{G-569.} Balladen aus der Glaubenswelt

Mit dem Volksglauben zusammenhängende beziehungsweise den Volksglauben episch verwertende ungarische Balladen gibt es natürlich noch andere, aber ihre Zuordnung bleibt schwierig. So enthält die Ballade Kata Kádár gleich zwei Motive des Volksglaubens: das sich verhängnisvoll blutig verfärbende Tuch und die aus dem Grab wachsende sprechende Blume (beide Motive finden sich häufig auch in anderen Balladen und Märchen), doch gehört sie ihrem Charakter nach eher zu den Versnovellen. Ein abergläubisches und gleichzeitig märchenartiges Motiv spielt bei der Flucht der Wunderschönen Kata Bán eine Rolle und erklärt ebenso die Klagen der Drei Waisen. Sogar in der einen oder der anderen Betyárenballade scheinen solche Motive auf und spiegeln die Naturauffassung und den Volksglauben mehrerer Jahrhunderte wider. Alles dies beweist, daß es schwer ist, hier starre Grenzen zu ziehen und daß die Volksdichtung auch ältere Motive zu neuem Leben erwecken und mit neuem Gehalt erfüllen kann.

Zu den auf Motiven des Volksglaubens beruhenden Balladen gehören auch die Balladen, die sogenannte religiöse Motive enthalten. Unter diesen finden sich solche von hinreißender Schönheit, wie die Ballade von Julia, schönes Mädchen, unter deren einzelnen Motiven einige ungarische Forscher teils heidnische, teils christlich-religiöse Motive erkennen wollen.

Julia, schönes Mädchen
 
Julia, schönes Mädchen, ging aufs Feld hinaus,
Wollte Blumen pflücken, einen ganzen Strauß.
Flockenblumen, blaue, konnt sie viele finden,
Aus den blauen Blumen einen Kranz sich winden.
 
Auch zum Himmel blickte sie hinauf mitunter,
Ei, da kam ein Pfad aus Himmelshöh’n herunter,
Darauf sah ein Lämmlein sie herabspazieren,
Mond und Sonne seine beiden Hörner zieren.
Sah auch einen Stern ihm auf der Stirne prangen
Und zwei gold’ne Brezeln auf den Hörnern hangen,
Kerzen auf der rechten Seite und der linken
Und an jedem Wollhaar goldne Sterne blinken.
 
Spricht zu ihr das weiße Lämmchen diese Worte:
„Julia, schöne, fürcht dich nicht an diesem Orte.
Von den Himmelsjungfrau’n fehlt jetzt gerade eine,
Wenn du mit mir gingest, würd’st du dort die meine.
Darum höre gut zu, diese Botschaft send’ ich:
Komm und mach die heilige Reihe mir vollständig.
Nimm den Himmelsschlüssel da in deine Hände,
Bei dem ersten Hahnschrei ich mich an dich wende,
Bei dem zweiten Hahnschrei ich dich für mich küre,
Und beim dritten Hahnschrei ich dich mit mir führe.“
 
Heim zur Mutter läuft die schöne Julia eilig.
„Hör zu, liebe Mutter, was ich sag’, ist heilig.
Blumen pflücken wollt’ ich, ging aufs Feld hinaus,
Band aus Flockenblumen einen ganzen Strauß.
{G-570.} Blaue Blumen konnt ich viel im Weizen finden,
Aus den blauen Blumen einen Kranz mir winden.
Auch zum Himmel blickte ich hinauf mitunter,
Ei, da kam ein Pfad aus Himmelshöh’n herunter.
Darauf sah ein Lämmlein ich herabspazieren,
Mond und Sonne seine beiden Hörner zieren,
Sah auch einen Stern ihm auf der Stirne prangen
Und zwei gold’ne Brezeln auf den Hörnern hangen,
Kerzen auf der rechten Seite und der linken
Und auf jedem Wollhaar gold’ne Sterne blinken.
Sprach zu mir das weiße Lämmlein diese Worte:
Fürcht dich, schöne Julia, nicht an diesem Orte.
Von den Himmelsjungfrau’n fehlt jetzt gerade eine,
Wenn du mit mir gingest, würd’st du dort die meine.
Darum höre gut zu, diese Botschaft send’ ich:
Komm und mach die heilige Reihe mir vollständig.
Nimm den Himmelsschlüssel da in deine Hände,
Bei dem ersten Hahnschrei ich an dich mich wende,
Bei dem zweiten Hahnschrei ich dich für mich küre,
Bei dem dritten Hahnschrei ich dich mit mir führe.
Weine, Mutter, weine, laß mich lebend hören,
Wie du um die Tote fließen läßt die Zähren.“
 
„Tochter, liebstes Kind von allen, die ich habe,
Von dem frühsten Schwarme zarte Honigwabe,
Zarte Honigwabe, Bienenwachs, ein Hauch,
Bienenwachs, hienieden bleibt sein duftiger Rauch,
Duftiger Rauch hienieden, aufwärts steigt die Flamme…
 
Von niemand gezogen, Himmelsglocke läutet,
Von niemand geöffnet, Himmelstür sich weitet,
O weh, meine Tochter wird hineingeleitet.“

Diese in ihrer religiösen Andacht einzig dastehende Ballade, deren Wurzeln bis zur mittelalterlichen Legendendichtung reichen, ist in verhältnismäßig wenigen Varianten bekannt. In Westeuropa kommt dieser Typ häufig und in vielerlei Varianten vor, die der ungarischen aber nur darin ähneln, daß ein Mädchen als Verlobte in den Himmel eingeht. Außer einigen christlichen Symbolen (das Lamm Gottes, die Messekerzen) finden sich aber auch solche aus der früheren Glaubenswelt (der Wunderhirsch, das immer wieder auftauchende, richtungweisende Licht). Die Ballade dürfte im Mittelalter entstanden sein, wodurch die Möglichkeit gegeben war, die beiden Symbolsysteme in einer wunderbaren Ballade zu vereinigen.

Zu dieser Gruppe gehören noch die an die mittelalterlichen lateinischen Disputationes erinnernden Gesänge, beispielsweise der „Wettkampf der Blumen“, welcher aber weniger kirchlich als vielmehr weltlich wie ein Liebeslied endet. Hierher gehören auch die auf den Jahrmärkten angebotenen epischen Gesänge religiösen Charakters, und eine Beziehung besteht sogar zu den frömmelnden Erzeugnissen von Bettelsängern.