Ungarische Tiefebene

Die zahlreichen ethnischen Gruppen der Großen Tiefebene lassen sich noch schwerer als die oben besprochenen systematisieren und zahlenmäßig erfassen. Wir wollen mit jenen beginnen, die durch weit zurückreichende Sonderrechte zusammengehalten wurden, zumal diese auch die Gestaltung ihrer Bauernkultur entscheidend beeinflußten. Die turkstämmigen Kumanen gelangten Mitte des 13. Jahrhunderts auf der Flucht vor den Mongolen nach Ungarn. Die Könige überließen ihnen Siedlungsland im mittleren Teil der Tiefebene und gestanden ihnen beachtliche Privilegien zu. Anfangs führten die Kumanen hauptsächlich ein Hirtenleben, später wurden sie jedoch seßhaft, und im Verlauf einiger Jahrhunderte vermischten sie sich mit den Ungarn. Der größte Teil der Kumanen lebte in Marktflecken, wo sie gegenüber den sich ansiedelnden Bauern und Adligen eifersüchtig über ihre Privilegien wachten. Die Habsburger entzogen ihnen 1702 die Vorrechte, die sie 40 Jahre später gegen einen hohen Preis vom Deutschritterorden, der hier gegen sie eingesetzt worden war, zurückkaufen mußten. Die Großkumanen lebten im Mittelabschnitt des {G-48.} Gebietes links der Theiß. Karcag bildete das Zentrum ihrer Siedlungen. Die Kleinkumanen siedelten im Donau-Theiß-Zwischenstromland, ihre Hauptmannschaft hatte ihren Sitz in Kiskunfélegyháza. Der Familienverband und die Organisation des Gemeinwesens der Kumanen blieben bis zum endgültigen Erlöschen ihrer Privilegien (1876) beinahe unberührt. Sie gehören überwiegend der reformierten (kalvinistischen) Kirche an und haben zahlreiche Stücke der Tieflandtracht fast bis in unsere Tage beibehalten. In Volkspoesie, Musik und Glaubenswelt lassen sich mehr östliche Züge als bei anderen Gruppen nachweisen.

Die Jazygen leben in der Umgebung der Zagyva, einem rechten Nebenfluß der Theiß. Im Norden befinden sie sich in palotzischer Nachbarschaft. Die Jazygen sind indoeuropäisch-alanischer Abstammung. Sie genossen ähnliche Privilegien wie die Kumanen, mit denen sie zur gleichen Zeit nach Ungarn kamen. Gemeinsam unterstanden sie einer Oberhauptmannschaft mit Sitz in Jászberény. Nach der Vertreibung der Türken wanderten Schwärme der geburtenfreudigen Jazygen nach Süden, besiedelten Kleinkumanien (Kiskunság), die Gegend östlich der Theiß (Tiszántúl), ja sogar die Batschka (Bácska) und auch das Banat. Sie waren überwiegend römisch-katholisch. Der Ackerbau setzte sich bei ihnen rascher durch als bei den Kumanen. Von ihren Nachbarn unterscheiden sie sich durch ihre charakteristische Tracht und eine reiche Glaubenswelt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist – ebenso wie bei den Kumanen – auch heute noch stark ausgeprägt.

Die Städte und Dörfer der Heiducken (hajdú) finden sich im Mittelabschnitt des Gebiets östlich der Theiß, im heutigen Komitat Hajdú. Ihr Name leitet sich aus ihrer Beschäftigung als Viehtreiber (Hirten, hajtó = Treiber) ab. Später verdingten sie sich größtenteils als Söldner zu Fuß. Stephan Bocskai (1557–1606), Fürst von Siebenbürgen, siedelte im Jahre 1605 rund 10 000 Heiducken auf seinen Gütern in der Tiefebene an und garantierte ihnen das sogenannte Heiduckenrecht, wonach sie zum Soldatendienst verpflichtet, jedoch von jeglicher gutsherrlicher und staatlicher Steuer befreit waren. Bei den Kumanen und Heiducken wurde die extensive Viehhaltung am längsten beibehalten. Lange Zeit wurde Ackerbau nur zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse betrieben. Sowohl in Kumanien als auch im Heiduckenland entstanden vom 17. Jahrhundert an Einödhöfe, die sich anfangs zu Zentren der Viehhaltung und später des Ackerbaus auswuchsen. Die Heiducken sind überwiegend reformierter, zum kleineren Teil griechisch- beziehungsweise römisch-katholischer Konfession.

13. Kumanen

13. Kumanen
Kunszentmiklós, Kom. Bács-Kiskun

Die kleineren oder größeren Marktflecken der Tiefebene und die sie an Größe übertreffenden königlichen Freistädte können auch als ethnische Inseln begriffen werden, da sie durch die Wahrung ihrer Privilegien introvertierte Züge annahmen und ein selbständiges Profil entwickelten. Das gilt vor allem für die Städte, deren Regierung in den Händen der Bauernschaft lag, nämlich die Städte Cegléd, Nagykõrös und Kecskemét zwischen Donau und Theiß, die unter dem Begriff „die drei Städte“ bekannt waren. Der Charakter dieser Städte wurde bestimmt vom Zusammenleben der wohlhabenden Bauernschaft, des in ihrem Schatten existierenden Gesindes, der Handwerker und der Kaufleute. Hier entwickelte sich am frühesten eine Intensivwirtschaft, die sich in {G-49.} der Hauptsache auf den Gemüse-, Obst- und Weinanbau konzentrierte. Eine ähnliche Bedeutung kommt der im Süden der Tiefebene an der Theiß gelegenen Stadt Szeged mit einem gewaltigen Ring von Einödhöfen in ihrem Umkreis und ihren sich weit nach Süden ausdehnenden Bevölkerungsgruppen zu. Die Schiffer und Fischer dieser Stadt bildeten ebenso eine Sonderschicht wie ihre typischen Handwerker, die Messerschmiede, Pantoffelmacher und Knopfmacher, die ihre Waren weithin verkauften. Das Land um Szeged ist auch das älteste Zentrum der Paprikabauern, die einen selbständigen Gewerbezweig entwickelten. Hódmezõvásárhely, weiter nördlich an der Theiß gelegen, brachte es durch seine reiche dekorative Volkskunst zu Berühmtheit. Debrecen ist die bedeutendste Stadt östlich der Theiß. Ihre traditionsreiche reformierte Schule hatte vom 16. Jahrhundert an in weitem Umkreis bedeutenden kulturellen Einfluß. Der Begriff „civis“, wie sich die „Bürger” von Debrecen nannten, erstreckte sich gleichermaßen auf alle wohlhabenden Einwohner, die Landwirte, Handwerker und. Kaufleute. Debrecen war ein wichtiges Handelszentrum, das Kontakte zu Siebenbürgen, Pest und ebenso zu Oberungarn unterhielt. Als typische Erzeugnisse der Stadt sind anzuführen: Szûr (mit Stickerei verzierter Bauernmantel), Guba (Wollmantel), Pelze, Tonwaren und Sattlerwaren – alles Erzeugnisse, die weit und breit Maßstäbe setzten.

14. Dorfpartie

14. Dorfpartie
Jászjákóhalma, Kom. Szolnok

Von den vielen ethnischen Gruppen der Großen Ungarischen Tiefebene ist auch die Bevölkerung aus der Umgebung von Kalocsa zu erwähnen, die sich nach der Vertreibung der Türken – zumeist aus verschiedenen Teilen des Landes kommend – in dieser Gegend ansiedelte. {G-50.} Die Kalocsaer waren ebenso tüchtig im Paprikaanbau wie die Szegeder, sie haben aber auch hierbei viele individuelle Züge bewahrt. Durch ihre vielfarbigen Stickereien, ihre Wandmalereien und besonders ihre farbenprächtige Volkstracht unterscheiden sie sich nicht nur von anderen Gruppen, sondern erlangten auch im Landesmaßstab Berühmtheit.

Die Bácska (Batschka) dehnt sich im unteren Abschnitt des Donau-Theiß-Stromlandes aus und gehört zu Jugoslawien, während das Flachland Banat, das teils zu Rumänien, teils zu Jugoslawien gehört, von den Flüssen Maros, Theiß und Donau begrenzt wird. Während der Türkenherrschaft starb die Bevölkerung dieser Gegend weitgehend aus, und das Gebiet wurde erst im i8. Jahrhundert wieder besiedelt. So ist beinahe jedes Dorf eine besondere ethnographische Einheit, in dessen Kultur die aus verschiedenen Landstrichen mitgebrachten Elemente durchschimmern und sich mit dem von anderen Völkern übernommenen Kulturgut verschmelzen. Der Bezirk Békés, wo die ungarische Majorität zusammen mit Rumänen, Slowaken und Deutschen lebt, hat eine ähnliche historische und ethnographische Vergangenheit. Obwohl einige Merkmale in entfernte Regionen weisen, hat sich die Bauernkultur – vor allem die reiche Volkskunst – dennoch in einem für die Ungarische Tiefebene typischen Stil entwickelt.

Das größte Moorgebiet östlich der Theiß wird Sárrét (Ried) genannt. Man unterscheidet zwei Teile des Rieds: Nagysárrét (Großes Ried) im Komitat Bihar in der Umgebung des Flusses Berettyó und Kissárrét (Kleines Ried) in der Gegend der drei Körös-Flüsse, das allerdings schon mehr zum Bezirk Békés gehört. Die ursprüngliche Bevölkerung wurde {G-51.} während der Türkenkriege größtenteils ausgerottet. An ihrer Stelle siedelten sich viele Heiducken und Kumanen an. Bis zur Mitte, stellenweise sogar bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts wurde der Charakter der Landschaft durch das Wasser bestimmt. Die Hauptbeschäftigung der Bevölkerung bestand im Fischfang, in der Jagd, in der extensiven Viehhaltung und in der Schilfverarbeitung. Nach der Trockenlegung der Moore wurde auch hier der Ackerbau vorherrschend. In der Glaubens- und Sagenwelt der Menschen haben sich beinahe bis in die Gegenwart hinein viele östliche Elemente erhalten.

Die Überschwemmungen der Theiß und die ständig vorhandenen Sümpfe formten das Leben der Menschen in den Landschaften Nyír (Birken) und Rétköz (Moorinsel). Ackerbau war nur auf den kleineren und größeren Inseln möglich. Neben dem hier seit langem als Gemüse angebauten Kohl wurden auch bald Kartoffeln und Sonnenblumen heimisch. Die 28 zusammengehörenden Siedlungen des Rétköz hörten an der Theiß nicht auf, sondern standen in enger Beziehung zum Landstrich Bodrogköz (Bodroginsel), wo auf der von den Flüssen Bodrog, Latorca und Theiß gebildeten Insel eine im großen und ganzen einheitliche Kultur etwa fünfzig Siedlungen zusammenfaßte. Wegen der hier allgemeinen Großfamilienorganisation, der reichen Webekunst, der mannigfachen Glaubenswelt sowie der Märchen und Sagen verdient Bodrogköz besondere Erwähnung. Am rechtsseitigen Theißufer, zwischen Tokaj und Tiszadob, erstrecken sich die Siedlungen von Taktaköz, deren einstige Kultur mit der zuvor besprochenen viele ähnliche Züge aufweist.

Der Tiszahát (Theißrücken) schließt nördlich der Theiß, der Szamoshát (Szamosrücken) rechts von diesem Fluß ein Flachland ein. Auch hier wurde das Leben einst vom Wasser geprägt. In den großen Überschwemmungsgebieten und den Eichen- und Buchenwäldern dieser Gegend wurden riesige Schweineherden gemästet. Aus dem Holz der Wälder stellte man Leiterwagen und Werkzeuge her. Die hausgewebten Stoffe, die Stickereien, die einfache Volkstracht und die reichen folkloristischen Traditionen blieben beinahe bis in unsere Tage erhalten.