{G-247.} Der Weinbau und die Weinbereitung

Der Weinbau besaß im Leben des ungarischen Volkes stets eine außerordentliche Bedeutung. Ungarische Wörter wie szõlõ (Traube), bor (Wein), szûr (filtern), seprõ (Hefe) und ászok (Lager, Kanter) oder auch homlit (absenken, ablegen), bujt (senken), lyuk (Loch) und pince (Keller) stammen aus der Zeit vor dem Einzug der Ungarn ins Karpatenbecken und beweisen, daß die Ungarn bereits im Chasarischen Kaganat mit dem Weinbau bekannt geworden sind. Die bisherigen Untersuchungen belegen, daß die Spuren der aus dem Osten mitgebrachten Werkzeuge und Verfahren im Weinbau zumeist im nordöstlichen Teil des Sprachraumes vorkommen. In Westungarn hingegen findet man spezifische Züge, die an einstige römische Traditionen erinnern. Die vorhandenen reichen Kenntnisse wurden durch die im Weinbau erfahrenen Wallonen erweitert, die sich im 12. und 13. Jahrhundert auf ungarischem Gebiet ansiedelten, des weiteren durch die Serben und andere südslawischen Völker, die vor den Türken flohen, und später vermittelten auch noch deutsche Siedler aus dem Westen Kenntnisse im Weinbau.

Abb. 90. Weinrebenformen und Schnittarten.

Abb. 90. Weinrebenformen und Schnittarten.
Gyöngyös und Umgebung, 19. Jahrhundert.
a) Rückschnitt aufs Auge; b) Rutenschnitt, c) Reifenschnitt; d) an einen Hilfspfahl befestigte Rebenrute; e) in die Erde gesteckter Ableger

Im letzten Jahrhundert waren rund 3 bis 5 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche Ungarns Rebareal. Die Reblausplage brachte jedoch Ende des vorigen Jahrhunderts große Verheerungen, und bei dem nachfolgenden Neubeginn des Weinbaus kam es zu bedeutenden strukturellen Veränderungen. Im 19. Jahrhundert beliefen sich die auf Sandboden angebauten Rebkulturen auf etwa 14 Prozent des gesamten Weinbaugebietes; dieser Prozentsatz erhöhte sich nach dem Neuaufbau bedeutend, da sich die Reblaus auf Sandboden nicht vermehren kann. So befinden sich heute 41 Prozent der gesamten Rebflächen Ungarns auf bindigem Boden und 59 Prozent auf Sandboden. In den traditionellen Weingegenden wurden nach der Reblausplage nur teilweise wieder neue Weinstöcke angepflanzt.

In Ungarn sind seit dem Mittelalter hochbedeutende Weinbaugebiete bekannt. Besonders Sopron, Eger, Villány und Szekszárd, wo zumeist Rotweine gezogen werden, haben historische Bedeutung. Weißweine werden vor allem in Tokaj-Hegyalja, in der Balatongegend, in Gyöngyös und in Mór angebaut. Von den zahlreichen althergebrachten Sorten soll der Furmint erwähnt werden, der in Tokaj-Hegyalja gezogen wird und vermutlich von einstigen wallonischen Siedlern eingeführt worden ist.

Abb. 91. Rebmesser.

Abb. 91. Rebmesser.
1. Tokaj-Hegyalja; a. Tihany; 3. Kom. Bács; 4. ehem. Kom. Torontál; 5. Székesfehérvár, zweite Hälfte 19. Jahrhundert

Das Setzen der Reben und der Rebschnitt begannen gewöhnlich im März. Man hielt sich an die Regel, dann mit der Arbeit im Weinberg zu beginnen, wenn die ersten Obstbäume blühten. Der Rebschnitt ist im Weinbau besonders wichtig, da dadurch Quantität und Qualität der Ernte bestimmt werden. Früher wurde in Ungarn zumeist auf Kahlkopf (kopaszfej) geschnitten, das heißt, man ließ auf dem runden Weinstock nur ein Auge. Ende des vorigen Jahrhunderts wurde der Weinstock dann überall, auch in Tokaj-Hegyalja, auf zwei oder drei Augen zurückgeschnitten. In Siebenbürgen und am Fuße des Mátragebirges war die Bogenerziehung (karikás mûvelés) üblich. Die belassenen Tragreben wurden an beiden Seiten in großen Bögen an den Weinstock gebunden, so daß sie eine 8 bildeten.

Abb. 92. Buttenformen

Abb. 92. Buttenformen
1. Budaer (Ofner); 2. Zalaer; 3. Gyöngyöser; 4. Tokaj-Hegyaljaer, erste Hälfte 20. Jahrhundert

Das Werkzeug für den Rebschnitt, das charakteristisch geformte {G-248.} Rebmesser, kann bis ins Altertum zurückverfolgt werden. In Ungarn sind viele regionale Varianten bekannt. Besondere Beachtung verdienen die Formen, die an der einen der Klinge gegenüberliegenden Seite ein mehr oder weniger breites Beil haben, mit dem man beim Stutzen die verdorrten Teile und die Rinde des Weinstockes entfernen konnte. Gewisse Abweichungen dieses Typs kommen im südlichen Teil Westungarns und in Tokaj-Hegyalja vor. Ihren Ursprung nachzuweisen ist schwer; sie gehen wahrscheinlich auf die Kelten zurück, doch ist es auch möglich, daß sie von den Wallonen mitgebracht worden sind und sich von deren Siedlungen in der Tokajgegend aus in bestimmten Regionen der Tiefebene verbreitet haben. Mit diesem Messer schnitt der Winzer die Rebe beim Stutzen mit einer schnellen Stoßbewegung nicht länglich, sondern rund, horizontal. Das brachte den Vorteil, daß der Saft an der Schnittstelle nach jeder Seite abfließen konnte. Die Rebscheren kamen Mitte des vorigen Jahrhunderts auf und verdrängten bis zum Beginn unseres Jahrhunderts die Schnittmesser völlig.

Die Weinberge wurden früher nur zweimal gehackt, und wenn sie verunkrauteten, entfernte man das Unkraut mit der Sichel vor der Lese. Der Wein wurde – besonders in einigen Gegenden – schon früh zur Handelsware, weshalb man danach trachtete, seine Qualität durch verbesserten Anbau zu erhöhen. In Tokaj-Hegyalja wurde schon im 16.–17. Jahrhundert dreimal gehackt, was sich in anderen Weinbaugebieten erst im 19. Jahrhundert durchsetzte. Ein Teil der ungarischen Weinberge hatte bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts keine Reihenkultur, so daß hier das Hacken zumeist aus dem jäten des Unkrauts und der Auflockerung des Bodens bestand. Im größten Teil des Landes überwogen die in Reihen gepflanzten Rebstöcke, die auf Balken gehackt wurden, das heißt, der Weinstock stand in der Furche, wodurch er eine größere Menge Niederschlag erhielt.

Wenn der Wein blühte, durfte man zwischen den Weinstöcken nicht umhergehen, weil dies deren Wachstum beeinträchtigte, wie die Winzer annahmen. Der Weinberg wurde vom Weinhüter bewacht. Wenn die Trauben zu reifen begannen, wurden die Balken zwischen den Reihen geharkt, damit jede Fußspur sichtbar wurde. Der Weinhüter ging fortwährend herum, um mit Ratsche und Peitschengeknall die Vögel zu verscheuchen. Gleichzeitig tat er damit auch allen unredlichen Leuten kund, daß der Weinberg bewacht wurde.

Der Zeitpunkt der Weinlese wurde früher von den Behörden beziehungsweise vor der Aufhebung der Leibeigenschaft vom Fronherrn {G-249.} festgesetzt. In südlichen Gegenden begann die Lese im September, oft zu Michaelis (29. September). Im nördlichen Tokaj-Hegyalja wurde damit bis zum Tage von Simon-Juda (28. Oktober) gewartet, so daß die Lese hier bis in den November hineinreichte, und es kam sogar vor, daß man die Trauben im Schneetreiben erntete oder unter dem Schnee hervorlesen mußte.

Die Weinlese war zur Hälfte Arbeit, zur Hälfte ein Fest. Vom frühen Morgen an lasen zumeist Frauen und Mädchen die Trauben in Zuber und Eimer, die Männer trugen sie in Bütten zum Sammelplatz. Mittags wurde im Freien gekocht, und die Lesearbeiter bekamen Wein; gegen Abend erschienen auch Zigeuner, und die Tagesarbeit wurde oft mit Tanz beendet. Die Helfer durften – abgesehen von der Bewirtung – so viele Trauben mitnehmen, wie ihr Zuber fassen konnte, und natürlich durften sie auch mit Gegenleistungen rechnen.

113. Vorbereitung auf die Weinlese

113. Vorbereitung auf die Weinlese
Sióagárd, Kom. Tolna

114. Ständerpresse, 1750

114. Ständerpresse, 1750
Balaton-Oberland

{G-250.} Der festliche Charakter der Weinlese wird auch dadurch belegt, daß im 18. und 19. Jahrhundert zu dieser Zeit in den Ständen und Dörfern die Gerichte nicht tagten und die Schulkinder Ferien erhielten. Wenn die Weinlese in der gesamten Gemarkung beendet war, wurden auf den Straßen mit Wagen und Pferden Umzüge veranstaltet. Zu den traditionellen Teilnehmern gehörten Spaßmacher, Zigeuner; manche Reiter maskierten sich als Türken – wahrscheinlich eine Erinnerung an die Türkenzeit. Aus Trauben band man einen glockenförmigen Kranz, der dem ersten Mann der Gemeinde oder Stadt dargebracht wurde. Nach beendeter Weinlese durfte auch der Ball nicht fehlen.

Die Verarbeitung der Trauben zu Wein kostete viel Mühe. Zuerst wurden die Trauben in Weinkufen gestampft, dann barfuß getreten, und schließlich folgte das Keltern. Die ältesten Weinpressen im Karpatenbecken sind die Ständerpressen (bálványos sajtó). Mit einem gewaltigen Balken wurden die Trester in einem Behälter aus Gerten oder durchlöcherten Brettern ausgepreßt. Bei der einfachsten Form zog den Balken ein Stein hinunter, andere Pressen konnten mit einer Schraube nach Wunsch eingestellt werden. Die größten, oft 8 bis 10 m langen und 3 m hohen Ständerpressen gab es auf größeren Gütern, wo auf einmal größere Mengen ausgepreßt wurden. Die großen Pressen leisteten eine gründliche Arbeit.

Abb. 93. Balkenpresse

Abb. 93. Balkenpresse
Cserfõ, Kom. Zala, um 1940

In kleineren Bauernwirtschaften wurden häufiger die Spindelpressen (középorsós sajtó) verwendet. In den oberen Balken hatte man in älterer Zeit eine Spindel aus Holz, später eine Spindel aus Eisen eingefügt, die man drehen konnte und mit deren Hilfe man den Trester {G-251.} in dem Bretterbehälter auspreßte. Die bisherigen Forschungen haben, ergänzt durch Statistiken des vorigen Jahrhunderts, ergeben, daß die Weinpressen in Westungarn im allgemeinen stärker verbreitet waren als im Nordosten des ungarischen Sprachraumes. Die Ursache dafür ist vielleicht darin zu sehen, daß man im letzteren Gebiet großes Gewicht auf Qualität legte und Preßwein für weniger wertvoll hielt. Man unterschied im Nordosten zwischen purem Wein und Preßwein, wobei der Preis des puren Weins wesentlich höher lag.

Abb. 94 Mittelspindelpresse.

Abb. 94 Mittelspindelpresse.
Balaton-Oberland, zweite Hälfte 19. Jahrhundert

115. St. Urban, Schnitzerei auf einem Faßboden Ungarn

115. St. Urban, Schnitzerei auf einem Faßboden Ungarn

In einigen Gegenden, vor allem in Tokaj-Hegyalja, wurden von derselben Traubensorte bereits im 16. und 17. Jahrhundert verschiedene Weine bereitet. Man ließ, wenn der Herbst günstig war, die Weinbeeren am Weinstock trocknen und schrumpfen. Aus der Spätlese bereitete man den weltberühmten Ausbruchwein. Die trockenen Beeren wurden entweder gleich von den Weinstöcken in separate kleine Gefäße gelesen, oder sämtliche Trauben aus einer Bütte wurden auf einem sehr großen Tisch ausgebreitet, und die Frauen klaubten die Dörrtrauben heraus. Diese ließ man zunächst in einer Kufe mit durchlöchertem Boden stehen, aus der die Essenz von selbst heraustropfte. Der Zuckergehalt der Essenz ist so hoch, daß sie nur schwer gärt. Zu einer Grundeinheit – vom 17. Jahrhundert an ist es das Gönczer Faß, das etwa 140 Liter faßte – werden je nachdem, wie stark und süß man den Ausbruchwein bereiten will, mehr oder weniger viele Bütten Dörrtrauben hinzugegeben. Drei- bis sechsbüttige Ausbruchweine kommen am häufigsten vor. Auch diese Mischung gärt recht langsam. Sie bleibt 3 bis 4 Jahre in den Fässern, bis der Wein vollkommen abgeklärt ist, {G-252.} der erst dann auf 1/2 Liter-Flaschen abgefüllt wird, eine Spezialform, die seit rund zwei Jahrhunderten als Abfüllflasche für den Tokajer Ausbruch üblich ist.

Die wichtigste Bedingung für das Ausreifen und die mehr oder minder lange Lagerung des Weins ist der Keller. Hier zeigen sich wieder große Unterschiede zwischen West- und Ostungarn. In Westungarn befinden sich in den Weinbergen größere Weinhäuser mit Holz- und Steinwänden, in denen die Weinpresse und allerlei Geräte, die zur Weinbereitung erforderlich sind, untergebracht werden. Von hier gelangt man hinunter in das sogenannte Kellerloch, das in den Stein oder in die Lößwand gehauen ist. Im Osten hingegen, unter anderem in Tokaj-Hegyalja, befinden sich die Keller stets innerhalb der Ortschaft oder zumindest am Dorfrand in Gruppen. Sie sind gewöhnlich sehr tief, so daß sie den Wein im Sommer und Winter auf gleicher Temperatur (10–12 °C) halten. Über den Kellern wurden Weinhäuser äußerst selten und nur in jüngerer Zeit gebaut, da die Traubenverarbeitung {G-253.} zumeist im Freien vor sich ging. Höchstens baute man einen Vorraum vor den Kellereingang für die Presse, die sich hier in den letzten 100 Jahren allgemein durchgesetzt hat und heute bereits in jeder Weinbauwirtschaft verwendet wird.

So finden wir also auch im Weinbau eine zweifache Entwicklung, auf die wir schon öfter hingewiesen haben. Der westliche Teil des Karpatenbeckens zeigt eine engere Anlehnung in westlich-südwestlicher Richtung, während die östlichen Teile eher eine östlich-südöstliche Orientierung aufweisen.