Formprobleme der Volksballaden

Im vorhergehenden haben wir die Herausbildung der Ballade, die an ihrer Entstehung beteiligten geschichtlichen Faktoren, die Vortragenden und das namenlose bäuerliche Publikum, das an ihrer Vervollkommnung teilnahm, kennengelernt. Der Reihe nach wurden Entwicklungswege der Ballade, die Anpassung der märchenhaften, novellistischen und abergläubischen Elemente an die epische Vortragsweise der Historiengesänge und das Durchdringen des Prinzips des dramatischen Aufbaus in den epischen und tanzliedartigen Gesängen verfolgt. Im Rahmen dieser gattungsgeschichtlichen Skizze bot sich auch Gelegenheit, den Inhalt und die Aussage der ungarischen Volksballaden zu beschreiben, wie sie sich in ihren Symbolen, ihren Themen, in der Natur der Darstellung widerspiegeln. Aus dem geschichtlichen Überblick ist deutlich geworden, daß die ungarische Volksballade seit ihren ersten Anfängen stets die Gefühle und die Gedankenwelt des ganzen Volkes ausgedrückt und – von der Kampfentschlossenheit bis zur Klage über das bittere Los des Flüchtlings – das Leben des in sein hoffnungsloses Schicksal verstrickten Volkes besungen hat.

Es lohnt sich jetzt, wenn auch nur skizzenhaft, einen Blick auf die formalen Probleme der ungarischen Volksballade zu werfen. Es liegt auf der Hand, daß die formalen Fragen dieser so vielschichtigen und in wesentlichen Eigenschaften sozusagen alle Gattungen in sich vereinigenden dichterischen Welt, wie sie die Volksballade darstellt, eigentlich eine formale Analyse der Gattungen der gesamten ungarischen Volksdichtung notwendig machen. Denn gerade diese gattungsmäßige {G-590.} Vielschichtigkeit und Zusammengesetztheit erklärt uns den unüberschaubaren Reichtum ihrer Formen: In der Volksballade findet sich jedes formende Prinzip und jedes ausgereifte Ergebnis der Volksdichtung wieder – von der unsicheren Gestalt der Frühformen bis zu den aufs feinste ausgefeilten, tadellos rhythmisierten Dichtungen und vollklingenden Melodien.

Auf die Sprache und den dichterischen Reichtum des sprachlichen Ausdrucks der Volksballaden hat schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts János Erdélyi hingewiesen: „Worin liegt also die Kraft der Volksdichtung? Sie liegt hauptsächlich in der Sprache, in der durchsichtigen, klaren und edlen Vortragsweise… Möge also die Kunstdichtung die Klarheit der Volksdichtung, ihre von jedem Gesetz unabhängigen, gewagten Wortverbindungen und Redewendungen übernehmen.“ An anderer Stelle weist er auf die direkten, gedrängten Ausdrucksformen der Ballade, auf den sparsamen Gebrauch der Attribute hin, beschreibt ferner das Prinzip der Wiederholung und geht dann zu den Problemen der Verslehre über. In der Volksballade hat das Attribut keinen rein ausschmückenden Wert, sondern kommt immer in den entscheidenden Momenten der Darstellung und des Ausdrucks vor. Deswegen wird es vom Volk nur selten, dann aber an den bestimmenden Wendepunkten der Ballade gebraucht.

Die sparsame Anwendung von Attributen und Adverbialbestimmungen ist kein Zeichen von Armut, sie zeigt vielmehr innere Kraft und inneren Reichtum von Gattungen, die zur Bündigkeit und gelungenen Komprimierung befähigt sind. Dies bezieht sich innerhalb der Volksdichtung besonders auf die Balladen, in denen jedes Attribut seinen hervorstechenden syntaktischen und dichterischen Wert hat. Geschichtlich betrachtet, könnte man sagen, daß die neuere ungarische Balladendichtung sich der Attribute und Vergleiche um so häufiger bedient und die Volksdichtung um so mehr stilistische Konzessionen macht, je mehr sie sich unserer Zeit nähert. Bei einzelnen älteren Balladen aber kann die Häufung von Attributen einer individuellen Einmischung oder vortragstechnischen Hilfsmitteln zugeschrieben werden.

Um so mehr und mit um so größerer Vielfältigkeit bedient sich die Volksballade dagegen der Tätigkeitswörter. Die Anschaulichkeit und die Ausdruckskraft, mit der in den ungarischen Balladen die Zeiten und Modi verwendet werden, der vielfältige und in vielen Fällen kumulative Gebrauch der Tätigkeitswörter verdienten ein eigenes Studium. Dies hängt zu einem nicht geringen Grade mit dem dramatischen Aufbau und der dramatischen Konzentration der Volksballade zusammen. In einer so knapp bemessenen epischen Kunstgattung, wie es die Ballade ist, können dramatische Zusammenstöße, Gegensätze von Charakteren und kraftvolle Aktionen nur mittels gewagter und treffender Verbalformen erreicht werden. Die Volksballaden sind darin vorbildlich.

Ein eigenes Kapitel der ungarischen Verssyntax ließe sich mit den Besonderheiten der Volksballaden füllen. Wie die Volksdichtung im allgemeinen, gibt auch die Volksballade mit der vollkommenen Übereinstimmung von Satz- und Versbau den Dichtern ein gutes {G-591.} Beispiel für die bündige Formulierung poetischer Aussage. Die inhaltlich-ausdrucksvolle und dichterisch-darstellende Kraft des Satzes kommt hier in vollkommener Einheit mit dem Vers zur Geltung. Es würde sich lohnen, die dramatischen Zwiegespräche und Zusammenstöße einmal vom Blickpunkt der eigenartigen Syntax des Verses aus zu untersuchen oder den Satzbau in der Ballade je nach dem lyrischen, dramatischen oder epischen Charakter der Aussage zu analysieren. Die Schmiegsamkeit des Satzes in der Ballade, seine sich verhärtende Spannung, die harten Akzente in der dramatischen Ballade, ein andermal seine lyrische Weichheit, gereichen der Volkssprache zu höchstem Lob. Die Ballade zeigt den Dichtern, wie sich die unzähligen Möglichkeiten der Sprache zum Ausdruck kompliziertester Inhalte verwenden lassen.

Wenn man über den Versbau der Ballade spricht, so bedeutet dies – wie schon erwähnt –, auf den Versbau der ganzen Volksdichtung einzugehen. Im Versbau der Ballade haben ungarische Forscher sogleich ein Beispiel für die älteste ungarische Verskunst zu finden geglaubt, doch darf der Unterschied der einzelnen Balladengruppen und geschichtlichen Epochen der Versbildung dabei nicht außer acht gelassen werden. Es gibt Autoren, die daneben noch geographische Unterschiede in Betracht ziehen. Die Balladen der Großen Ungarischen Tiefebene sind melodiöser und lyrischer als die siebenbürgischen, deren epischer Charakter ausgeprägter ist; die ersteren sind in Strophen geteilt und gereimt,. während die letzteren, oft ohne Strophengliederung und Reim, sich mit der Zäsur, der Betonung, dem Stabreim und dem Gedankenrhythmus als versbildenden Mitteln begnügen.

Ein charakteristisches Kennzeichen der Reimtechnik der ungarischen Volksballaden ist der Stabreim beziehungsweise die Wörterwiederholung, die oft die Bildung und den Charakter der Strophe bestimmt und den Refrain ersetzt beziehungsweise ihn schafft. Diesen prosodischen Charakter der Wiederholung haben die Vertreter der Kunstdichtung ebenfalls bemerkt und die auffallende Art von Wiederholungen als besondere ungarische rhythmische Tradition angesehen. Es wäre eine dankbare Aufgabe, diese Arten der Wiederholung von der Alliteration bis zu den refrainbildenden Wiederholungen in ein System zusammenzufassen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen. Die ungarische Volksballade besitzt die Fähigkeit, durch Wiederholung eine dichterische Atmosphäre zu schaffen und das Gewicht des Inhalts hervorzuheben. In den Balladen ist die Wiederholung nicht etwa bloß ein alter Brauch, dessen Überleben in der mündlichen Tradition ohnehin verständlich wäre, sondern ein Mittel des dichterischen Ausdrucks. In den zahllosen. Nuancen der Wiederholung kann man eines der bedeutendsten formenden Prinzipien der ungarischen Volksballade sehen.

Im übrigen lassen sich in der Rhythmik sowie in der Zeilen- und Strophenbildung der ungarischen Volksballaden Spuren jeder bedeutenden Epoche und aller Ergebnisse der geschichtlichen Entwicklung der nationalen Versdichtung auffinden. Dabei ist die Reimtechnik am wenigsten ausgebildet und nicht sehr reichhaltig, wie sich denn die gereimten Stücke am ehesten unter den neueren Balladen finden, {G-592.} wobei von Ausschließlichkeit allerdings auch in dieser Beziehung nicht gesprochen werden kann. An mehr als einem Punkt, und zwar gerade bei den spielerischen, scherzhaften Balladen, ergeben sich Verbindungen zu den auch bei ungarischen Kunstdichtern wirksamen Formen der europäischen Versdichtung. Es kann also gesagt werden, daß sich in den Balladen der ganze geschichtliche Ablauf des ungarischen Versbaus wiederfindet.

Zu den formalen Problemen der ungarischen Ballade – aber schon im Sinne der „nationalen Form“ – gehören ihre Dramatik und der dramatische Charakter ihres Aufbaus. Wenn wir die zwar für die gesamte Gattung Ballade und nicht für die einzelnen Balladen gültige frühere Feststellung gelten lassen, wonach sich ihr im Laufe der geschichtlichen Entwicklung epische, dramatische und lyrische Elemente gleicherweise beigemischt haben, so ist es doch augenfällig, daß in der ungarischen Ballade von den drei großen bestimmenden Formprinzipien das dramatische die hervorragendste Rolle spielte. Im Rahmen der europäischen Volksballade vertritt die ungarische ausgesprochen den dramatisch ablaufenden und dramatisch aufgebauten epischen oder lyrischen Gesang, aber so, daß meist das dramatische Prinzip vorherrscht. Der Aufbau der Volksballaden, die Gegenüberstellung und Zuspitzung von Situationen, die dramatische Abfassung der Dialoge, die Darstellung der Charaktere als geradezu dramatische Helden und ausgebildete Individualitäten in diesen Dialogen sprechen für große Kunst und einen hohen Grad bewußten Dichtertums. Wir glauben, die unbekannten Autoren und Bearbeiter dieser Gedichte mit Recht als bewußte Schöpfer bezeichnen zu dürfen, ohne uns viel um den romantischen Begriff des unbewußt schaffenden Instinkts zu kümmern. Diese schöpferische Dramatik durchdringt – mit Ausnahme der neueren Jahrmarktsballaden, in denen noch der historisierende Vortragston vorherrscht – sämtliche Gruppen der Volksballaden.

Dunkler Sinn und abgerissener Vortrag erzielen keineswegs unbedingt dramatische Wirkung. Das Drama entwickelt sich stets aus Zusammenstößen zwischen Prinzipien, moralischen Auffassungen und Charakteren, aus deren Tragik beziehungsweise Komik, und sucht so nach einer Lösung. Die ungarische Volksballade zeigt eine besondere Neigung, solche Charaktere und Situationen in Dialogform, häufig aber auch in der ersten oder dritten Person darzustellen. Ein ihr eigentümlicher, im übrigen auch mit dem Volksmärchen verwandter Zug ist, sich der dreifachen Wiederholung zu bedienen, die von vornherein geeignet ist, dramatische Steigerung hervorzubringen. Während die dreifach wiederholende Struktur des Volksmärchens (drei Söhne, drei Abenteuer, dreimaliger Kampf mit dem Drachen usw.) sich eher des Mittels quantitativer Steigerung bedient, ist in der Ballade die Steigerung qualitativer Art, steigert die Wiederholung (man vergleiche die Retardierung in „Ilona Görög“, im „Weib des Maurers Klemens“, in den Fragen, die Anna Fehér dem Stuhlrichter stellt usw.), die dramatische Spannung; das Gleiche gilt auch für die Balladen von der bösen untreuen Gattin, von dem von ihren Eltern verlassenen Mädchen und von dem toten Burschen, der auf das Wort seiner Braut hin {G-593.} wieder zu sprechen beginnt. Auch in der Ballade vom Weib des Maurers Klemens steigert die Wiederholung das Schicksalhafte. Aber nicht nur die Wiederholung, auch der dramatische Aufbau gegensätzlicher Szenen und unerwarteter Situationen steigern die eigentümliche Qualität der ungarischen Ballade. In diesem Sinne ist die Ballade wirklich das dramatische Lied.

Zu den formalen Problemen der Ballade gehört auch eine Untersuchung ihrer Melodien. Man weiß, daß die Ballade im Munde des Volkes stets in der Einheit von Text und Melodie erklingt. Heute sieht man immer klarer, daß es mit dieser Einheit von Text und Musik bei der Ballade allein nicht getan ist, daß es daneben eine sehr bedeutende Gruppe mit tragischen und scherzhaften Themen gibt, die durch Spiel und Tanz vorgetragen wurde und stellenweise auch heute noch wird. Diese Verflechtung bedeutet nicht, daß ein bestimmter Text immer nach derselben Melodie gesungen wurde. Schon Bartók hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Melodien der Szekler Balladen alten Stils nicht untrennbar mit den Texten verbunden sind, daß vielmehr Balladen oder lyrische Lieder mit ähnlichem Rhythmus beliebig nach der einen oder anderen passenden Melodie gesungen werden können. Bartók bemerkte aber auch, daß Trennung und neue Verbindung von Text und Melodie nicht alten Datums sind. Selbstverständlich mindert diese Erkenntnis unsere Probleme hinsichtlich der Balladenmelodien nicht, sondern erschwert sie zwangsläufig.

Bartók hat die Melodik der alten ungarischen Volksballaden, den vierzeiligen, isometrischen Strophenbau und die zum großen Teil pentatonische Skala analysiert, dadurch weiß man, daß sich aufgrund der historischen Entwicklung der Balladen – eine ganze Reihe bedeutender Kapitel aus der Geschichte der ungarischen Volksmelodien – in Entsprechung zu den prosodischen Problemen darstellen ließen. Weitere historische Verwandtschaften und Perspektiven sind in bezug auf die Melodien der Historiengesänge besser erforscht worden. Man kennt Balladen, denen die studentische Kollegienmusik, die kirchliche Tonleiter, die ungarische Volksmusik des 16. bis 17. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt haben, und bei einer gewissen Schicht tat es die breite Gruppe der Volksmelodien neuen Stils. Auch dieser „neue“ Stil ist allerdings erst nach einer Vorbereitung von mehreren Jahrhunderten aufgeblüht.