Aus der Geschichte des Familienverbandes

Die Sprachwissenschaft und die Archäologie haben insbesondere in den letzten Jahrzehnten viele Details über die älteste Periode der ungarischen Familie aufgedeckt. So läßt sich anhand von Ausgrabungen feststellen, daß sich die patriarchalische Form im Laufe des 2. Jahrtausends v. Chr. bei den verschiedenen finno-ugrischen Völkerschaften immer mehr festigte und am Ende der Periode bereits vorherrschend war. Dem ist es zuzuschreiben, daß die matriarchalischen Elemente in den ungarischen Traditionen nur rudimentär und selbst dann höchst selten vorkommen.

Die ungarische Terminologie des Familienverbandes reicht größtenteils bis zur finno-ugrischen Zeit zurück. Zu dieser ältesten Gruppe der Bezeichnung von Verwandtschaftsverhältnissen gehören die Wörter: atya (Vater), anya (Mutter), fiú (Sohn), öccs (jüngerer Bruder), atyval = mostohaatya (Stiefvater), fial = mostohafiú (Stiefsohn) – „atyval“ und „fial“ sind unklare Zusammensetzungen, die sich nur in historischen Quellen nachweisen lassen –, árva (Waise), férfi (Mann), férj (Ehemann), feleség (Ehefrau), meny (Schwiegertochter), (Schwiegersohn), ipa (Schwiegervater), napa (Schwiegermutter), ángy (Schwester des Gatten, im allgemeinen Sprachgebrauch Frau des älteren Verwandten). Aus der ugrischen Zeit schließen sich hieran noch folgende Wörter an: apa (Vater), leány (Tochter) – beides unklare Zusammensetzungen –, iafia (in der gegenwärtigen Bedeutung: Nachkommenschaft) – ebenfalls eine unklare Zusammensetzung. Die ursprüngliche Bedeutung von õs (Ahnherr) ist auch im 12. Jahrhundert noch apa (Vater). Hinzu kommen noch die zusammenfassenden Bezeichnungen der größeren verwandtschaftlichen Einheiten: rokon (Verwandte[r], ursprüngliche Bedeutung: nahe), had (Sippe), szer (Sippe, ein Teil des Dorfes), vér (Verwandte[r]). Auch aus diesem Überblick, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, geht hervor, daß die Ungarn zusammen mit den Finno-Ugriern {G-59.} in Familien gelebt haben, die auch damals schon patrilinear gewesen sein dürften. Auf jeden Fall aber zeigt die Terminologie, daß auch mit einer gewissen Variante der Großfamilie gerechnet werden kann. Auch die Zugehörigkeit dieser Familien zu Stämmen können wir als sicher annehmen. Nachdem sich die Ungarn zum Steppenvolk entwickelt und mit verschiedenen Turkstämmen engere Verbindungen angeknüpft hatten, stabilisierten sich der Verband der Großfamilie und die patriarchalischen Züge zweifellos noch mehr.

18. Matyófamilie

18. Matyófamilie
Mezõkövesd, Kom. Borsod-Abaúj-Zemplén

Die in wachsender Zahl freigelegten Gräberfelder aus dem 10. Jahrhundert, der unmittelbar auf die Landnahme folgenden Periode, geben in vielerlei Hinsicht auch über den Familienverband Aufschluß. Die großfamiliäre Bestattungsweise läßt sich bei einem Teil der Reichen beobachten, und zwar auf den gewöhnlich in einer Reihe angeordneten und aus 15 bis 20 Gräbern bestehenden Gräberfeldern. Platz fanden hier die aufgrund der Blutsbande zusammengehörigen Eltern, Kinder und Enkel. Die Gütergemeinschaft, solange sie bestand, wurde vom ältesten Mann geführt, der entsprechend seiner Funktion in der Mitte bestattet wurde, und um ihn herum fanden die Mitglieder der patriarchalischen Großfamilie Platz, in einer dem Rang, Alter und Geschlecht entsprechenden Reihenfolge. Zur gleichen Zeit bestand allerdings aufgrund der Beisetzungen auch bereits die Kleinfamilie im heutigen Sinne des Wortes, in der die Söhne bei Gründung einer Familie ihr Erbteil erhielten und auf das so erhaltene Land zogen. Dieses System bot zudem verschiedene Vorteile. Zum einen verteilte man den Viehbestand, der durch Seuchen, Diebstahl und Naturkatastrophen standig bedroht war, {G-60.} auf einen größeren Bereich und verminderte somit die Gefahren, zum anderen konnte ein Mitglied der Familie an verschiedenen Orten zu jeder Zeit die Interessen der Familie vertreten. Selbst in der Sage über die Herkunft der Ungarn spielt eine derartige Aufteilung eine bedeutende Rolle: Die erstgeborenen Söhne Ménróts, Magyar und Hunor, zogen – heißt es in der Sage vom Wunderhirsch – „in ihr besonderes Zelt, nachdem sie sich von ihrem Vater getrennt hatten“. Später zogen sie weiter, um in einer anderen Gegend eine ihnen gemäße Heimstatt zu suchen. Der jüngste Sohn blieb immer bei den Eltern und trat nach dem Tod des Vaters das Erbe an. Auch in den Volksmärchen lassen sich viele Spuren dieses Brauchs nachweisen, der bis in die jüngste Zeit charakteristischer Zug der ungarischen Familienorganisation geblieben ist.

In den letzten Jahrzehnten sind in immer größerer Zahl Gräberfelder des Gesindes und der weniger Begüterten aus der Zeit der Landnahme freigelegt worden. Die Gräber sind hier in kleinen Gruppen angelegt, in unterbrochenen, voneinander abgesonderten Reihen. Trotz der relativ wenigen Grabbeigaben lassen sich bedeutende Besitzunterschiede feststellen. Die neueste Forschung beweist, daß sich die Organisationsform der Großfamilie in der Landnahmezeit nur auf einen Teil der wohlhabendsten Schicht der Ungarn erstreckte, während die Mehrheit des Volkes in kleineren familiären Gemeinschaften gelebt haben dürfte.

Die überlieferten schriftlichen Quellen sagen über die Fragen des mittelalterlichen Familienverbandes verhältnismäßig viel aus, wenn auch nicht allzu detailliert. So wird beispielsweise in den Gesetzen Lászlós (Ladislaus) I. Ende des 11. Jahrhunderts in steuerlicher Hinsicht unterschieden zwischen erwachsenen Söhnen, die im Haus des Vaters und mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt lebten, und solchen, die einen eigenen Hausstand besaßen. Diese Alternative läßt sich allerdings nicht nur beim gemeinen Volk beobachten, sondern auch beim Feudaladel, der im Interesse der Geschlossenheit von Grund und Boden oft zusammenblieb, während in anderen Fällen auch die adlige Großfamilie in mehrere kleinere Familien zerfiel.

Bei einer Untersuchung der Zusammensetzung der Bauernfamilien des 17. Jahrhunderts im Nordwesten des ungarischen Sprachraums gelangten die Forscher zu der Erkenntnis, daß die Familienform aufs engste mit der Größe des Bauernhofs zusammenhing. Wenn die Wirtschaftsgröße viele Arbeitskräfte, eine umfangreiche landwirtschaftliche Ausrüstung und einen größeren Viehbestand erforderlich machte, so konnte der Hof von einer Großfamilie am rentabelsten betrieben werden. War hingegen lediglich ein kleineres Bauerngut oder überhaupt keines vorhanden, so hätte eine Großfamilie zusammen wohl schwerlich existieren können; indes war unter diesen Gegebenheiten immer die Kleinfamilie die üblichere Lebensform. Demnach kann gesagt werden, daß die Großfamilie ein Verband ist, der sich in jeder Epoche an den wirtschaftlichen Bedingungen orientiert hat. Wenn auch die Form der Großfamilie viele ethnische Elemente enthält, so hingen doch ihre Existenz und Auflösung oder ihr neuerliches Auftreten von den Erfordernissen ab, die sich aus der Größe des Besitzes und des Viehbestandes ergaben.

{G-61.} Auf den Fronbauerngütern des 19. Jahrhunderts blieb die Großfamilie vielerorts erhalten, was auch den Bemühungen der Gutsherren zuzuschreiben war, die die Zerstückelung der Bauernhöfe verhindern wollten. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an ging die Zahl der Großfamilien immer mehr zurück, doch hielten sie sich mancherorts bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, so daß sich in den verschiedenen Teilen des ungarischen Sprachraums Möglichkeiten zum Studium ihrer Formen und ihres Charakters ergaben.