erhalten. Béla Vikár hat bereits zu Ende des vorigen Jahrhunderts festgestellt, daß Schöpfungen der Volksdichtung nur von den armen Landarbeitern bewahrt würden. Auch Kodály und Bartók haben wertvolle alte Melodien nur in den Kreisen des armen Landvolkes gefunden. Zsigmond Móricz schreibt in seinem biographischen Roman ebenfalls, daß wohlhabendere Landwirte es verschmähten, Lieder zu singen oder Märchen zu erzählen: Der wohlhabende Landwirt hört den Geschichten in der Spinnstube und beim Hanfbrechen zu, er sieht sich die scherzhaften Gebräuche an, aber er steht nur dabei und betrachtet die Unterhaltungen des armen Volkes. Märchen zu erzählen oder am gemeinsamen Gesang teilzunehmen kam für ihn nicht in Frage. Die mündliche Überlieferung des bäuerliehen {G-503.} Brauchtums und seine Bewahrung war also im wesentlichen das Werk des armen Landvolkes. Die Berührungsfläche der reichen Bauern mit der Volksdichtung beschränkte sich auf Scherze und Anekdoten sowie auf die wertlosen Kunstlieder im Volksstil und einige Formen des Brauchtums, die eben Gelegenheit boten, den Reichtum herauszustellen.

Viele Schöpfungen der Kunstdichtung können indessen von der Volksdichtung übernommen oder – fachmäßig ausgedrückt – folklorisiert werden. Besonders viele Lieder Petõfis sind vom Volk aufgenommen worden. Die Volkstümlichkeit dieser Werke beruht auf der Tatsache, daß sie die Gefühle und die Wünsche des Volkes ausdrücken. Es kann vorkommen, daß auch wertlose Modelieder (Schlager) sich wie Volkslieder verbreiten, doch gehören diese ebensowenig wie die sentimentalen Kunstvolkslieder aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zur Volksdichtung.

Ein bedeutender Teil der Volksdichtung spiegelt das Leben der Werktätigen wider, und das gilt nicht nur für die ungarische Volksdichtung oder die Volksdichtung der letzten zweihundert Jahre. Bereits zweitausend Jahre v. Chr. wird in einer bekannten ägyptischen Rahmenerzählung, „Die Klagen des Bauern“, das schwere Los des Landvolkes geschildert.

An welche Helden seiner Freiheitskämpfe sich das ungarische Volk erinnert, soll im Zusammenhang mit den geschichtlichen Überlieferungen und den Legenden ausführlich besprochen werden, und auch die Frage der revolutionären Traditionen wird bei der Behandlung der einzelnen Gattungen noch zur Sprache kommen. Aber auch im jetzigen Zusammenhang darf auf einige vielsagende Beispiele nicht verzichtet werden, die unmißverständlich den revolutionären Geist des Volkes und seinen explosiven Haß gegen alle die ausdrücken, die es im Laufe der Jahrhunderte unterdrückt haben. Wir denken zum Beispiel an eine im ganzen Land beliebte Gruppe von scherzhaften Märchen „Ist der Bauer böse?“. Beim Anstellen eines Knechtes stellt der Bauer die schlaue Bedingung, er brauche keinen Lohn zu zahlen, wenn er während der Arbeit böse werde. Das Märchen endet mit dem Sieg des Knechtes, der das Haus und das Feld seines Herrn zerstört, einen Bären darauf losläßt und dabei immer wieder fragt: „Ist der Bauer böse?“ … Oder es lassen sich Märchentypen anführen, die unter dem Namen „Der große und der kleine Klaus“ bekannt sind, ferner der Märchentyp „Gerechtigkeit und Falschheit“, in welchem der reiche Bauer und der Arme des Dorfes sich gegenüberstehen, wobei der Reiche den Armen mit allen Mitteln zugrunde richten will, am Ende aber der Arme den Sieg davonträgt. Es hat schon seine Bewandtnis, was zu einem unserer Sammler gesagt wurde: „Nur das ist wahr, was in den Märchen ist. Warum kann nicht auch der Mensch so sein?“

Der Inhalt der erwähnten Erzählungen zeigt nicht nur die enge und unlösliche Einheit von Volksdichtung und Geschichte, sondern beleuchtet wiederholt auch die mächtige agitatorische Kraft, die in den Schöpfungen der Volksdichtung liegt.

Volksdichtung und Kunstdichtung, das also, was man im allgemeinen {G-504.} Literatur nennt, gehören gleicherweise zum Überbau. Infolgedessen sind alle Ansichten irrtümlich, die versuchen, der Volksdichtung den Charakter des Überbaus abzusprechen, und betonen, daß sich in der Folklore ebenso „dauernde“, „über den Klassen stehende“ und „beständige“ Elemente fänden wie in der Sprache. Solches Mißverständnis kann daraus entstehen, daß es in der Volksdichtung tatsächlich konstant scheinende Formeln, Motive und formale Elemente gibt, die scheinbar bis in unsere Tage leben. Diese Formeln und Motive spiegeln aber eine gegebene Basis wider, und eine eingehende Analyse wird auch nachweisen, daß diese einzelnen Formeln und Motive nach Absterben der alten Basis auf einer neuen Basis weiterdienen und Träger neuer Inhalte werden. Eine der Haupteigenheiten der Volksdichtung ist die dauernde Umwandlung und Veränderung ihrer Elemente. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß die in früheren Zeiten entwickelten Formeln und Motive der Volksdichtung ebenso wie ihre inhaltlichen Elemente sowohl im Feudalismus wie im Kapitalismus zwar eine oft überraschende Verwandtschaft verraten, miteinander jedoch nie ganz übereinstimmen.

Es kann nicht bestritten werden, daß die Volksdichtung eine Überbauerscheinung ist und somit die Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung ebenso von den Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens bestimmt werden wie bei der Kunstdichtung.

Als Überbauerscheinung und ideologisches Medium weist die Literatur einen eigentümlichen Charakter auf. Sie bedient sich künstlerischer Mittel, um uns mit der Wirklichkeit bekannt zu machen und uns anzuregen, diese zu ändern. Dies gilt für die Volksdichtung ebenso wie für die Kunstdichtung.

Die Formenwelt der Literatur und der Volksdichtung weist in ideologischen Belangen Übereinstimmungen auf. Das Material der Kunstform ist in beiden Fällen die Sprache. Ihre Gattungen (Lied, Ballade usw.) sind verwandt, und in vielen Fällen stimmen sie überein; gar nicht zu reden davon, daß viele Kunstdichtungen zu Volksdichtungen werden, sich „folklorisieren“ können und daß die Kunstdichtung ihrerseits in unzähligen Fällen Volksdichtungsformen in literarische verwandelt. Ja, in der sozialistischen Gesellschaft ist der Unterschied zwischen beiden endgültig im Verschwinden begriffen. Die alten Schöpfungen der Volksdichtung verbreiten sich nicht mehr nur mündlich im Kreise des Landvolkes, sondern werden dank der Medien – Buch, Bühne, Radio, Fernsehen – zum Gemeingut des ganzen Volkes, zu Literatur.

Alles dies bedeutet aber nicht, daß es möglich ist, die Volksdichtung historisch zu erforschen, ohne ihren besonderen Charakter in Betracht zu ziehen.

Bei aller Betonung der Einheit von Volksdichtung und Kunstdichtung darf nicht vergessen werden, daß die Volksdichtung bis in unsere Tage in mündlich überlieferten Formen lebt. Schriftlich hat sich nur eine unbedeutend dünne Schicht erhalten. Demgegenüber beruht die Kunstdichtung von allem Anfang an auf der Schrift, der schriftlichen Verbreitung. Daß dies kein bloß formaler Unterschied ist, geht schon {G-505.} aus dem Wort Literatur hervor, das aus dem lateinischen littera = Buchstabe gebildet ist, also den Begriff der Schriftlichkeit in sich trägt, und das gilt für alle Sprachen, auch für die ungarische. Die Literatur war also von Anfang an – oder zumindest sehr bald – bemüht, ihre Erzeugnisse schriftlich zu fixieren – im Gegensatz zur Volksdichtung, die bis zu ihrer im Sozialismus weiterentwickelten Form ganz auf die Kraft des lebendigen Wortes und die Weitergabe durch die mündliche Tradition angewiesen war. Nun weiß man, daß bis in das 18. Jahrhundert das lebendige Wort auch in der Welt der Kunstdichtung stark wirkte. Während aber die Schöpfungen der Volksdichtung bis zum Beginn der bewußten Sammlung ihrer Erzeugnisse kaum je niedergeschrieben wurden, bestand schon bei den frühesten Formen der Kunstdichtung die Absicht, sie niederzuschreiben. Es ist bekannt, daß bereits neben den Sängern der homerischen Dichtung, den Aöden und Rhapsoden, alsbald die ersten Bewahrer und Ausleger erschienen, die Schöpfer der homerischen Philologie, die die Texte in die Literatur einführten.

Eines der auffälligsten Kennzeichen der Volksdichtung ist seit den ältesten Zeiten die Tatsache, daß sie nur innerhalb einer Gemeinschaft existieren kann. Ihr Entstehen und ihr Weiterleben beruhen auf der mündlichen Überlieferung, was aber auch bedeutet, daß sie ständig dem Urteil einer korrigierenden, schöpferischen Gemeinschaft unterworfen ist. Natürlich können Volkslieder auch in der Einsamkeit gesummt oder gesungen werden, im allgemeinen aber entsteht Volksdichtung – von den kleinen mythischen Geschichten bis hin zu dramatischen Schöpfungen – in allen ihren Formen vor den Augen der Gemeinschaft und unter deren schöpferischer Mitwirkung. Das ist die erste Gesetzmäßigkeit, die für die Volksdichtung kennzeichnend ist; ja, es gibt sogar hervorragende Folkloristen, die in diesem einen Kennzeichen den Unterschied zwischen Volksdichtung und Kunstdichtung sehen. So sagt Bartók in seiner Definition des Volksliedes, daß nur das als Volkslied zu betrachten sei, was eine Gemeinschaft sich zu eigen gemacht habe und dauernd am Leben erhalte.

Auch die Kunstdichtung spiegelt die Gemeinschaft, die Klasse und die Nation wider, in der sie entstanden ist. Zwischen den beiden besteht aber dennoch ein Unterschied. In der Kunstdichtung zeigt sich die Wirkung der Gemeinschaft immer nur an der schöpferischen Persönlichkeit, und die gesellschaftliche Wirklichkeit spiegelt sich in deren Werk. Dies erklärt, warum die gleichen gesellschaftlichen Probleme derselben Zeit zum Beispiel von Arany anders ausgedrückt werden als von Petõfi, von Goethe anders als von Schiller. In der Volksdichtung dagegen kann sich die individuelle Absicht und das persönliche Talent nur im Rahmen der von der Gemeinschaft, der Klasse bestimmten Tradition ausdrücken.

Die Gemeinsamkeiten zwischen Kunstdichtung und Volksdichtung und die bestehenden graduellen Unterschiede abwägend, kann also festgestellt werden, daß sich in der Kunstdichtung die Gemeinschaft im Individuum widerspiegelt, und das Gemeinschaftliche sich immer nur durch das Individuum ausdrückt, während es in der Volksdichtung {G-506.} umgekehrt ist. Das persönliche Talent, die individuellen Qualitäten und der individuelle Schöpfungstrieb können sich nur in den traditionellen Formen der Gemeinschaft und mit ihren Mitteln ausdrücken. Diesem Gesetz fügen sich alle unsere weiteren Folgerungen.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht darin, daß die Praktizierung von Volkskunst an bestimmte Gelegenheiten gebunden ist. Die Volksdichtung war, besonders bevor ihre Formenwelt im Kapitalismus in eine Periode der Auflösung trat, streng an Gelegenheiten gebunden. Diese Gebundenheit, den streng bestimmten Platz der dichterischen Zeugnisse im Leben der Gesellschaft findet man heute in der ungarischen Volksdichtung nur mehr selten. Bezeichnend für diese Gebundenheit war, daß Texte gewissen Typs nur bei bestimmten Gelegenheiten und von bestimmten Personen gesungen oder rezitiert werden durften. Eine alte Frau zum Beispiel durfte kein Liebeslied singen, das wäre als unanständig empfunden worden. Béla Bartók und Zoltán Kodály erwähnen wiederholt, daß alte Frauen, die sich sehr wohl an die alten Lieder erinnerten, nicht geneigt waren, Liebeslieder vorzusingen. Dann gibt es Arten von Märchen, die nur von Männern, und andere, die nur von Frauen erzählt werden durften. Ein ähnliches Gebundensein trifft man bei Laienspielen und dramatischen Volksspielen an.

Da Schöpfungen der Volksdichtung mündlich und stets nur innerhalb einer Gemeinschaft überliefert wurden, und auch da in der Regel an bestimmte Gelegenheiten gebunden waren, machten sie zwangsweise dauernd Veränderungen durch. Es wäre undenkbar, daß ein Roman in so vielen Varianten erscheint, wie er Leser findet. Dagegen änderten sich das Volkslied und das Märchen nicht selten je nach dem Charakter und der Zusammensetzung der Gemeinschaft, in der sie vorgetragen wurden. So formt der Märchenerzähler das Märchen oft um und flicht Anspielungen in bezug auf sein Publikum ein, und dieses ist wiederum bei den volkstümlichen dramatischen Spielen geradezu gleichrangiger Mitspieler, indem es die Tradition formt und verändert. In der Kunstdichtung dagegen – unter der Herrschaft der Schriftlichkeit – bemüht sich jeder Autor darum, Einmaliges, Unveränderliches zu schaffen, und besteht auf der Endgültigkeit seiner Fassung. Schon die antiken Autoren verwahrten sich gegen eine Änderung ihrer Werke durch andere. So weiß man zum Beispiel, daß Horaz in seinen Satiren scharfe Angriffe gegen alle richtete, die an seinen Werken Veränderungen vornehmen wollten. Natürlich finden sich auch in der niedergeschriebenen Literatur – sowohl bei den Texten der antiken wie der mittelalterlichen Kodizes – Varianten, doch ist ihre Zahl unbedeutend, verglichen mit der Zahl der Varianten der Volksdichtung. Es könnte fast als ein Kennzeichen der Volksdichtung gelten, daß sie nur in Varianten und Änderungen lebt und daß es in ihr keine „endgültigen“ Formulierungen gibt.

Die neuere Forschung hat festgestellt, daß die frühere mechanisch – evolutionäre Betrachtungsweise auf die Varianten der Volkskunst nicht anwendbar ist. Es trifft nämlich nicht zu, daß die einzelnen {G-507.} Erzeugnisse der Volksdichtung eine „Urform“, einen „Archetyp“ aufweisen, der die erste und zugleich beste Fassung der einzelnen Texte darstellt und daß folglich jede Variante nur eine Verschlechterung der ursprünglichen Fassung bedeuten mußte. Beispielsweise enthalten zahllose Märchen oder Balladen in zeitgenössischen Aufzeichnungen viel lebendiger wirkende Motive als in der Form, in der sie vor mehreren Jahrzehnten aufgezeichnet wurden. Daher darf man die einzelnen Texte nicht vom Blickpunkt der Urform, gleichsam „zeitlos“, betrachten, sondern immer im Zusammenhang mit ihrer Zeit und ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen. Ein Vergleich zwischen den formalen und inhaltlichen Elementen der einzelnen Zeugnisse der Volksdichtung ist ebenfalls nur auf dieser Grundlage möglich, und aufgrund dieser Betrachtungsweise wird es verständlich, daß Neues schöner und wertvoller sein kann als das Alte.

Schon die älteren Volksdichtungsforscher haben gefühlt, wie schwer es ist, mit den Änderungen und Varianten fertig zu werden. Ein ungarischer Musikfolklorist, János Seprõdi, hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgestellt, daß das Leben eines Volksmusiksammlers nicht ausreiche, sämtliche Varianten der Melodien auch nur eines einzigen Dorfes aufzuzeichnen, da jede Melodie sich ständig verändere: Bei jedem neuen Vortrag ändert der Sänger – bewußt oder unbewußt – sein Lied. Zoltán Kodály war es, der bei der Ballade „Weib des Maurers Klemens“ darauf hingewiesen hat, daß sich innerhalb des längeren epischen Gesanges dieselbe Melodie und derselbe Strophenbau während des Vortrags von Strophe zu Strophe veränderten.

Seitdem haben sich immer zahlreichere Forscher mit dem Problem des Verhältnisses zwischen ursprünglicher Gestalt und Variante beschäftigt, mit diesem eigentümlichen Charakterzug der Volksdichtung, die darin besteht, daß sich wiederholende inhaltliche und formale Elemente – Rhythmus, Strophenbau u. a. – während des Vortrags trotz beabsichtigter unveränderter Wiederholung doch irgendwie ändern. Diese Variabilität der Volksdichtung hat große Bedeutung, weil sie den alten, traditionellen Schöpfungen die Möglichkeit bietet, sich mit neuem Gehalt aufzufüllen.

Hinsichtlich der Variantenbildung lassen sich gleichwohl Gesetzmäßigkeiten feststellen. Am stärksten sind Prosatexte, Märchen und andere epische Überlieferungen Veränderungen ausgesetzt, da individuelle Umformung hier am leichtesten durchführbar ist. Man kennt Märchen, die der Erzähler an aufeinanderfolgenden Tagen immer wieder variiert hat. Von den poetischen Gattungen sind hier Balladen und historische Lieder zu nennen. Bei diesen ist das Schwanken zwischen strenger Gebundenheit und freier Variation schon geringer, weil Strophenbau und Melodie den Vortragenden binden und ihm nicht so viel Freiheiten ermöglichen wie die Prosa, wobei aber dennoch Gelegenheit zu freier Umbildung verbleibt. Zwischen den Balladen und der Prosaepik gibt es auch Übergangsformen, wobei gesungene Balladen sich in epische Prosa verwandeln können. Strengstes Gebundensein und damit die verhältnismäßig {G-508.} geringste Möglichkeit zum Variieren besteht bei den kurzen lyrischen Einheiten.

In diesem Zusammenhang soll auch betont werden, daß die Volksdichtung, soweit sie in Reime gefaßte mündliche Überlieferung darstellt, mit Ausnahme einer ganz schmalen Schicht stets mit ihrer Melodie zusammen lebt. Ein Volkslied kann ohne seine Melodie weder verstanden noch richtig interpretiert werden.' Ein bedeutender Teil der mündlich überlieferten Dichtung ist überdies durch den Zusammenklang von Vers, Melodie und Tanz gekennzeichnet. János Erdélyi, der die ungarische Volksdichtung als erster in großen Zügen zusammenfassend beschrieben hat, nannte die Volksballade die „Oper des Volkes“, bei der Gesang und Tanz eine organische Einheit bilden. Darin liegt ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Volksdichtung und Kunstdichtung, ist doch in der Kunstdichtung die Verbindung zwischen Melodie und Text infolge der schriftlich festgehaltenen Verse schon früh mehr oder weniger geschwunden.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß während für die geschriebene Literatur eine ständig wachsende Kompliziertheit der Genres kennzeichnend ist, die Volksdichtung infolge der geringen Zahl der Gattungen, der Wiederholung der Inhalte und Motive und der Einfachheit der Strukturen ihre Schlichtheit bewahrt. Dies zeigt sich auch darin, daß die Erzeugnisse der Volksdichtung im allgemeinen kürzer, weniger umfangreich sind als die der Kunstdichtung, wenngleich es die mündliche Überlieferung in einzelnen Fällen zustande gebracht hat, auch umfangreiche Werke weiterzugeben. Die Erinnerungskraft des Volkes vermag ganz phantastische Leistungen zu vollbringen, doch sind im allgemeinen die Werke der Volksdichtung kürzer und einfacher als die der Kunstdichtung.

Trotz der geringeren Zahl ihrer Gattungen und Themen und bei all ihrer Schlichtheit kann man der Volksdichtung eine gewisse Monumentalität und den Rang großer Dichtung nicht absprechen. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß nur Kompliziertheit, auf Ausschmückung bedachte Langatmigkeit in der Dichtung Größe bedeuten. Gerade in der Volksdichtung findet man zahlreiche Beispiele dafür, daß eine einfache pentatonische Melodie mit einem Volksliedtext von vier Zeilen mit ihrer Gefühlsinnigkeit an die größten Schöpfungen der Kunstlyrik heranreichen kann. Der Hauptgrund dafür liegt darin, daß die Volksdichtung die Gemeinschaft, die sie hervorbringt, in ihrer Gesamtheit widerspiegelt, daß in ihr das Prinzip der ästhetischen Vollständigkeit sowohl in der Form als auch in der Aussage zur Geltung kommt.

Eine der wesentlichsten und meistumstrittenen Fragen der Theorie der Volksdichtung betrifft das Verhältnis zwischen Individualität und Gemeinschaft, das heißt deren Anteil an der Hervorbringung von Volksdichtung. Gleich nachdem das Interesse für Volksdichtung erwacht war, fragte man sich, ob die Schöpfungen der Volksdichtung einzelnen Personen oder einer „mystischen“ namenlosen Gemeinschaft zu verdanken seien. Von Anfang an standen sich zwei Meinungen im Streit gegenüber. Die eine, unter deren Vertretern in erster Linie Herder {G-509.} genannt werden muß, hielt die „nationale Gemeinschaft“ für den Autor der volkstümlichen Dichtung. Nach dieser Auffassung war also die „nationale Gemeinschaft“ und nicht irgendein unbekannter individueller Dichter am Werk. Hegel fügte noch hinzu, daß Erzeugnisse der Volksdichtung unwillkürlich, spontan geschaffen würden – daher ihre Natürlichkeit, ihre Unmittelbarkeit und ihr das ganze Volk ansprechender Charakter. Diese Herdersche und Hegelsche Theorie von der Gemeinschaftsschöpfung behielt ihre Geltung – mit methodischen Änderungen – bis in die jüngste Zeit. Auch Bartók meinte, daß einzelne Personen nicht fähig seien, selbständige Melodien zu schaffen, die Volksdichtung folglich von der Gemeinschaft und deren Tradition geschaffen, bewahrt und weitergestaltet worden sei.

Die Theorie vom „Gemeinschaftsursprung“ der Volksdichtung deckt sich in vielem bedenklich mit dem Standpunkt derer, die den volkstümlichen Ursprung und Charakter der Volksdichtung geradezu leugnen. Da bei den Zeugnissen der Volksdichtung der Dichter aus dem Volk persönlich kaum jemals festzustellen ist, so sei, meinen die Anhänger dieser letzteren Theorie, die ganze Volksdichtung nichts anderes als eine Reihe von Dichterwerken aus den „höheren“ gesellschaftlichen Klassen, die im Kreise des Volkes vereinfacht, verändert und verzerrt und auf diese Weise volkstümlich geworden seien, wobei sie nur durch ihre Primitivität das Gefühl erweckten, daß es sich hier um eine eigene dichterische Welt, eben um die Welt der Volksdichtung, handele.

Die ganze Geschichte der Volksdichtung und das Beispiel bekannter Autoren aus dem Volke beweisen das Gegenteil. Natürlich darf nicht vergessen werden, daß die individuellen Züge einer Dichtung in der Volksdichtung nicht so klar zum Ausdruck kommen wie in der Welt der Kunstdichtung. Selbst der fähigste Märchenerzähler oder Sänger hört seit seiner Kindheit, von Jahr zu Jahr, in zahllosen Varianten immer nur dieselben Märchen, die schon die Märchenerzähler der vorangegangenen Generation erzählt haben. Wenn er also zu erzählen beginnt, so lebt in ihm die Überlieferung, und er versucht höchstens, innerhalb des überlieferten dichterischen Materials seine eigene Persönlichkeit, seine Lebenserfahrungen und seine Sehnsüchte in seinen Vortrag einzuflechten. Innerhalb der übernommenen Tradition offenbart sich die schöpferische Persönlichkeit, und so kann sogar nachgewiesen werden, daß unter ihrem Einfluß neue Typen und neue Formen entstehen, die dann aufgrund des Erbes eines bedeutenden Sängers oder Märchenerzählers wieder zu neuen Mustern von Gemeinschaftsschöpfungen werden können. So kann man gewisse Typen von Volksmärchenerzählern sehr wohl unterscheiden.

Da sind zunächst diejenigen, die an der wortgetreuen Weitergabe festhalten. Sie halten sich an die Bindungen, die von der Tradition ausgehen, und haben gar nicht die Absicht, davon abzuweichen. Viele Märchenerzähler sagen, so hätten sie es von ihrem Vater oder Großvater gehört, das sei die Art des Märchenerzählens gewesen, und davon wollten sie nicht abweichen. Sie änderten kein Wort, denn – wie sie sagen – wenn sie etwas änderten, verlöre das Märchen seinen Sinn.

{G-510.} Ein anderer Erzählertyp hingegen sagt, wer zehn Märchen kenne, könne aus diesen, „wenn er sich darauf versteht, bis zu hundert neue schaffen“. Solch ein Märchenerzähler fühlt sich als Neuschöpfer der Tradition, kann also sogar als ein Typ des „Märchendichters“ betrachtet werden. Innerhalb dieses allgemeinen Typs kann man besondere unterscheiden. Ein hervorragender sowjetischer Folklorist, Mark Asadowski, berichtet über eine sibirische Märchenerzählerin, die ihre Märchen ständig vereinfachte. Lange und umfangreiche Märchen wandelte sie in kurze, epigrammatische Geschichten um, in die sie ihre eigenen Erfahrungen, ihren Schmerz, ihre Weisheit einflocht und so richtige kleine Meisterwerke schuf. Der Gegensatz dazu ist der Märchenerzähler, der den Stoff ausspinnt, wie der bekannte ungarische Märchenerzähler Mihály Fedics, der in seine Märchen oft Details eines anderen Märchens einflicht, wie es ihm gerade einfällt. Dabei kümmert er sich nicht um die Dreiteilung des Märchens, vermischt Altes mit Neuem, ergänzt seine Erzählung durch Scherze und improvisiert den Ansprüchen seines Publikums entsprechend.

Ein neuerer Typ Märchenerzähler erklärt und interpretiert die Märchen, versucht sie in nüchterne Formen zu fassen und in die Wirklichkeit zu versetzen. Dieser Typ vereinfacht und engt das Weltbild des Märchens oft ein. Es gibt dann wiederum Märchenerzähler, die ihre Themen mit geschichtlichen Ereignissen in Zusammenhang zu bringen versuchen. Ihrem Gefühl nach ist die ganze Einstellung und der Geist der alten Märchen mit der realen Welt, wie sie sie kennen, unvereinbar; trotzdem aber empfinden sie den Zwang der Tradition, für den eine Erklärung gefunden werden muß. Man könnte noch weitere Typen von Erzählern anführen, doch sind die eben erwähnten die wichtigsten.

Endlich soll noch auf einen Wesenszug der Volksdichtung hingewiesen werden, der ebenfalls einen graduellen Unterschied zwischen Volksdichtung und Kunstdichtung darstellt: Bei den Zuhörern der Volksdichtung ist die Bereitschaft, das Gehörte zu glauben, sich in seine Welt einzuleben, viel größer als bei den Lesern der Kunstdichtung. Jedermann weiß, daß ein Werk nicht wirklich erlebt und in sich aufgenommen werden kann, wenn man sich die eigentümliche, besondere Wahrheit, die der Dichter uns in seinem Werke darbietet, nicht zu eigen macht. Bei den „Gebildeten“ ist aber die Bereitschaft zu glauben, sich einzuleben, viel geringer als beim Publikum der Volksdichtung. Bei den volkstümlichen Schauspielen und den Schöpfungen der Märchenerzähler ist der Wahrheitsanspruch der Aussage eine viel größere als in der Kunstdichtung.

Dasselbe gilt für die Bewußtheit, die sich im dichterischen Werk zeigt. Der Kunstdichter verfaßt sein Werk unter dem Einfluß künstlerischer Inspiration, aber bewußt. In der Volksdichtung bleibt das bewußt ordnende Prinzip weit hinter der instinktiven Schöpfungskraft zurück. Aber die romantische Theorie, daß es in der Volksdichtung nur instinktive, gemeinschaftliche Schöpfungen gebe, kann nicht einmal als Grundsatz akzeptiert werden, da die Volksdichtung innerhalb der erwähnten Beschränkungen unbedingt auch Züge bewußten Schaffens aufweist. Hinter allen Formen kunstdichterischer Schöpfungen {G-511.} steht aber das stolze Bewußtsein des Autors, das „exegi momentum“ des Horaz, das mit Anspruch auf Ewigkeitsgeltung über die Zeitspanne des eigenen Lebens hinausblickt. Die Volksdichtung wiederum ist durch „kollektive Bescheidenheit“ gekennzeichnet – um Goethes Worte zu gebrauchen –, das heißt, an die Schöpfungen der Volksdichtung knüpft sich kein Autorenbewußtsein, kein Anspruch auf Unsterblichkeit.