Volksdichtung in Versen. Das Volkslied


Inhaltsverzeichnis

In der Januarnummer des in Preßburg erscheinenden Magyar Hirmondó (Ungarischer Herold) vom Jahre 1782 stand für die interessierten Landeskinder folgendes zu lesen: ,,… Es ist bekannt, mit welchem großen Eifer die Engländer und die Franzosen nicht nur die alten Gedichte und Gesänge ihrer eigenen Vorfahren sammeln, sondern auch die der fernen Völker. Nicht weniger bekannt sind die ähnlichen Bemühungen der Italiener. Brauche ich die der Deutschen überhaupt zu erwähnen? Wo doch jedermann, der ihre namhafteren Bücher las, des öfteren wahrnehmen mußte, welch großen Wert sie den alten deutschen Liedern historischen, märchenhaften und ähnlichen Inhalts beimessen. Wer weiß es nicht, wie sie sich auf die alten Gedichte stürzen, die das gemeine Volk im Munde führt und die sie Volkslieder nennen. Und diese begannen sie vornehmlich von der Zeit an aufzulesen und zum Besten zu verwenden, seitdem sie ihre eigene Sprache und in dieser die löblichen Wissenschaften mit Eifer pflegen.“

Damit begann – in Verbindung mit dem Lob der nationalen Sprache und der alten literarischen Schöpfungen – der erste, das ganze Land zum Sammeln der ungarischen Volksdichtung aneifernde Aufruf. Einige von mehr oder weniger Bewußtheit zeugende Handlungen, das gelegentliche Abschreiben handschriftlicher Sammlungen, waren dem vorangegangen; der eben zitierte Aufruf sah zum erstenmal die Erforschung der Nationalsprache, der nationalen Literatur und der Volksdichtung als eine unzertrennliche Einheit an. Das Verdienst hierfür gebührt dem Sprachwissenschaftler Miklós Révai. Er lebte in Wien und beobachtete von dort aus, was im Westen für die Entdeckung und Pflege der Volksdichtung geschah. Révai plante eine große Sammlung, die die alte ungarische Dichtung, die gesungenen Lieder und die Volksdichtung, die die Eigentümlichkeiten der einzelnen Dialekte widerspiegeln sollte. Von einer solchen Sammlung erhoffte er sich ein gutes Mittel zum Studium der ungarischen Sprache. Ráth setzte sich für dieses Vorhaben ein, und regte mit Hinweis auf die große Bedeutung, die der Volksdichtung in Europa beigemessen wird, zum Sammeln der ungarischen an. Und wenn auch mit einiger Verspätung wurde damit tatsächlich begonnen.

Daß man so wenig von der Geschichte des ungarischen Volksliedes weiß, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Kirchen jahrhundertelang das Singen des Volkes verfolgt haben. Lange Zeit hört man nur scharfe Urteile, Ablehnung und Anklage gegen das Volkslied und das Liebeslied. Im Beichtspiegel von Miklós Telegdi aus dem Jahre 1583 wird die Frage gestellt: „Hast du Blumen- (Liebes-) Lieder gesungen oder solchen zugehört, in denen von körperlicher Liebe und wohllüstigen {G-512.} Dingen die Rede war?“ Wie viele Volkslieder so in Vergessenheit geraten sind, kann schon an dieser einen Frage ermessen werden. Ob es sich um Katholiken oder um Protestanten handelte – bei beiden galt das Anhören solcher Lieder als schwere Sünde. Der reformierte Prediger Péter Bornemisza beklagt sich im Jahre 1578: „Alle Ohren verlangen nur noch nach eitler Unterhaltung… nach Blumen- und Liebesliedern… “ Erzbischof Péter Pázmány, die große Führergestalt der ungarischen Gegenreformation, spricht von „abscheulichen Blumenliedern“. Der Cantus Catholici weist im Jahre 1679 auf die Gefahren der kirchlichen Volksgesänge in ungarischer Sprache hin und erklärt: „Den größeren Teil der Gläubigen hat die Verlockung des Gesanges dem Heiligen Stuhl in Rom entfremdet.“ Doch auch noch in der jüngsten Vergangenheit gab es puritanische reformierte Dorfgemeinden, in deren streng abgeschlossener Ordnung sich dem Lied gegenüber fast unverändert der Abscheu der alten Prediger zeigte.

Und doch breitet sich bei dem Begriff ungarisches Volkslied plötzlich die ganze ungarische Vergangenheit vor uns aus. Ebendeshalb kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß das Volkslied ständiger Begleiter der ungarischen nationalen Geschichte ist. Man weiß, daß in den ungarischen Totenklageliedern und in vielen Kinderliedern die mehrtausendjährige Vergangenheit weiterlebt und daß aus ihnen Musikfolkloristen die Weisen und den Tonfall der Ungarn bis zur Landnahmezeit und noch weiter zurück herauszuhören meinen. Schon in der Legende vom Bischof St. Gerhardus (Gellért; 10. Jahrhundert) wird ein Fronbauernmädchen erwähnt, das beim Mahlen ihr Arbeitslied singt. Man weiß auch, daß in den Scharen György Dózsas (16. Jahrhundert) volkstümliche Kriegslieder gesungen wurden, von denen sich jede Spur verloren hat. Um auf der Flucht aus der Gefangenschaft sein Inkognito zu wahren, hat Rákóczi ein Volkslied gesummt, und während seines Freiheitskampfes blühte die Volksdichtung der Kurutzen (der Aufständischen) auf. Die Kämpfe Lajos Kossuths, des Anführers des ungarischen Freiheitskampfes 1848/49, inspirierten nicht nur Petõfi zu Kriegsliedern, sondern auch das Volk erfand und sang von Sehnsucht und Hoffnung erfüllte Kampflieder. Deswegen meinten Béla Bartók und Zoltán Kodály ebenso wie Ady um die Jahrhundertwende, das Volkslied und die Volksmusik seien stets scharfe Waffen der Opposition gewesen, und Attila József nahm aus dem gleichen Grunde Einfälle und Wendungen der Volkslieder in seine Gedichte auf.

Abgesehen von einigen verstreuten Bemerkungen, begann man erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, das ungarische Volkslied zu entdecken. Csokonai schreibt schon: „Steigen wir zur unwissenden, einfachen bäuerlichen Gemeinde ab, dann würden wir nicht so vielem unrichtigem Tonfall begegnen.“ Nach ihm schrieb Kölcsey: „Den Funken der wahren nationalen Poesie muß man in den Liedern des einfachen Volkes suchen“, und János Erdélyi sagte, das Leben und die Dichtung des Volkes seien das Meer, in das der Dichter eintauchen müsse, um sich darin zu verjüngen. Kriza geht noch weiter, indem er sogar zu wissen glaubt, daß der Kern der Volkslieder und der Volksdichtung im Kreise des „niederen Volkes“, also unter den Landarbeitern, zu suchen sei. {G-513.} Solche Hinweise waren der Tat Petõfis vorangegangen, der den Triumph des Volkslieds in der ungarischen Dichtkunst durchsetzte.

Es ist zu bedauern, daß wir Ungarn in der Volksliedforschung noch ganz am Anfang stehen. Bartók und Kodály haben zwar den größten Teil ihrer Aufgabe durch die Ermittlung der Grundtypen der Volkslieder erfüllt, ebenso Bencze Szabolcsi durch die Erforschung der Melodiengeschichte, doch gibt es keine so vollständige Untersuchung des anderen wichtigen Teilgebietes, der Texte, und auch noch viel Unentdecktes, Verstoßenes wartet auf Aufzeichnung und Veröffentlichung. Die große Aufgabe unserer Generation ist es also, die in den Volksliedern zum Ausdruck kommende fortschrittliche Tradition, ihren Ideengehalt und Formenreichtum in allen Einzelheiten zu erschließen. Auf den folgenden Seiten kann höchstens andeutungsweise eine Skizze der wichtigsten Momente gegeben werden. Auf diesem Gebiet verdanken wir die ersten bedeutenden Untersuchungen Imre Katona, der uns mit seinen prosodischen, statistischen, die Formeln analysierenden sowie die Kategorien der Gattung bestimmenden Arbeiten zu Hilfe kam.

Zunächst soll von einigen Schwierigkeiten gesprochen werden. Die Abgrenzungen der Kunstgattungen, wie die klassische Ästhetik sie kennt, können nicht auf die Volksdichtung angewendet werden, in der man einer Vielfalt von inhaltlichen und formalen Übergängen zwfischen den Genres begegnet. Solcher Übergänge gibt es viele, auch innerhalb des Volksliedes. Als die hauptsächlichsten Typen des Volksliedes sind die lyrischen Liebeslieder, klagenden und heiteren lyrischen Lieder, Arbeitslieder, Soldaten- und Räuber- (Betyáren-) Lieder, Schäferlieder, Spottverse und Übergangsformen wie Tanzlieder, Mädchen- und Burschenlieder zu nennen. Bei der großen Vielfalt der Typen wäre es selbst bei einem einzigen Dichter schwer, den Grundton und die einheitliche, endgültige Aussage herauszufinden, die er uns in seiner Dichtung vermitteln will. Wie soll dies beim Volkslied geschehen, diesem dichterischen Erzeugnis der ungarischen Jahrhunderte, der Bitterkeit und der Hoffnung unterdrückter Fronbauern und Landarbeiter, der Klage und des Frohsinns, der lyrischen Einfälle, der rhythmischen Verspieltheit namenloser Dichter und der jahrhundertelang dauernd formenden, umformenden und tradierenden Kraft eines namenlosen Publikums? Das Volkslied birgt alle die 'Einflüsse, die das Volk selbst erfahren, aufgearbeitet und nach seiner eigenen Zunge geformt hat. Alles dies ist ein umfassender Vorgang, dessen einheitliche Charakterzüge, letzter Sinngehalt und formale Ordnungsprinzipien leicht in einigen verallgemeinernden Formeln und schön klingenden Ausdrücken wiederzugeben wären; sie aber richtig zu erfassen, ist sehr schwer. Das Volkslied ist ein riesiges Sammelbecken von Inhalten, Kunstgattungen und dichterischen Formen.

Hinsichtlich der Übergänge zwischen den Gattungen lohnt es sich auch noch darauf hinzuweisen, daß das Volkslied – wie im allgemeinen die ganze Volksdichtung – einer feinen Äderung gleich von ähnlichen Formeln und oft verwandten Momenten durchdrungen ist. In weitem Kreise bekannt ist zum Beispiel das antiklerikale Schwankmärchen, dessen leidender Held meist der Geistliche, manchmal der Kantor oder {G-514.} der Lehrer ist, der sich aus Furcht vor dem Ehemann in einer Truhe oder im Ofen versteckt und dessen verführerische, ehebrecherische Anträge der geschickte Knecht aufdeckt. Eine liedartige Variante dieses Themas ist auch aufgezeichnet worden:

Vom roten Krug ein Gläschen noch!
Herr Rektor kroch ins Ofenloch.
Ei, kommen Sie, Herr Rektor, raus,
Mein Mann ist ja nicht mehr Zu Haus.

Dieses Lied ist auch jetzt noch in mehreren Varianten bekannt.

Beim Durchblättern der Volksdichtungssammlungen breitet sich in erster Linie das ganze bäuerliche Leben vor uns aus. Schon aufgrund der Volkslieder könnte man ein zusammenfassendes Tableau des ungarischen Bauernschicksals mit seiner festen Ordnung, seinen Arbeitsnormen, seinen wenigen Freuden und vielen Leiden entwerfen, den bitteren Haß der Ausgebeuteten gegen die Herren schildern, die Not des arbeitenden Volkes, das trotz allen revolutionären Aufbegehrens und blutiger Aufstände sein eigenes Schicksal lange nicht in die Hand nehmen konnte. Die Geschichte der Bauernschaft, die ihr auferlegten Beschränkungen, die Unfreiheit, der Alltag, alles das ist in diesen Volksliedern enthalten. Wie klar spricht zum Beispiel das folgende Volkslied über das einstige Schicksal des ungarischen Volkes:

Pflügen möcht ich unsres Kaisers Weizenfeld,
Säen hinein den Kummer, der uns bitter quält.
Soll erfahren unsres Kaisers Majestät,
Was der arme Ungar so sehr brauchen tät.
 
Leid und Kummer sind des Ungarn täglich Brot,
Denn im ganzen Leben kennt er nur die Not.
Segne Gott den Kaiser heut und alle Tag,
Daß er nur sein Ungarvolk nicht länger plag’.

Das Lied dürfte im 19. Jahrhundert entstanden sein, kann so aber auch als Motto für jahrhundertelange Unterdrückung durch die Habsburger dienen. In seinem düsteren Ton drücken sich Demut in Ketten, Bitterkeit und Verlassenheit der Fronbauern und die Hoffnungslosigkeit nach unterdrückten Erhebungen aus. Oft auch schlägt die Bitternis für empfängliche Ohren im Liebeslied durch, wie zum Beispiel in diesem:

Es regnet Tropf, Tropf, Tropf
Auf meines Liebsten Kopf.
Der Hut der Herren wird nicht bespritzt,
Auch des nicht, der im Kerker sitzt.

Es würde sich lohnen, die verborgenen Anspielungen dieses Liedes zu analysieren: zunächst die bekannte Anfangsformel des Kossuth-Liedes (in der freien deutschen Übersetzung nicht nachweisbar), die in ihre Paläste zurückgezogenen Herren und das Bild der in den Kerkern schmachtenden Sträflinge. Dazwischen ist mehr oder weniger aus gesprochen auch die Gestalt des auf dem Feld arbeitenden Landarbeiters zugegen – das alles in eine Liebesliedformel, der ganze Feudalismus {G-515.} in vier Zeilen eingefangen! Es ist auch lehrreich zu beobachten, wie der Ton eines zum Volk gelangten oder im Volk entstandenen politischen Wahlwerbeliedes vom Volk geformt wird.

Kein Balken hält den Dachstuhl fest,
Kein Storch wagt drauf zu bauen sein Nest.
Die Steuerlast, sie wiegt so schwer,
Die Sparren halten sie nicht mehr.
 
Der Schulze kommt gar streng herbei,
Die Tränen sind ihm einerlei.
Er nimmt das Hemd, das Holz zum Heizen,
Er nimmt den letzten Scheffel Weizen.
 
Franz Joseph hat es schon gesagt,
Ich will, daß ihr den Ungarn plagt.
Ist ein Gewand für drei zu teuer?
Mir zahlen sie trotzdem die Steuer.
 
Das ist nun mal das Los der Armen,
Mit ihnen hat kein Mensch Erbarmen.
Das Leid beginnt am ersten Tag,
Und erst im Grab versiegt die Plag.

Diese und ähnliche politische Werbelieder kommen unter den Volksliedern in zahlreichen Varianten vor und enthalten auch Formeln, die an die alten Historiengesänge erinnern. Klagen heimatloser Flüchtlinge, Haß gegen die österreichischen Steuereinnehmer, Wahlwerbelieder aus dem Jahre 1848 und Tanzlieder verflechten sich in diesen Formeln, und – was noch entscheidender ist – sie spiegeln stets die Lage der arbeitenden Bauernklasse wider.

Eine eigene Studie würde es erfordern, nachzuweisen, wie die Wahlsprüche der geschichtlichen Kämpfe und der Klassenkämpfe des ungarischen Volkes in den Volksliedern, Gleichnissen und verschleiernden Formeln widerhallen. Auch würde es sich lohnen aufzuzeigen, wie sich die genaue Schichtung der Bauernklasse, die feinen Unterschiede zwischen den Großbauern, den ihr kleines Stück Land mühsam bearbeitenden Kleinbauern und den Kätnern ohne Land, ferner wie die Unterschiede zwischen Landarbeitern, Erdarbeitern und Hirten und der Entfremdung der in der Stadt Arbeit suchenden Burschen oder Mädchen von der ländlichen Umgebung, in Volksliedern niederschlägt.

Es kann gesagt werden, daß alle die historischen und sozialen Kämpfe der ungarischen Bauernschaft, ihre tägliche Arbeit, ihre Freuden und Leiden lückenlos in den Volksliedern enthalten sind. Zum Nachweis müßte man sie alle anführen.

Das gesamte Volksliedgut enthält nicht nur inhaltlich die ganze Vergangenheit und Gegenwart des ländlichen, bäuerlichen Lebens – die tägliche Müh und Not, die Liebesfreuden, Aufsässigkeiten usw. –, der Inhalt widerspiegelt sich auch im Stil. Leider besitzen wir noch keine genaue historische Stilistik des ungarischen Volksliedes. Es kann aber getrost behauptet werden, daß sich alle Stiltendenzen der Feudalzeit {G-516.} auch in den Volksliedern finden, und zwar bis ins 19. Jahrhundert, bis zum Anbruch einer neuen Periode des Volksliedes mit einheitlicher, eindeutig bäuerlicher Tongebung. Diese neuen Volkslieder machen den größten Teil des aufgearbeiteten und veröffentlichten Liedguts aus, da die zielstrebige Sammlung eben in dieser Periode begonnen hat. Es fällt auf, daß im Zeitalter des um nationale Märkte und um eine nationale Sprache bemühten frühen Kapitalismus von einer ganz eigenartigen Blüte der ungarischen Volkslieder und ihrer Melodik gesprochen werden kann. Damals hat sich der neue Stil der volkstümlichen Melodien entwickelt, wie dies Bartók und Kodály festgestellt haben. Die bis dahin einheitlichen Formeln und die Ausdrucksweise der alten ungarischen Volksliedtexte zeigen Tendenzen zur Entwicklung eines neuen Stils. Es kann von einer wahren Renaissance des Volksliedes gesprochen werden. Um dieselbe Zeit werden die ungarischen Volkstrachten ebenso wie die volkstümlichen Ornamente reicher und farbiger. Es scheint fast, als ob die Bauernschaft während der Frühzeit des Kapitalismus einen Augenblick lang geglaubt hätte, die Zeit ihrer Befreiung sei gekommen, nur um dann eine um so bitterere Enttäuschung zu erleben.

Betrachten wir nun kurz die Formprobleme des Volksliedes der Reihe nach. Text und Melodie sind anfangs unzertrennlich. In sehr vielen Fällen ist der Text auch nicht von Tanz oder rhythmischer Bewegung zu trennen. Diese Gesetzmäßigkeit kann auch bei einzelnen Gruppen der ungarischen Balladendichtung wahrgenommen werden. Seit dem 19. Jahrhundert ist es dagegen eine regelmäßige Erscheinung, daß im Volkslied Melodie und Text auswechselbar sind, welche Gesetzmäßigkeiten dabei wirken, ist jedoch noch nicht genügend erforscht.

Die Frage der Verse und Strophenformen des ungarischen Volksliedes ist sehr verwickelt. Wir müssen uns mit einem bloßen Hinweis auf ihre Problematik hier begnügen. Auf bereits gelöste Probleme wollen wir nicht zurückgreifen. Einer Auffassung nach ist der Tanzrhythmus das älteste Element der ungarischen Verse, die unter dem zusätzlichen Einfluß von Melodie und Inhalt ihre Ausprägung erhalten; einer anderen Theorie nach ist es die Struktur der Sprache selbst – der Tonfall und die Betonung des Ungarischen, der Wechsel von langen und kurzen Silben –, die den Rhythmus des ungarischen Verses bestimmt. Kodály hat darauf hingewiesen, daß die Versstruktur nicht unabhängig von der Melodie untersucht werden kann.

Es wird allgemein angenommen, daß der ungarische Vers ursprünglich ein zweitaktiges, akzentuierendes Gebilde war, dessen älteste Form der „alte Achter“ (achtsilbige Zeile) bildete, aus der sich die drei- bis viertaktigen Volkslieder entwickelt haben, die die Grundelemente der ungarischen Versstruktur ergeben. Das Kalewala ist auf der Achtsilbenstruktur aufgebaut, und ungefähr 70 Prozent der ungarischen Volkslieder sind in dieser Form entstanden.

Wie Kodály festgestellt hat, besteht die Grundform der ungarischen Strophe aus vier achtsilbigen Zeilen. Jede Erweiterung oder Verkürzung ergibt sich aus dieser Grundform. Ebenfalls Kodály hat darauf hingewiesen, daß die ungarischen Volkslieder im allgemeinen einstrophig {G-517.} sind und daß die inhaltliche Ergänzung der einzigen Strophe ein Ergebnis späterer Entwicklung ist. Die Strophenstruktur der epischen Dichtung bleibt hierbei unberücksichtigt.

Außer von den inhaltlichen und den formalen Elementen muß von der Ausdrucksweise, von gewissen strukturellen Zügen der inneren Form gesprochen werden, die von der Aussage untrennbar sind und unmißverständlich verraten, daß sie durch den Inhalt bestimmt sind. Zwei solche ziemlich allgemeingültigen Züge der ungarischen Volksdichtung sollen hervorgehoben werden: ihre realistische, sich an der Wirklichkeit orientierende Darstellungsweise und ihre Dramatik, der dramatische Aufbau, der sich in allen Gattungen der ungarischen Volksdichtung offenbart.

Wenn in der ästhetischen Literatur von Realismus gesprochen wird, so ist es berechtigt, eigens auch vom volkstümlichen Realismus, richtiger: vom Realismus der Volksdichtung zu sprechen. Dieser Realismus ist kein ausschließlich ungarischer Charakterzug der Volksdichtung, aber gerade weil er in unserem Fall sinnfällig die wahre Welt des ungarischen Bauern ausdrückt, ist er doch ein differenzierender, eigenartiger Faktor in der ungarischen Volksdichtung.

Neuerdings kommt es vor, daß namhafte ungarische Dichter vom „Surrealismus“ der ungarischen Volksdichtung sprechen – eine interessante Behauptung. Zweifellos tauchen schon bei den frühesten dichterischen Formen spielerische, groteske Elemente auf: sinnlose Wörter, spielerische Mischungen von reinen Klangeffekten, übertriebene Vergleiche, schreckhafte, Heiterkeit erregende Beiwörter und Zeitwörter. Das gleiche findet sich auch in der ungarischen Volksdichtung. Mit Vorliebe bedienen sich solcher Mittel die Lügenmärchen, die Scherz- und Spottlieder, bei denen Übertreibung, Karikierung, das von vornherein Unglaubliche und Groteske zum Wesen gehören. Solche Elemente finden sich in oft unübersetzbaren Idiomen und Verspieltheiten – man kann sagen – jeder Sprache. Es genügt, auf ungarische Attribute hinzuweisen wie zum Beispiel die Wendungen tûzrõl pattant menyecske (wörtlich: eine aus dem Feuer gesprungene junge Frau) oder hamvába holt legény (wörtlich: in seiner Asche hingewordener Bursche – sinngemäß: – [lebensuntüchtiger]), die zwar von ihrem folkloristischen Hintergrund her analysiert werden können, aber vor allem von der originellen Treffsicherheit der Sprache zeugen. Muß man das Surrealismus nennen?

Die lyrischen Symbole der ungarischen Volkslieder hat man gerne als Teile mystischer Systeme gedeutet, und die Vertreter dieser ausgeklügelten Anschauung ließen sich dann zu verschiedenen bald ungeschichtlichen, bald idealistischen, bald psychologistischen Erklärungen hinreißen. So wurde vorausgesetzt, daß die in den Volksliedern oft erwähnte gelbe Farbe ehemals als Farbe der Trauer galt. Die Erklärung ist jedoch viel einfacher. In den ungarischen Volksliedern werden Kasernen, Komitatsresidenzen und Kerker oft mit diesem Beiwort versehen, weil im ganzen Lande diese ungeliebten Gebäude schon seit dem 18. Jahrhundert tatsächlich mit dem sogenannten „Kaisergelb“ oder „Maria-Theresia-Gelb“ angestrichen waren. Ebenso natürlich ist es, wenn in den ungarischen Soldatenliedern die Habsburger {G-518.} Farben Schwarz-Gelb zur Bezeichnung trauriger Seelenstimmungen wurden. Hier handelt es sich um kein psychologisches Rätsel, nicht um irgendein uraltes, symbolisches Farbenschema, sondern einfach um die Farbe der verhaßten Unterdrückung und das Schwarz der Trauer zugleich, die in der Verbindung Schwarz-Gelb noch stärker zum Ausdruck kommt. Man könnte übrigens auch Volkslieder anführen, in denen das Gelb Heiterkeit und Liebesstimmung widerspiegelt, nicht Trennung, Trauer oder Tod. Die ungarischen Volkslieder entnehmen ihre Vergleiche und ihre Naturbilder dem alltäglichen Leben.

Die Farbensymbolik ist nicht nur in den einzelnen Gegenden und Landschaften verschieden, sondern kann selbst am gleichen Ort im Laufe der geschichtlichen Perioden jeweils andere Bedeutung annehmen. Bleiben wir beim vorhin erwähnten Gelb, das gegebenenfalls Vergänglichkeit, Trauer und Kummer ausdrücken kann, wobei auch dies auf einer realen Grundlage beruht: Der Kranke und der Tote haben gelbe Farbe:

Lieben konntest du mich nicht,
Gelber Tod sitz nun Gericht.
Nehm dich unter seine Flügel,
Deck dich zu des Grabes Hügel.

Andere Male bedeutet das Gelb wieder die Liebe, was in vielen Fällen auch in der Volkstracht nachgewiesen werden kann:

Rote Äpfel pflegt man aufzuschneiden,
Brauner Bursch, ich will dich nicht verleiten.
Liebst du mich, dann steht mein gelbes Bett bereit,
Darin in der Mitte liegen wir zu zweit.

In diesem Fall kommt auch dem Apfel eine besondere Bedeutung zu. Es gab Orte, an denen der Bursche seinem Mädchen als Brautwerbung einen Apfel sandte; bekam er den Apfel entzweigeschnitten zurück, so galt die Werbung als angenommen.

Alles dies zeigt, daß man bei der Erforschung der Symbolik und ihrer Geschichte sehr behutsam vorgehen muß und erst nach sorgfältiger Sichtung eines reichen Materials Schlüsse ziehen darf.

Ebenso steht es mit den Blumenmotiven, die seit den ältesten Zeiten unerläßliche Bestandteile der ungarischen Volkslieder sind, so daß diese auch Blumenlieder genannt wurden. In den historischen Liedern versinnbildlichte die Blume im allgemeinen den Geliebten oder die Geliebte. In den Liedern der neueren Zeit kommen am häufigsten Rose, Nelke, Veilchen und Rosmarin vor, alles Blumen, die in den Schloßgärten des Mittelalters gezüchtet wurden. Vielleicht gelangten sie von dort in die kleinen Gärten vor den Häusern der Bauern, die von den Mädchen betreut wurden, so daß diese leicht mit den dort blühenden Blumen gleichgesetzt werden konnten:

Welke, Welke, Röselein
Lang schon bist du nicht mehr mein;
Als du noch die meine warst,
Eine rote Ros’ du warst.
 
{G-519.} Seht euch meine beiden Töchter an:
Diese nennt man Nelke, jene Majoran.
Nelke spricht zu Majoran: o weh,
Mein Geliebter muß zu der Armee.

Schon diese wenigen Beispiele zeigen, daß sich in der ungarischen Volksdichtung und im besonderen im Volkslied ein differenziertes Symbolsystem entwickelt hat, das jedoch in seinem Inhalt und seiner Form dauernden Änderungen unterworfen war, eben weil es die Umwelt widerspiegelte und sich neuen Umständen anpaßte.

Aus den verschiedenen Gruppen des ungarischen Volksliedes und der ungarischen Volksballaden kann man ein genaues Bild des bäuerlichen Lebens, der bäuerlichen Arbeit und Gesellschaft rekonstruieren und die ganze lebende und gegenständliche Welt kennenlernen, die die Bauernschaft umgab. Viele Vergleiche und Wendungen in den ungarischen Volksliedern sind nur dann verständlich, wenn man die Bräuche oder alltäglichen Tätigkeiten kennt, auf welche das Lied anspielt. Die Volksdichtung hat sich also nicht nur in das alltägliche Leben der Bauernschaft eingefügt, sie spiegelt nicht nur ihre wesentlichsten Gedanken, ihr Verhalten und ihre Gefühle wider, sondern schöpft auch ihre Beiwörter, Vergleiche und Metonymien aus dem Leben des Bauern. In jeder beliebigen Schöpfung der Volksdichtung findet man oft auch die feinsten Gefühlsregungen durch Symbole des täglichen Lebens ausgedrückt.

Wie wirklichkeitsnah sind zum Beispiel die wenigen Zeilen des folgenden Volksliedes, und doch erwecken sie ein Gefühl der Unendlichkeit:

Sitzen am Theißufer unter einer Weide
Mädchen und der Bursche, braunhaarig sind beide.
Aug des Burschen folgt dem Spiel der Welle,
Mädchen sieht nur seines Sternes Helle.

So erweitert sich der Horizont der Volksdichtung bis zu den Sternen, aber alles, was diese Unendlichkeit umfaßt, Gefühle, Gedanken, das ganze Leben, alles wird mit den dichterischen Mitteln der wahrgenommenen, erkannten, unmittelbaren Wirklichkeit ausgedrückt. In dieser Art Dichtung erscheint auch das Symbol in der Sprache der Wirklichkeit, es ist in der Wirklichkeit verankert, und gerade dies ist das Geheimnis seiner monumentalen Einfachheit, inneren Glaubwürdigkeit und reinen Stärke.

Gerade an diesem tiefen Gefühl für die Realität und an diesem volkstümlichen Realismus des Ausdrucks liegt es nicht zuletzt, daß die ungarische Volksdichtung im Gebrauch äußerlicher dichterischer Mittel ausgesprochen sparsam ist. Beiwörter werden wenig gebraucht, und schon gar nicht gehäuft. Zur Darstellung und Charakterisierung werden nicht Beiwörter, sondern sinnfällige Bilder und sehr weitgehend Modi und Vorsilben der Verben benutzt. Es braucht kaum bewiesen zu werden, daß diese Art der Darstellung gedrungener und wirklichkeitsnäher ist. Die ungarische Volksdichtung gebraucht nur einige ständige, für Gegenstand und Erscheinung wirklich kennzeichnende Beiwörter, und beim aufmerksamen Lesen der ungarischen lyrischen {G-520.} Volkslieder ist man erstaunt über die enthaltsame, fast schamhafte Einfachheit der Ausdrucksmittel. Die Darstellung in der ungarischen Volksdichtung vollzieht sich in einer Folge von klar gezeichneten Bildern und kurzen Folgen von Handlungen und Szenen, selbst in den am ätherischsten wirkenden Liedern. Wohl aber taucht das Beiwort immer dort auf, wo die groteske und besondere Wirkung es erfordert.

Diese realistische Methode des Ausdrucks und der Darstellung in der Volksdichtung hängt sicherlich eng mit einem anderen ihrer wesentlichen Züge, der dramatischen Konstruktion, der Gedrungenheit und knappen Charakterisierung, zusammen. Es kann nicht behauptet werden, daß diese Dramatik ein besonderer Charakterzug gerade der ungarischen Volksdichtung wäre, doch kann auch nicht gesagt werden, daß sie in der ganzen europäischen Volksdichtung eine allgemeine und beherrschende Methode der Darstellung sei. Unter den Nachbarvölkern findet man besonders in den lyrischen Genres der Slawen Beispiele für solche dramatischen Konstruktionen.

Kann man – in noch so übertragenem Sinne – bei lyrischen Volksliedern von Dramatik sprechen? Enthalten sie strukturelle Elemente, die, ohne daß man ihnen Zwang antut, als dramatischer Aufbau ausgelegt werden können? Hier muß ein Unterschied zwischen den rein lyrischen Volksliedern und den anderen gemacht werden, die einen Übergang zu den verschiedenen epischen Liedern und erzählenden Gesängen und Tanzliedern darstellen: den Betyáren- (Räuber-), Soldaten- und Schäferliedern sowie den historischen Volksliedern, welch letztere keiner Gattung eindeutig zugewiesen werden können. In diesen Gruppen ungarischer Volkslieder finden wir ebenfalls Elemente dramatischer Konstruktion, nämlich den Vortrag, in dem eine Handlung wiedergegeben wird, den dramatischen Dialog oder Monolog. Es soll nicht behauptet werden, daß in diesen Gruppen die dramatische Konstruktion die ausschließliche ist, denn auch unter diesen Liedern finden sich welche, deren erzählender, epischer Charakter sich freier entfaltet, in denen trockenere oder beschreibende Strophen, schwerfälligere Konstruktionen keineswegs den Eindruck dramatisch gedrungenen Vortrags erwecken, während in anderen Liedern wieder die lyrischen Elemente überwiegen. Wenn man aber diese Gruppen der ungarischen Volksdichtung als Ganzes überblickt, wird man finden, daß die große Mehrheit und gerade die wertvolleren, dichterischer gestalteten Volkslieder dramatischer Art sind.

Was kann dagegen von den einfachen, ein- bis zweistrophigen lyrischen Liedern oder den an eine einzige Melodie gebundenen, aber voneinander unabhängigen Strophen gesagt werden? Was für Elemente dramatischer Konstruktion können in diesen gemeinhin Volkslieder genannten lyrischen Liedern entdeckt werden? Diese kleinen lyrischen Prachtstücke bezwecken oft nichts anderes, als ein einziges Bild, ein einziges Gefühl oder einen flüchtigen Gedanken zu vermitteln; sie lassen sich kaum in die Kategorie dramatischer Konstruktion zwängen. Es ist immer gefährlich, eine Auffassung zu überspannen und auf alles anwenden zu wollen. Deshalb soll mehr als Hypothese erwähnt werden, daß ein formales Moment dramatischer Konstruktion gleichsam {G-521.} als formaler Keim dramatischer Darstellung, dramatische Gegensätze entfaltender Konstruktion doch auch in diesen kleinen lyrischen Liedern gefunden werden kann. Wir denken dabei an ein allgemein bekanntes und ständiges Kennzeichen des ungarischen Volksliedes, an das Naturbild am Anfang des Liedes sowie an dessen strukturelle, strophenbildende Kraft und seine ästhetischen Effekte.

Eine Besonderheit des ungarischen Volksliedes ist nämlich das der Natur entnommene sogenannte Anfangsbild. Dieses ist das Element, das bei den meisten ungarischen lyrischen Volksliedern die Strophe einleitet, aber oft nicht nur Anfangsbild bleibt, sondern zum strukturellen Element von entscheidender Wichtigkeit wird und sich auch durch die weiteren Strophen zieht. An das aus der Natur geschöpfte Anfangsbild schließt sich, gewissen Gesetzmäßigkeiten gehorchend, als zweiter Teil der gefühlsmäßige und geistige Inhalt des Liedes an. Das Naturbild kann entweder bloß ein anstimmender Vergleich sein oder aber sich folgerichtig durch das ganze Lied hinziehen und manchmal die ganze Strophe mit fast regelmäßiger Struktur in zwei Teile teilen.

Talwärts fließt die Theiß einher,
Sie kennt keine Wiederkehr,
Dein Kuß, Liebste, war mein Glück,
Reut es dich, nimm ihn zurück!

Zu dieser inhaltlichen Zweiteilung des Textes kommt die uralte Zweiteilung der Volksliedmelodie hinzu, die durch den sogenannten Quintwechsel erfolgt. Man kann also – vielleicht etwas übertrieben – behaupten, daß diese Eigentümlichkeit in allen ungarischen lyrischen Volksliedern vorkommt. Verschwindend gering ist die Zahl lyrischer Volkslieder, in denen in irgendeiner Form das der Natur entnommene Anfangs- oder das die Strophe in zwei Hälften teilende Naturbild nicht als eines der wichtigsten Bauelemente der Strophe vorhanden wäre.

Es lohnt sich, die Anfangsbilder in Gruppen zu ordnen, nicht als ob man davon eine Erklärung ihres Ursprungs erwarten dürfte, sondern nur um sie leichter überblicken zu können.

In vielen Fällen verlaufen das Anfangsbild und der folgende Teil parallel, wobei dieser zweite gefühlsmäßige und gedankliche Teil gleichsam spiegelbildartig den vorangehenden Teil reflektiert:

Frühlingswind trocknet die Wege,
Alle Bächlein werden rege,
Pärchen sucht das Vögelein.
„Wen erwählst du, Kose mein?“
„Schilfrohr soll mein Liebster sein:
Wenn der Wind anfängt zu wehen,
Wird er nach dem Wind sich drehen.“

                           (Kibéd, ehem. Komitat Marostorda)

Für eine andere Gruppe ist die Analogie bezeichnend, doch gehören auch die sogenannten örtlichen und kausalen Verbindungen hierher, weil sie ebenfalls zu den analogischen Vergleichen der Volksdichtung zählen.

{G-522.} Ach, wie hoch ist dieser Wald.
Liebster Schatz, seh ich dich bald?
Könnt ich diesen Wald aushauen,
Könnt ich meinen Schatz auch schauen.

                           (Tata, Komitat Komárom)

Häufig kommen widersprüchliche Verbindungen vor, wenn das Lied der durch das natürliche Anfangsbild gegebenen Stimmung entgegengesetzte Gefühle oder Gedanken ausdrückt:

Wunderschön klingt Lerchensang von drüben,
Traurig ist’s, was Schätzchen mir geschrieben.
Tränen treibt der traurige Brief ins Auge mir:
Denn vielleicht trennt mich der Tod gar bald von ihr.

                           (Magyarpécska, ehem. Komitat Arad)

Es kommt zuweilen vor, daß das natürliche Anfangsbild, aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst, lediglich als Formel gebraucht wird:

Blau des Veilchens Farbe ist,
Liebe nie mein Herz zerfrißt:
Denn ich leg es an die Kette,
Halt es fest. Was gilt die Wette?

                           (Ipolybalog, ehem. Komitat Hont)

Das eine oder das andere Anfangsbild wird nur des Reimes wegen herangezogen und verliert dann meistens jeglichen logisch-sozialen Zusammenhang

Zwischen Bäumen leuchtet hell der Mondenschein,
Mir gehörst du, mein geliebtes Blümelein.
Dein verflixtes Mundwerk hat's mir angetan,
Deine Zunge, die so piekfein reden kann.

                           (Magyarpécska, ehem. Komitat Arad)

Schließlich finden sich solche, die ihren Sinn vollkommen eingebüßt haben oder wenigstens für den heutigen Forscher unverständlich sind:

Dichtes Laubwerk in des Nußbaums Zweigen.
Nur ein Mädchen nenne ich mein eigen.
Als die Mutter es noch wiegte sachte,
Sie ihr Kind schon, damals mir zudachte.

                           (Püspökbogát, Komitat Baranya)

Die angeführten Beispiele sollen nun aber weder den Ursprung noch die allgemeine Beliebtheit solcher Strukturen lyrischer Lieder erklären. Dem Problem des Ursprungs bringt uns eine Erklärung Béla Vikárs näher, der meint, das der Natur entnommene Bild habe sich aus einem Bedürfnis nach Paarigkeit, nach der Parallele entwickelt: Zunächst habe der zweite Teil wörtlich den ersten wiederholt, dann sei ein paralleler Vergleich an die Stelle des zweiten Paargliedes getreten, der den vorangegangenen im Wesen glich. Aus diesem Anfang habe sich das vielverästelte ungarische lyrische Lied entwickelt. Diese Auffassung ist sicherlich einleuchtend, findet sich doch die wiederholende Struktur {G-523.} tatsächlich bei den Ursprüngen jeder Versdichtung. Die volkstümliche ungarische Dichtung hat diese zweiteilige Strophenform, die selbst der kleinsten lyrischen Einheit Leben einflößen kann, besonders liebgewonnen.

Das ungarische Volkslied weist im Gebrauch des der Natur entnommenen Anfangsbildes einen bewundernswerten Abwechslungsreichtum auf. Das Anfangsbild verwandelt den lyrischen Monolog oft auch in einen Dialog, der der inneren Spannung der lyrischen Situation sozusagen Raum gibt, eine Szene aufbaut und den Vortrag bereichert, vertieft und verinnerlicht. Wie die obigen Beispiele zeigen auch zahllose andere lyrische Volkslieder auf Schritt und Tritt diesen Aufbau. Als Ergänzung stehe hier noch ein von Béla Bartók mitgeteiltes:

Mein blumiger Hanf liegt
In der Röste drinnen,
Zürnest du mir, Liebchen,
Komm heut nicht zum Spinnen.
 
Wenn nur meine Spindel fallt,
Wer wird sie aufheben?
Wer wird mir mein armes Herz
Tröstlich neu beleben?

                           (Gyergyóújfálu, ehem. Komitat Csík)

Solche Lieder sind in erster Linie gemeint, wenn von einem im formalen Aufbauprinzip des natürlichen Anfangsbildes enthaltenen Keim der Dramatik gesprochen wird. Ohne zu übertreiben und dadurch zu verzerren, diene das vorliegende Beispiel (es könnten noch andere mehr oder weniger dramatische, lebensvolle lyrische Volkslieder angeführt werden) nur zur Veranschaulichung dessen, daß ein dramatischer Aufbau und eine entsprechende Darstellung unter Ausnutzung der durch das natürliche Bild gegebenen Möglichkeit selbst im kleinsten lyrischen Volkslied gefunden werden kann. Anscheinend traf dabei das Aufbauprinzip sowohl des natürlichen Anfangsbildes als auch der Melodie glücklich mit der Neigung der ungarischen Volksdichtung zu dramatischer Formung zusammen. Deswegen konnte sich die dichterisch ausgewogene Spannung oder das gespannte Gleichgewicht zwischen dem Naturbild des Anfangsteiles und dem darauffolgenden zweiten Teil mittels des einfachen Kunstgriffes der Wiederholung besonders reich und in zahlreichen strukturellen Formen entfalten.

Ein weiteres Verdienst des natürlichen Anfangsbildes ist, daß es dem Volkslied zu einfachen schönen Reimen verhalf. Der Zusammenhang zwischen den gereimten Zeilenpaaren wird nämlich dadurch vertieft und bereichert, daß nicht bloß eine rein klangliche, äußerliche Entsprechung, sondern oft auch ein stimmungsgemäßer, sogar inhaltlicher Zusammenhang besteht. Es erübrigt sich zu betonen, daß die vollkommene Wirkung des Reimes gerade auf dem möglichst vollständigen Zusammenklang der drei Faktoren: des Klanges, der gefühlsmäßigen Stimmung und des gedanklichen Inhalts beruht. Diesen reinen, innerlichen Klang erzielt das ungarische Volkslied eben mit Hilfe des aus der Natur geschöpften Anfangsbildes.

{G-524.} Die vergleichende Forschung in bezug auf das der Natur entnommene Anfangsbild hat eben erst ihre ersten Schritte getan. Soviel steht schon fest, daß die Erscheinung nicht nur der ungarischen Volksdichtung angehört. Sie findet sich auch in der Volksdichtung der mit den Ungarn verwandten sowie der benachbarten Völker. Aber auch in Westeuropa wurden Parallelen gefunden, so in der Volksdichtung der Italiener und der ladinischen Schweizer. Nach Westen zu wird diese Verskonstruktion immer seltener. Um so häufiger kommt sie im Osten vor. Bekannt ist das ständige rumänische Anfangsbild von dem grünen Blatt, dem frunza verde. Auch in den lyrischen Volksliedern der slawischen Völker kommt dieses stimmungsvolle Naturbild vor, so in den ukrainischen, russischen und slowakischen Volksliedern. Besonders erwähnenswerte Parallelen finden sich bei den Baschkiren.

So summarisch und mit allen Fehlern zwangsläufiger Knappheit behaftet diese Zusammenfassung auch sein mag, läßt sie vielleicht doch den Reichtum, die Schönheit und die Kraft der ungarischen Volksdichtung (selbst in den improvisierten Nachdichtungen) erkennen, gibt sie eine Vorstellung von den Prinzipien und Ideen, die die geschichtliche Entwicklung der ungarischen Volksdichtung bestimmt haben, und von der inneren formenden Kraft in den verschiedenen Epochen und Gattungen.

Im folgenden sollen nun die Typen des ungarischen Volksliedes, nach ihrem Inhalt in Gruppen geordnet, beschrieben werden, wobei natürlich nicht einmal annähernd Vollständigkeit angestrebt werden kann.