{G-116.} Die Kirche und das religiöse Leben

Im Leben der ungarischen Dörfer spielten die Kirchen der verschiedenen Religionen eine sehr wichtige Rolle, weil sie die Moralnormen, Sitten und Bräuche sowie die Gestaltung des Familienlebens in bedeutendem Maß beeinflußten. Im 10.–11. Jahrhundert erfolgte die Christianisierung der ungarischen Heiden, und das Volk bekannte sich geschlossen zum Katholizismus, bis in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die überwiegende Mehrheit zum Protestantismus übertrat. Erst durch die Gegenreformation, die im 17. Jahrhundert nicht nur von der Geistlichkeit, sondern auch vom Adel und von den Großgrundbesitzern energisch vorangetrieben wurde, gab es wieder eine bedeutende Veränderung. Das Prinzip „cuius regio, eius religio“ (wessen Herrschaft, dessen Glaube) setzte sich weitgehend durch. Sowohl für die heimische Bevölkerung als auch für die Einwanderer war die Zugehörigkeit zur katholischen Konfession vorteilhafter. Jedenfalls war die Mehrheit der Bevölkerung Ungarns vom 18. Jahrhundert an wieder katholisch.

38. Marienmädchen

38. Marienmädchen
Mezõkövesd

39. Weizeneinsegnungsprozession

39. Weizeneinsegnungsprozession
Nádújfalu, Kom. Heves

62 Prozent der Gesamtbevölkerung waren in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts katholisch, und zwar gilt dies besonders für Westungarn und den Norden des Landes. Die Anhänger der reformiert-kalvinistischen Kirche – mit einem Anteil von 22 Prozent – lebten in erster {G-117.} Linie in den Gebieten östlich der Theiß, während die evangelisch–lutherische Konfession (6 Prozent) in verschiedenen Teilen des Landes verbreitet war. Der überwiegende Teil der Ungarn Siebenbürgens gehörte den verschiedenen protestantischen Konfessionen (reformiert, unitarisch, lutherisch) an, obwohl in großen und zusammenhängenden Gebieten (Csíkszék) mitunter nur Katholiken lebten. Die Gläubigen der einzelnen Konfessionen sonderten sich in den Dörfern mit gemischter Religionszugehörigkeit in Sitten und Gebräuchen, oftmals auch in der Tracht und in der Ernährung voneinander ab. Die sogenannte Mischehe war kirchlicherseits im allgemeinen verboten oder zumindest unerwünscht.

Mit Hilfe ihrer Organisation beeinflußte die Kirche in erster Linie das Geistesleben, das sie über Jahrhunderte nahezu vollkommen bestimmte. Diese Tatsache läßt sich unter anderem dadurch erklären, daß die Schulen von der untersten bis zur höchsten Stufe in kirchlicher Hand waren. In diesen Schulen kam die kirchliche Weltanschauung in jeder Hinsicht zur Geltung. Die Kirche – hinsichtlich Ungarns in erster Linie die katholische – war jedoch auch eine weltliche Macht, die riesige Ländereien besaß. So hielt die katholische Kirche Ungarns gemeinsam mit den verschiedenen Mönchsorden noch vor fünfzig Jahren mehr als zehn Prozent des Bodens in ihrer Hand. Hinzu kamen noch die Landdotationen der Dorfpfarrer. Die Kirche als Gutsherr nützte übrigens ihr Gesinde ebenso aus, wie wir dies zuvor im Zusammenhang mit den weltlichen Herrschaftsgütern beschrieben haben.

Die Kirchen erhoben von ihren verheirateten und verwitweten Gläubigen im allgemeinen Kirchensteuern, die Lektikale. Die Höhe der Steuer veränderte sich von Zeit zu Zeit und war regional und sogar von Dorf zu Dorf verschieden. Teils wurde die Steuer in Geldbeträgen, teils in Naturalien entrichtet. Im allgemeinen war die Abgabe im Herbst, also nach der Ernte, fällig. Außerdem wurde an jedem Sonntag auch in der Kirche mit der Büchse gesammelt; vom Ertrag stand bei den Katholiken ein Teil als Peterspfennig dem Papst zu. Für die Ausübung der priesterlichen Funktionen (Taufe, Trauung, Beerdigung), {G-118.} zahlte man dem Priester eine sogenannte Stolagebühr in bestimmter Höhe.

Die dörfliche Organisation der katholischen Kirche war zentral gelenkt. Der Pfarrer wurde vom Bischof ernannt, der Vorsitzende des Kirchenrats wurde am Ort unter den wohlhabendsten und glaubenseifrigsten Kirchenmitgliedern gewählt. Der Mesner oder Sakristan halfen dem Pfarrer bei der Vorbereitung des Gottesdienstes und hielten die Kirche sauber. In der Regel versahen sie auch die Glöckner- und Botendienste. Für ihr Amt stand ihnen eine bestimmte Entlohnung zu, die früher vor allem in Naturalien erfolgte. Für das Läuten der Totenglocke bekamen sie eine besondere Entlohnung.

40. Inneres einer reformierten Kirche

40. Inneres einer reformierten Kirche
Szenna, Kom. Somogy

41. In der Kirche

41. In der Kirche
Vista, ehem. Kom. Kolozs, Rumänien

Die Dorforganisation der protestantischen Kirchen hatte einen demokratischeren Charakter, was auch darin zum Ausdruck kam, daß der Geistliche von der Gemeinde gewählt wurde, aber in früheren Zeiten auch von ihr entlassen werden konnte, wenn er aus irgendeinem Grund {G-119.} den Vorstellungen nicht entsprach. An der Spitze des Kirchengemeinderates stand der Kurator, der als weltliches Oberhaupt der örtlichen Kirchengemeinde galt. Er verwaltete das Vermögen der Kirche und gab dem Kirchengemeinderat darüber fallweise Rechenschaft. Der Küster war in bestimmten Fällen Stellvertreter des Geistlichen. Er half diesem beim Austeilen des Abendmahls, wozu die wohlhabenderen Gläubigen der Reihe nach Brot und Wein spendeten. Der Glöckner versah als bezahlter Angestellter sämtliche Aushilfsarbeiten.

Nach allgemeiner Auffassung war der Kirchgang am Sonntag obligatorisch. Am Vormittag blieben die Frauen zu Hause, um das Mittagessen zu kochen, am Nachmittag die Männer, um das Vieh zu füttern. An der Wochentagsandacht waren nur die Alten zugegen, vor allem die Frauen. Nach dem Sonntagsgottesdienst blieben die Männer noch vor der Kirche zusammen, um die neuesten Nachrichten zu besprechen. Um diese Zeit trommelte der Gemeindediener die Verfügungen und Anordnungen aus.

42. Sonntags nach dem Gottesdienst

42. Sonntags nach dem Gottesdienst
Szék, ehem. Kom. Szolnok-Doboka, Rumänien

Zur Hauptfunktion der Kirche gehörte es, bei den drei großen Ereignissen im Leben des Menschen zugegen zu sein und den dazu gehörenden rituellen Rahmen zu vermitteln. Durch die Taufe wurde das Kind in die Kirche aufgenommen, bei der Eheschließung wurde der Bund zweier Menschen gesegnet, und schließlich segnete der Geistliche den Verstorbenen ein und begleitete ihn auf seinem letzten Weg zum Grabe. All diese Ereignisse wurden in den Kirchenbüchern vermerkt, die in den ungarischen Kirchen vom 17. Jahrhundert an, allgemein {G-120.} jedoch erst seit dem i8. Jahrhundert systematisch geführt wurden. Vom Ende des vergangenen Jahrhunderts an wurde die Funktion der amtlichen Führung des Standesregisters vom Staat übernommen; Eintragungen in Kirchenbücher erfolgten zwar auch weiterhin, wurden jedoch von den staatlichen Behörden nicht mehr anerkannt.

In Moralfragen kam der Kirche auch eine wichtige Straffunktion zu. Diejenigen, die gegen die Moralnormen verstoßende Kleidung trugen, sich skandalös benahmen, sich dem Trunke ergaben, fluchten oder Unzucht trieben, wurden schwer bestraft. Noch im 18. Jahrhundert wurden die Sünder an den Pranger gestellt und zur Kirchenabbitte verurteilt, sie mußten sich vor der ganzen Gemeinde zu ihren Sünden bekennen und ein Gelöbnis ablegen, daß sie sich bessern würden.

Vom Mittelalter an hatte die Kirchenmusik Einfluß auf die Volksmusik. Seit dem Mittelalter finden sich in den Märchen und Sagen der Bauern Gleichnisse aus der Predigtliteratur. Die Kirchen waren Initiatoren und Verbreiter dramatischer Spiele religiösen Inhalts.