Sagen aus der Glaubenswelt

Den mythischen Sagen haben ungarische Forscher in größerem Maße erst während der letzten Jahrzehnte Aufmerksamkeit gewidmet. Da sie aber diese Gattung nicht genau von anderen unterschieden, konnte es zu keiner systematischen Sammlung dieser Kategorie kommen. Trotz beachtenswerter Ergebnisse der ungarischen und europäischen Forschung kann nicht einmal die Definition der Gattung in jeder Beziehung als endgültig betrachtet werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß man es hierbei mit Epik zu tun hat, die sich um einen Kern von Glaubensvorstellungen legt. Doch erwächst nicht aus jedem Element des Volksglaubens eine Sage, was bedeutet, daß die Gesamtheit der Sagen nicht den ganzen Vorrat an volkstümlichen Glaubensvorstellungen erfaßt. Eine Sage entsteht nur, wenn Volksglaube mit irgendeiner Handlung verbunden wird. Andererseits ist nicht jeder Glaubenskern einer Sage Teil der Glaubenswelt überhaupt; so kommen zwar zum Beispiel mythische Sagen von Riesen im ungarischen Sprachraum vor, obgleich die Riesen im Glaubensleben des ungarischen Volkes keine nennenswerte Rolle spielen. Dem heutigen Stand unserer Kenntnisse nach gehört eine Sage zur mythischen Gattung, wenn sich um einen glaubensmäßigen Kern eine Handlung, eine lokale Geschichte bildet.

Mythische Sagen sind teils nationalen, teils internationalen Charakters, was bei den Ungarn ebenso wie bei den anderen europäischen Völkern der Fall ist. Eine Gliederung läßt sich nur erstellen, wenn Klarheit über die Elemente des Volksglaubens geschaffen ist. Dementsprechend sollen zwei große Gruppen unterschieden werden. {G-632.} Zur einen gehören mit überirdischen Kräften begabte Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände, zur anderen die überirdischen Wesen selbst. Für die Gesamtheit der ungarischen mythischen Sagen ist kennzeichnend, daß die erste Gruppe dominiert, während Sagen der zweiten Gruppe in viel geringerer Zahl vorkommen. Im europäischen mythischen Sagengut ist dies übrigens umgekehrt, und dieser Unterschied verleiht den ungarischen mythischen Sagen eine besondere Bedeutung.

Betrachten wir in den Sagen zunächst einige Menschengestalten, die überirdische Kräfte besitzen. Der Vorrang gebührt ihnen um so mehr, als aus einer dreitausend Sagen umfassenden Berechnung hervorgeht, daß eben diese Untergruppe an die 60 Prozent der ungarischen mythischen Sagen ausmacht. Bedeutsam darunter sind Zaubersagen, die ohne jeden Zweifel schamanistische Züge tragen. Trotz ihrer bedeutenden Vergangenheit machen sie kaum 3 Prozent der ungarischen mythischen Sagen aus, und in vielen Fällen vermischt sich die Gestalt des Zauberers mit der des westlichen fahrenden Schülers; die daraus entstandenen Mischgebilde machen ebenfalls 3 Prozent der ungarischen mythischen Sagen aus.

Im Mittelpunkt der Táltos-Sagen steht der Kampf um den Erwerb des „Wissens“, der Zauberkraft. Der Kampf muß in der Gestalt eines Stiers oder eines Feuerrades von jenen Menschen ausgefochten werden, die mit Zähnen oder mit sechs Fingern zur Welt gekommen sind. Davon handelt die folgende in Karcsa, Komitat Zemplén, aufgezeichnete Sage:

Dann gingen wir ans untere Dorfende zu unseren Nachbarn, mit denen wir immer zu einem Schwatz Zusammenkamen. Bei der Unterhaltung sprachen wir auch von solchen Dingen. Der alte Ferenc Nagy erzählte, er habe einmal von einem älteren Rinderhirten gehört, daß ein Hirtenjunge zu ihnen auf die Weide gekommen sei. Da war eine große Rinderherde, die ein Hirt, ein Mann von etwa 40 bis 50 Jahren, hütete. Der Junge grüßte:

„Guten Tag, Gott zum Gruß!“ Und erfragte den Hirten, ob er nicht einen Hirtenjungen brauche.

„Warum nicht“, antwortete der Hirt, „ich hatte einen, aber der war nicht geeignet. So könnte ich einen brauchen, der sich bewährt. Also, mein Junge, wenn du glaubst, daß du hier deinen Pflichten nachkommen wirst, nehme ich dich auf.“

Und er stellte ihn als Hirtenjungen an, doch der war fast so wie er selbst, der Rinderhirt. Die Tage vergingen; der Hirtenjunge aber verriet seinem Herrn und Meister nicht, daß er ein Hexer war.

So ging die Zeit dahin. Eines Tages plötzlich begann es zu grollen und zu blitzen, und eine große dunkle Wolke Zog herauf. Der Hirtenjunge wußte, was bevorstand, der Hirt aber hatte keine Ahnung. Kurz und gut, der Hirt sprach:

„Mein Junge, wir sollten die Rinder zur Hürde treiben, denn gleich wird so ein Sturm losbrechen, daß wir sie nicht mehr Zusammenhalten können.“

Sie brachten die Rinder in die Hürde, darauf sagte der Hirtenjunge zum Meister:

„Gehen wir zur Hütte, Herr, nehmt den besten Stock zur Hand, und wenn es {G-633.} soweit ist, dann treibt die Hunde an.“ Und er sagte weiter: „Ich gehe in die Hütte, Ihr aber bleibt lieber draußen vor der Tür. Ich werde mich in einen Stier verwandeln, und dann muß ich mit jenem Stier dort kämpfen. Wenn ich aber keine Hilfe finde, dann wird er stärker sein als ich. Deshalb, Herr, schlagt dem Stier mit dem Stock auf die Ballen, so fest Ihr nur könnt. Und hetzt beide Hunde auf ihn, sie sollen sich dem Stier, der aus der dunklen Wolke herabsteigen wird, in die Hoden verbeißen. Dann werde ich ihn vielleicht bezwingen können.“

Und so geschah es. Ein Stier kam aus der dunklen Wolke herab, die sich tief auf die Erde gesenkt hatte. Und auch der Hirtenjunge verwandelte sich in einen Stier, er sprang aus der Hütte, warf sich dem anderen entgegen, und sie begannen zu ringen. Als der Hirt sah, daß der Hirtenjunge immer schwächer wurde, schlug er dem Stier auf die Ballen, so gut er nur konnte. Und die Hunde trieb er an, den Stier am Hodensack zu reißen, so gut sie es vermochten.

Da endlich sah der Hirt, daß der fremde Stier kraftlos wurde. Die dunkle Wolke senkte sich wieder zur Erde, der Stier stieg hinauf und zog davon. Der Hirtenjunge aber verwandelte sich wieder in einen Menschen.

Nun gestand er seinem Meister, was es mit ihm auf sich hatte:

„Der Stier ist gekommen, um mich zu holen. Hätte ich nicht mit ihm gekämpft und hätte ich ihn nicht überwunden, er hätte mich mitgenommen. Da ich ihn aber besiegt habe, wird er mich von nun an in Frieden lassen, jetzt bin ich frei.“

Eine interessante Gruppe der ungarischen mythischen Sagen handelt vom wissenden Kutscher. Dessen häufigste Fähigkeit ist, Menschen und Tiere so bannen zu können, daß sie unfähig werden, sich zu rühren. Parallelen zu diesem Motiv finden sich in Ost und West. Seltener kommt es vor, daß mit Stroh ausgestopfte Pferdebälge zu Leben erweckt werden und daß der Kutscher sich mit solchen Pferden in die Luft erhebt und größere Entfernungen zurücklegt. Diese Züge weisen schon eher nach Osten, und Parallelen dazu findet man in der Glaubenswelt von Völkern, die mit den Ungarn verwandt oder aber seinerzeit mit ihnen in Berührung gekommen sind. Dieser Typ mythischer Sagen ist in erster Linie im östlichen Teil des Sprachraums bekannt. Die folgende Sage wurde in Tyukod, Komitat Szatmár, aufgezeichnet

Mein Vater war Diener beim Gutsherrn in Porcsalma. Dort lernte er jenen Wissenden kennen. Terge, der Herr, hatte einen Kutscher, von dem will ich eine Geschichte erzählen. Terge kam mit Pferden von Siebenbürgen, um sie hier zu verkaufen. Er hatte einen Kutscher, der verstand was von Pferden und auch noch von anderen Dingen. Doch das wußte Terge nicht. Eines Tages erhielt Terge einen Brief aus der Theißgegend; eine Hochzeit stand bevor, und er wollte hinfahren. Morgens mußte er dort sein. Da der Weg weit war, sagte Terge dem Kutscher, er solle sich mit seiner Arbeit beeilen. Der Kutscher aber erwiderte kein Wort, ging ins Wirtshaus und kümmerte sich nicht um die Pferde. Bis zum Abend kam er nicht nach Hause, es war schon spät, als er endlich mit dem Wagen vorfuhr.

„Deinetwegen werden wir zu spät kommen“, tadelte ihn Terge.

{G-634.} „Habt keine Angst, wir werden zur Zeit da sein. Es ist nicht weit, eins, zwei, drei, und schon sind wir da“, antwortete der Kutscher.

Als sie losfuhren, fragte er: „Wie schnell sollen wir fahren? Wie der Wind oder wie der Gedanke?“

„Wie der Wind!“ warf Terge hin, da sah er, daß sie sich in die Luft erhoben, die Räder berührten den Boden nicht mehr. So jagten sie dahin, vorbei an Baumkronen und hoch über dem Fluß. Der Morgen war noch nicht angebrochen, als sie eintrafen. Erst jetzt wußte Terge, wen er als Kutscher hatte. Er konnte die Ankunft kaum erwarten, gleich jagte er den Kutscher davon. Aber die Pferde wollten sich nun nicht mehr von der Stelle rühren. Er erschrak, doch dann fand er einen Kutscher, der sie zu lenken verstand. Denn auch dieser war ein Wissender, deshalb!

Verwandt mit dem wissenden Kutscher ist die Gestalt des wissenden Hirten, die in mehr als 4 Prozent der ungarischen mythischen Sagen vorkommt, meist auf den östlichen Landesteil beschränkt, wo das Vieh im Freien gehalten wurde und sich deshalb das ungebundenere Leben der Hirten am längsten erhalten hat. Die mit überirdischen Gaben bedachten Hirten zeichnen sich durch Heilkünste sowie durch die Fähigkeit aus, die Herden anderer auseinanderzutreiben und die eigenen unbedingt zusammenzuhalten. Das Vieh, besonders die Stiere, jagen sie auf ihre Feinde, doch ähnliche Versuche der anderen weisen sie nicht nur ab, sondern vergelten sie auch. Unter den Hirtensagen gibt es viele Erlebniserzählungen beziehungsweise solche, die aus erster Hand vermittelt worden sind; man findet aber auch solche, deren Form erstarrt und in einem größeren Raum dieselbe ist.

Im gesamten ungarischen Sprachraum haben die Hexensagen die größte Verbreitung gefunden. Sie machen mehr als ein Viertel des ganzen bekannten Stoffes aus. Sie erzählen, wie man sich „Wissen“ erwirbt, wie die Milch verzaubert wird und wie sich die Hexe in ein Tier verwandelt. Die meisten handeln jedoch von den verschiedensten Arten des Alpdrückens, mit dem Hexen oder Nachtgespenster den Menschen heimsuchen können. Folgende Variante wurde in Kishartyán, Komitat Nógrád, aufgezeichnet

Es geschah zwei Brüdern in Cserhátsurány. Sie schliefen jede Nacht zusammen in einem Bett, und der jüngere wurde allnächtlich vom Nachtmahr gequält. Das ging ein Jahr lang so. Der Junge verriet natürlich kein Wort davon. Doch schließlich fragte ihn der ältere Bruder:

„Was fehlt dir, mein Junge? Du wirst von Tag zu Tag dünner.“

Der Kleine schwieg, er wollte nichts sagen. Nun begannen ihn auch die Eltern auszufragen. „Sag doch endlich, was du hast!“ Und der Bruder ließ nicht locker: „Wir wollen dir doch helfen!“ Da gestand der jüngere dem älteren Bruder:

„Jede Nacht spüre ich einen Druck, so sehr, daß ich fast sterbe, weil ich keine Luft bekomme.“

„Nur gut, mein kleiner Bruder, daß du es endlich gesagt hast. Jetzt werden wir die Plätze tauschen. Und ich werde dem, der da in der Nacht erscheint, auflauern.“

Der Große schlief sich schon am Tage aus, um nachts wach zu bleiben. {G-635.} Und um Mitternacht erschien auch die Hexe. Er hörte, wie sich die Tür öffnete, er war nicht müde; doch als sich der Mahr dem Bett näherte, übermannte ihn der Schlaf. Er kam erst wieder zu sich, als sich ein schwerer Druck auf seine Brust senkte. Da war er ganz wach, und er verlor nicht die Geistesgegenwart, sondern rang mit dem Nachtmahr. Der Kampf dauerte mehr als eine halbe Stunde, schließlich ließen die Kräfte des Mahrs immer mehr nach. Während sie miteinander rangen, blieb der kleine Finger des Nachtmahrs an seinem Mund hängen. Er nahm all seinen Mut zusammen und biß hinein, ein Stück vom Finger spuckte er auf den Fußboden. Sofort ließ der Nachtmahr von ihm ab, stieg vom Bett und nahm auch das kleine Stück vom Finger mit. Die Eltern meinten, nun müsse man gut achtgeben, wer eine verbundene Hand habe.

Am anderen Tag trafen viele die Frau, die übrigens eine Hebamme war. Sie fragten sie:

„Muhme Marie, was ist mit Eurer Hand passiert?“

„Ach, meine Gute, ich habe Holz gespalten und mir in den Finger gehackt, nun gehe ich zum Arzt“, antwortete sie.

Da begegneten ihr auch die Eltern:

„Muhme Marie, was fehlt Eurer Hand?“

„Ach“, sagte sie, „ich habe Holz gespalten.“ Daß sie sich in den Finger gehackt habe, sagte sie nicht mehr, nur eben, daß die Hand verletzt sei.

Da sprach die Mutter des Jungen:

„Unheil möge über Euch kommen, Muhme Marie! Schämt Ihr Euch nicht? Ein ganzes Jahr lang habt Ihr das arme Kind gequält! Hätte der Ältere nicht den Platz mit ihm getauscht, Ihr hättet es zugrunde gerichtet. Schämt Euch, Ihr seid eine böse alte Hexe. Ist es nicht genug, daß Ihr in der Nachbarschaft fast alle Kühe in Gestalt einer Katze gemolken habt? Die Nachbarn haben die Milch in den Schweinetrog gegossen und im Trog mit einer Weidenrute geschlagen. Und Ihr seid noch hingegangen und habt gesagt: Laßt die Milch!` Nicht wahr, sie haben die Milch geschlagen, und Ihr habt den Schmerz gespürt, aber sie haben um so mehr geschlagen. Nun werdet Ihr nicht mehr den Kühen die Milch nehmen! Böse alte Hexe, gerade Euch haben wir als Hebamme nötig! Man sollte Euch aus dem Dorf jagen.“

Von da an ging es dem Jungen Tag für Tag besser, er blühte wieder auf und wurde nie mehr im Schlaf gedrückt.

Unter den Hexensagen finden sich inhaltlich und formal die gegensätzlichsten Gruppen. In ihrer Mehrheit handelt es sich um Erlebnissagen, die inhaltlich aus der Welt des Volksglaubens stammen und in einem gegebenen Falle als deren Erscheinung betrachtet werden können. Ihr Aufbau ist im allgemeinen locker und wird nur im Munde des einen oder anderen Erzählers als Folge häufiger Wiederholung konstanter. Eine andere Gruppe steht inhaltlich zwar in Zusammenhang mit dem Volksglauben, wirkt in Inhalt und Form aber eher unterhaltend, und ihre sagenhaften Charakteristika verlieren sich. Gleichzeitig festigt sich ihre Form, und es wird immer offenbarer, daß es sich um Wandergut handelt, das von weither gekommen ist.

Unter den ungarischen Sagen fehlen die von überirdischen Wesen, von Naturdämonen fast ganz. Das geht aus den bisherigen Sammlungen hervor, wobei der Grund dafür noch nicht befriedigend geklärt werden {G-636.} konnte. Um so häufiger aber kommen der Tod, der Wiedergänger und Gespenster vor, das heißt alles, was mit noch lebenden oder erst vor kurzem erloschenen Glaubensvorstellungen in Verbindung steht. Sehr häufig sind die mythischen Sagen, die von wiederkehrenden Toten handeln, denen ein Wunsch versagt worden war. Die folgende Version kommt aus der Gegend der Palotzen und stammt aus dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts:

Plötzlich war draußen ein Geräusch zu hören, als ob der Wind die Bäume schüttelte. Ich blick’ zum Fenster und seh’, daß jemand von draußen hereinschaut, dann verschwindet die Gestalt wieder. Erst dachte ich, jemand ist neugierig, doch dann kam die Gestalt zum zweiten Mal und zum dritten Mal wieder ans Fenster. Ich geh’ hinaus, um nachzusehen, wer dort ist, doch da war keine Menschenseele. Na, denk’ ich bei mir, ich geh nicht mehr zurück. Es war schon spät, ich geh’ also weg.

Doch kaum bin ich zehn Schritte gegangen, da kommt mir jemand entgegen, in weißem Gewand, Stiefel an den Füßen, auf dem Kopf Spitze aus Gold, so wie sich bei uns die jungen Frauen schmücken, in der Hand einen Rosenkranz. Ich habe das alles ganz deutlich im Mondlicht gesehen. Die Frau kommt geradewegs auf mich zu und sagt zu mir:

„Erschrick nicht, mein Sohn, ich bin es, deine Taufpatin. Sag meiner Tochter, ich kann im Jenseits keine Ruhe finden, solange mein getupfter Rock und meine beiden weißen Leinenschürzen bei ihr in meiner Truhe liegen; sie soll sie verkaufen und eine Messe für mich lesen lassen.“

Damit löste sich die Gestalt auf wie Rauch oder Nebel und verschwand. Aber es ist so wahr, wie es einen Gott im Himmel gibt. Wenn ich es nicht gesehen hätte, würde ich es nicht sagen.

Am anderen Tag gehe ich zur Tochter meiner Taufpatin und erzähle es ihr. Sie wollte es nicht glauben. Erst als ich den getupften Rock und die beiden Leinenschürzen erwähne, sagt sie:

„Jetzt glaub’ ich tatsächlich, Vetter, daß Ihr mit meiner Mutter gesprochen habt, denn das ist das einzigste, was sie mir hinterlassen hat. Aber wenn es ihr Wunsch ist, werde ich die Sachen verkaufen, damit sie wenigstens im Jenseits nicht benachteiligt ist, wenn sie es schon im Diesseits immer war.“

Die ungarischen mythischen Sagen schließen sich an lebende oder bereits verschwundene Glaubensvorstellungen an. Während aber die Gestalten der mit besonderem Wissenn und überirdischen Eigenschaften begabten Menschen (Táltos, Zauberer, Schwarzkünstler, Kutscher, Müller, Fährmann, Hirte usw.) aus der Glaubenswelt fast vollkommen verschwunden sind, hat sich der Stil dieser Sagen formal gefestigt und abgerundet. Die andere Sagengruppe hängt mit noch heute lebendigen oder noch umherspukenden Glaubensvorstellungen zusammen. In den Sagen von Hexen, von überirdischen Wesen und von Toten kommen Episoden vor, die geeignet sind, örtlich verbreitete Glaubensvorstellungen zu bestätigen und die Zuhörerschaft anzuweisen, wie sie sich solchen übernatürlichen Erscheinungen gegenüber verhalten solle. Die Belehrung ist dabei ein mindestens ebenso wichtiger Zweck wie die Unterhaltung. Ihre Form ist in der Regel noch nicht erstarrt und gestattet viele persönliche Abwandlungen. Natürlich gibt es zwischen {G-637.} den beiden Gruppen zahllose Übergänge, je nachdem wie weit der Glaubenskern verschwunden ist, und die Form sich gefestigt hat.

Die besten Kenner und Erzähler mythischer Sagen sind im allgemeinen die früheren herrschaftlichen Knechte oder ihnen nahestehende ländliche Schichten (Tagelöhner, Anteilschnitter und landarme Bauern). Trotzdem sind in dieser Gattung, eben ihres Charakters wegen, soziale Tendenzen weniger häufig. Doch finden sich auch Handlungsträger – besonders im Falle des wissenden Hirten und des wissenden Kutschers –, die in den Sagen Rache für die vielen Ungerechtigkeiten nehmen, denen sie von der Herrschaft oder deren Verwalter ausgesetzt waren, – als ob ihre überirdischen Kräfte und Eigenschaften ihnen gerade wegen dieses Ziels gegeben wären.

Die mythischen Sagen haben keine so traditionsgebundene Eingangsformel wie die anderen Sagen. In der Regel beginnt die Handlung mit der genauen Beschreibung der Zeit, des Ortes und gelegentlich mit der Aufzählung der Personen der Handlung. Auch der Stil der zumeist nur aus ein bis zwei Motiven bestehenden Sagen ist außerordentlich einfach. Inhalt und Form beeinflussen aber den Stil in bedeutendem Maße. Wenn die Sage einem Märchen nahesteht, wird auch ihre Sprache und Vortragsweise immer mehr einem solchen ähneln. Sonst ist der Stil am ehesten dadurch bestimmt, daß die Sage nicht unterhalten, sondern belehren will, indem sie ein besonderes Ereignis in einer Form mitteilt, die die Zuhörerschaft fesselt. Deswegen ist die Vortragsweise sachlich, macht keine Umschweife, sondern steuert direkt auf das Ziel zu. Die klare, durchsichtige Form wird durch eine einfache Sprache ergänzt.

Die Erzähler mythischer Sagen sind im allgemeinen nicht mit hervorragenden Märchenerzählern identisch. In der Regel können sie auch Märchen erzählen, schätzen aber ihre eigene Gattung insofern höher ein, als sie der Ansicht sind, daß diese dem täglichen Leben viel näher stehe. Im allgemeinen sind die Gelegenheiten zum Erzählen dieselben wie bei den Märchen, höchstens daß sich kleine Arbeitspausen eher für die kürzeren Sagen eignen, von denen die eine oder andere eben schnell erzählt werden kann. So erzählten sich die Hirten, Tagelöhner und Knechte gerne solche, wenn die Arbeit ihnen dazu Gelegenheit bot. Unausbleiblich waren solche Erzählungen während der Totenwache.