Die Prosavolksdichtung

Die Genres der Volksdichtung in Prosa sind außerordentlich vielschichtig. Sie lassen sich zwar in großen Zügen klar voneinander scheiden, dennoch finden sich zahlreiche Übergänge. Wir behandeln im folgenden die Volksmärchen, die verschiedenen Gruppen von Sagen und Legenden, die Anekdoten und Witze, die immer weiter um sich greifenden Fabulate und Memorate, die Redensarten und Sprichwörter, die Scherzfragen, die so zahlreich in der ungarischen Volksdichtung sind. Die meisten Genres überblicken wir nur in Kürze und widmen lediglich denen mehr Aufmerksamkeit, die am meisten verbreitet sind und aus deren poetischem und Traditionswert wir die meisten Erkenntnisse gewinnen können.

{G-594.} Auf die Existenz und lange Vergangenheit von märchenhaften und mythischen Erzählungen läßt eine eigentümliche Gruppe von Ortsnamen schließen, die bereits im 11. Jahrhundert in verschiedenen Teilen des Landes bei den verschiedensten ethnischen Gruppen aufgrund von Urkunden und historischen Aufzeichnungen greifbar wird. Die Forschung hat diese Angaben bisher ziemlich vernachlässigt. Einige Beispiele: 1075/1217: Usque ad caput loci qui ördög-sara (Teufelsdreck) uocatur (die Zahlen bezeichnen das Datum der Urkunde und ihre etwaige wiederholte Niederschrift); 1270: Quod quidem fossatum wlgariter ördögbarázdája (Teufelsfurche) nuncupatur. Ohne weitere Sätze aus Urkunden zu zitieren, geben wir einige Beispiele für eigenartige Ortsnamen an, die darauf schließen lassen, daß mythenartige und märchenhafte lokale epische Geschichten und Erzählungen dort im Schwange gewesen sein dürften; 1342: ördögkútja (Teufelsbrunnen); 1344 ördögszántása (Teufelsacker); 1416: ördögkõ (Teufelsstein); 1446: bábavölgye (Hexental); ördögmanóvölgye (Teufelskrauttal); 1500–1580: ördögereszkedõje (Teufelsabhang); 1295/1403: ördöngös fõ (Teufelshaupt). Unter den einschlägigen Personennamen finden sich: 1454 Anthonio Ördögûzõ (Teufelaustreiber), 1429 Johannes Ördöngös (der Teuflische) und ähnliche. Eine andere Gruppe von Ortsnamen lautet: 1256/1270: Sárkányhegy (Drachenberg), 1262: Sárkányfõ (Drachenhaupt), 1391: Sárkánysziget (Dracheninsel), 1418: Sárkánykõ (Drachenstein), 1462: Sárkányárok (Drachengraben) usw. 1476: Bûbájos tó (Zaubersee). Ebenso könnten seit 1279 Namen wie Schlangenstein, Schlangenloch usw. angeführt werden, während zum Beispiel eine urkundliche Angabe aus dem Jahre 1390 auf eine ätiologische Sage schließen läßt: Iungit vnum magnum lapidem Medvekõ (Bärenstein) nuncupatum.

Diese willkürlich herausgegriffenen Orts- und Personennamen lassen erkennen, daß in der mündlichen Überlieferung und in der Prosaepik verschiedene zauberische und abergläubische Vorstellungen in Form von Märchen und ätiologischen Lokalsagen verbreitet gewesen sind. Es gibt urkundliche Erwähnungen, die vielleicht auf Märchenhaftes anspielen, aber nicht gedeutet werden können, so zum Beispiel die Erwähnung der „Schüssel der beiden Narren“ im Jahre 1578, die an einen Schwank, eine an den König Matthias geknüpfte Erzählung erinnern könnte. Weitere problematischen Hinweise oder Personennamen könnte man beispielsweise im Namen Demetrius Babszem (Bohne) aus dem Jahre 1520 finden, was zu bezeugen scheint, daß der Familienname Jankó Babszem (etwa Däumling) für einen Märchenhelden damals bereits bekannt gewesen, später aber in Vergessenheit geraten ist; das Märchen selbst kam wahrscheinlich erst wieder mit den Grimmschen Märchen nach Ungarn. Wegen der zu gewagten Deutungen sehen wir aber von der Mitteilung weiterer solcher Angaben lieber ab.

Vorerst haben wir uns mit der Gewißheit zu bescheiden, die uns die Urkundensammlungen aus den auf die Landnahme folgenden ersten Jahrhunderten vermitteln, daß nämlich auf mündlicher Überlieferung beruhende Prosaepik und märchenhafte Erzählungen existieren.

Nachweislich bestätigen die Geschichtsschreiber der ungarischen Arpadenkönige – wie es auch die zitierte Stelle aus den Gesta des {G-595.} Anonymus (12. Jahrhundert) bezeugt – das Vorhandensein einer mündlichen Überlieferung und einer Märchenepik. Die Chronisten waren bemüht, der konsolidierenden königlichen Zentralgewalt nützlich zu sein. Dabei bildete sich ein scharfer Gegensatz zwischen authentischer Chronistik und verachteter mündlicher Überlieferung heraus, der noch dadurch verschärft wurde, daß der Widerstand gegen den sich konsolidierenden feudalen christlichen Staat und sein Herrschaftssystem eben in der heidnisch-mündlichen Überlieferung fortlebte. Und trotz der von den höfischen Chronisten ausdrücklich betonten Verachtung fanden diese Sagen und die damit verbundenen (oder mit ihnen interferierenden) mythischen und märchenhaften Geschichten aus der mündlichen Überlieferung einen Weg in die amtliche Geschichtsschreibung. Interessant ist dabei nicht allein, daß Anonymus trotz seiner überheblichen, ablehnenden Bemerkungen solche mündlich überlieferten sagenhaften Geschichten in sein Werk aufnimmt, sondern auch die Tatsache, daß sich sagenhafte Abschnitte in den Chroniken der Zeit vom 12. bis zum 14. Jahrhundert immer häufiger finden. So enthält zum Beispiel die Chronik des Simon von Kézai (1280) aufgrund der verlorenen Urgesta aus dem 11. Jahrhundert zahlreiche sagenhafte Elemente, deren Quellen in persischen Erzählungen gefunden werden können.

Die verschiedenen märchen- und sagenhaften Elemente können weit zurückverfolgt werden. So gehört die Sage vom Stammesfürsten Lél (Lehel) zu dem im Mittelalter allgemein bekannten Salomon-Sagenkreis. Der Zweikampf des kleingewachsenen ungarischen Kriegers Botond mit dem mächtigen byzantinischen Helden erinnert an den Kampf von David und Goliath.

Die Chroniken und geschichtlichen Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert haben viel Neues gebracht, aber auch vieles aus der mündlichen Überlieferung bewahrt. So kommen in der 1559 in Krakau erschienenen Krónika a világnak jeles dolgairól (etwa: Chronik der merkwürdigen Begebenheiten der Welt) von István Benczédi Székely, sodann in der 1575 veröffentlichten Chrónika az Magyarocnak dolgairól von Gáspár Heltai (etwa: Chronik der Angelegenheiten der Ungarn), einige längere Erzählungen über König Matthias vor, die deren Fortleben in der mündlichen Überlieferung beweisen, zumal Heltai in einer anderen Arbeit lediglich das lateinische Werk Bonfinis über Matthias exzerpiert. All dies bedeutet, daß bereits ein Jahrhundert nach den Lebzeiten des großen Königs sich eine volkstümliche mündliche Überlieferung um seine Gestalt zu ranken begonnen hatte – eine überzeugende Bestätigung für die Kraft der mündlichen Überlieferung.

Die chronistische Literatur soll hier nicht bis an ihr Ende verfolgt werden. Soviel aber kann aus den angeführten Beispielen entnommen werden, daß die ungarische Geschichtsschreibung in der Zeit vom 12. bis zum 16. Jahrhundert zahlreiche Elemente lokaler Sagen und anekdotischer Erzählungen bewahrt und andere Elemente aus der mündlichen Überlieferung der Fronbauern sowie durch mannigfaltige Vermittlung auch aus den in den Gesta enthaltenen Sagen übernommen hat.

Bedeutender Quellenwert kommt auch den verschiedenen Gattungen {G-596.} der religiösen Literatur (Predigten, Parabeln, Betrachtungen, Heiligenlegenden usw.) zu, die im 13. und 14. Jahrhundert in den Klöstern Ungarns entstanden sind. Wie die europäische Folklore aus der Legenda Aurea, der Scala coeli, den verschiedenen Speculae, dem Catalogus de Santorum usw. geschöpft hat, so hat es auch die Prosavolksdichtung Ungarns getan, die ihrerseits aber auch zur religiösen Literatur beigetragen hat. Die oft verlegten Predigtsammlungen Pelbárts von Temesvár (1435–1504) oder Osvát (Oswald) Laskais (1450–1511) enthalten legendenhafte Motive und anekdotische Erzählungen; in ihnen klingt zugleich die novellistische Vortragsweise, der Ton der abenteuerlichen, romantischen Erzählung durch. Auch auf diesem Gebiet kann die gegenseitige Beeinflussung und Verflechtung von Geschriebenem und mündlich Überliefertem nachgewiesen werden. Von einem einseitigen Einfluß der Literatur kann nicht die Rede sein. Die Wirkung der Prosavolksdichtung läßt sich zweifellos auch an der religiösen Literatur abmessen.

Aber nicht nur die katholische religiöse Literatur, sondern auch die der Reformation stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Prosavolksdichtung. Das bedeutendste Beispiel dafür bietet das Werk Ördögi kísértetek (Teuflische Versuchungen) von Péter Bornemisza (1535–1585), das im Jahre 1578 erschienen ist. Diese Predigtsammlung schöpft weitgehend aus den Quellen der europäischen, hauptsächlich der italienischen und deutschen novellistischen und Schwankliteratur. In diesem Werk kommen nicht nur der Schalk Markolf und seine Gesellen, nicht nur die verschiedensten abergläubischen Geschichten, Versuchungen durch den Teufel, zauberische Gesundbetereien, sondern auch Märchenmotive vor, beispielsweise das Verstehen der Sprache der Tiere. Lokale und Ursprungssagen, novellistische und märchenhafte Erzählungen, Schwänke, „Scharfsinnsproben“ – dies alles kann in diesem großen Sammelbecken gefunden werden.

Soviel geht aus der vielfältigen religiösen Literatur – eben infolge der ihr eigenen Vermittlerrolle – hervor, daß sie das epische Gut der damaligen europäischen Bildung dem ungarischen Volk reichlich vermittelte und gleichzeitig auch aus der bestehenden volkstümlichen mündlichen Überlieferung schöpfte. Damit hat sie deren Existenz bewiesen.